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Wohlstand für alle?

Wie liberale Vordenker das Leistungsprinzip und die Chancengleichheit popularisierten – und so den Weg für den grössten Wohlstandszuwachs in der Menschheitsgeschichte bereiteten. Was ist übrig von diesem Erbe?

Wohlstand für alle?
Detmar Doering, zvg.

Es klang fast zu schön, um wahr zu sein, aber die Botschaft wurde gerne gehört:

«Die Fälle, in denen Menschen in diesem und anderen Ländern sich selbst mittels beharrlichen Fleisses und Energie von den unbedeutendsten Stellen der Industrie zu hervorragenden Positionen von Nützlichkeit und Einfluss in der Gesellschaft hochgearbeitet haben, sind so zahlreich, dass man aufhören muss, sie als Sonderfälle zu betrachten.»1

Mit seinem heute fast in Vergessenheit geratenen Buch «Self-Help» gelang dem schottischen Schriftsteller und Reformer Samuel Smiles 1859 das, was man einen Bestseller nennt. In unzählige Sprachen übersetzt, gehörte «Self-Help» zu den meistverkauften Büchern des 19. Jahrhunderts überhaupt. Die zentrale Botschaft lautete: Niemand kann dir helfen, schon gar nicht der Staat! Aber: letzterer sollte dir mindestens die Freiheit zugestehen, dir selbst zu helfen – mit Fleiss, Lernbereitschaft, Nüchternheit und Sparsamkeit. Dann, so Smiles, ist dir sozialer Aufstieg sicher.

Smiles reicherte diese Botschaft mit unzähligen Lebensgeschichten an, die unterstreichen sollten, dass Engagement und Leistung letztlich zu Reichtum führen. Der prominente Kämpfer für demokratische Parlamentsreformen und andere – damals als «radikal» empfundene – liberale Ideen hätte keinen besseren Zeitpunkt für die Verkündung seines Credos wählen können. Zum ersten Mal war in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich und in einzelnen Ländern Europas nämlich etwas in greifbare Nähe gerückt, das zuvor undenkbar gewesen schien: Wohlstand für die grosse Masse der Bevölkerung. Die Industrielle Revolution und die Durchsetzung des Freihandels liessen Möglichkeiten entstehen, die in den Menschen grosse Hoffnungen auf eine bessere Zukunft weckten – Chancen, die es nur zu packen galt.

Es ist heute schwer zu beurteilen, ob Smiles wirklich an die eher naiv anmutende Idee glaubte, dass guter Wille und viel Fleiss in einer freien Gesellschaft stets persönlichen Aufstieg mit sich brächten. Ein solch persönliches Heilsversprechen kann schliesslich keine Gesellschaft geben – und schon gar nicht eine liberale, die ja Entwicklungen in hohem Masse spontanen Prozessen überlässt. Aber das war vielleicht auch gar nicht der Punkt. «Self-Help» sollte keine Sozialanalyse sein, vielmehr war das Buch das augenscheinlichste Beispiel einer volkspädagogischen Strömung innerhalb des Liberalismus, die in dieser Zeit Oberwasser bekam.

Viele der Ideen eines Samuel Smiles finden sich deshalb auch in den liberalen Selbsthilfebewegungen des 19. Jahrhunderts, etwa den Bildungsvereinen oder den Genossenschaften. Sie alle legten deshalb Wert darauf, dass die neuen Wohlstandszuwächse sinnvoll genutzt wurden, also zur Linderung von Not beitrugen – und sich das Individuum selbst emanzipiere, also eben nicht in staatliche Obhut begebe. Hermann Schulze-Delitzsch sah genau hier den Beitrag des von ihm mitbegründeten deutschen Genossenschaftswesens. In seiner Abhandlung «Sociale Rechte und Pflichten» aus dem Jahr 1866 schreibt er: «Wird nicht in den duldenden Klassen alles tüchtige Streben unterdrückt, wenn sie sich in der Freiheit der Bewegung auf jede Weise gehemmt und der Frucht ihrer Thätigkeit zum grossen Theil beraubt sehen?»2

Mit diesem pädagogischen Impetus versuchten die liberalen Denker der Zeit eine Symbiose zwischen zwei unterschiedlichen, aber doch sehr oft verwechselten politischen Zielen zu erreichen: dem der allgemeinen Wohlstandsmehrung und dem der materiellen Chancengleichheit. Beides ist unabhängig voneinander denkbar: Es mag einen Wohlstandszuwachs für alle Menschen geben, der die Ungleichheit vergrössert; es gibt aber auch Gleichheit auf ärmlichstem Niveau – was bald der Sozialismus unter Beweis stellen sollte.

Die Betonung des pädagogischen Motivs des Aufstiegs wurde dabei zunächst einmal als eine gesellschaftliche Vorbedingung für Wohlstandsmehrung gesehen – und nicht umgekehrt. Man könnte sagen: am Anfang der europäischen Wohlstandsentwicklung steht ein Aufstieg des Selbstwertgefühls – die Entdeckung bürgerlicher Würde3. Das war etwas Neues, und rückblickend kann dieser Wandel kaum hoch genug geschätzt werden, schliesslich hatten sich die liberalen Denker bis dato vor allem mit Fragen der allgemeinen Wohlstandsmehrung auseinandergesetzt. Es ging um den «Wohlstand der Nationen», nicht um die Teilnahme jedes einzelnen an der Wohlstandsmehrung – und das sollte sich nun grundlegend ändern.

Die Wurzeln einer revolutionären Idee

Die Betonung der Wohlstandsmehrung gegenüber der materiellen Chancengleichheit hatte zweierlei Wurzeln in der Geistesgeschichte des Liberalismus.

Da ist, erstens, der rechtsphilosophische Kern, der auf die Locke’sche Vertragstheorie zurückgeht. John Lockes Konzept war radikal und lancierte einen Frontalangriff auf die rechtliche Privilegierung von Besitz, theoretisch war damit jedem Menschen der soziale Aufstieg erlaubt. Lockes Idee: es gebe ein Recht auf Eigentum an sich selbst. Daraus abgeleitet dürfe der Staat auch niemandes Recht auf materielles Eigentum verletzen, wenn dieses ohne die Verletzung des Selbsteigentums anderer erworben wurde. Und weiter: Eigentum entstehe in der Regel durch Erwerb oder – und das war wichtig – durch die «Beimischung von Arbeit» zu bisher ungenutzten Ressourcen. Das hat manche Interpreten dazu verleitet, Locke eine inhaltliche Nähe zu Marx’ Arbeitswerttheorie zu attestieren, derzufolge in einer «kapitalistischen» Wirtschaft dem Arbeitenden sein Anteil am «Mehrwert» genommen werde. Aber Locke sagt nichts über den Wert von Arbeit – oder darüber, was jedermann nun dabei zukomme. Es geht ihm ausschliesslich um die Bestimmung von Rechtssphären zwischen den Individuen einer Gesellschaft, denn ihm war klar: Menschen würden aus freien Stücken nur dann ein Gemeinwesen gründen, wenn dieses sie als Personen (nebst ihrem Eigentum) schützte. Welche Chancen sich dann für den einzelnen in materieller Hinsicht daraus ergaben, war zunächst von nachrangiger Bedeutung. Auch wenn nicht alle Liberalen später so rigoros naturrechtlich argumentieren sollten, wurde damit dennoch das zentrale liberale Grundthema gesetzt: Freiheit ist gegenüber gesellschaftlichen Dynamiken als ein vorrangiges Prinzip zu sehen.

Der zweite Grund für das Primat der Wohlstandsmehrung war der Umstand, dass dies in der Formierungsphase liberalen Denkens im 18. Jahrhundert eine unumstössliche Notwendigkeit war: Die Armut der vorindustriellen Zeit ist heute beinahe unvorstellbar, Knappheit war noch kein primär ökonomischer Begriff, Hungersnöte aber für weite Teile der Bevölkerung auf der Tagesordnung. Was Adam Smith oder andere Vertreter der englischen Nationalökonomie zugunsten von Arbeitsteilung, Unternehmertum und Wirtschaftsfreiheit hervorbrachten, diente einzig dem Ziel, katastrophale wirtschaftliche Einbrüche zu verhindern und ein gewisses Mass an Zivilisiertheit zu garantieren, wozu es wirtschaftlich stabiler Institutionen bedurfte – mehr nicht. Innerhalb der Ökonomie herrschte ein Grundpessimismus, ob das Los der arbeitenden Klassen denn überhaupt über das Existenzminimum gehoben werden konnte. Für konservative Ökonomen wie Thomas Malthus war Massenarmut ein derart festgeschriebener Zustand, dass sich jeder Reformeifer in der Politik von selbst verbot: reale Einkommenssteigerung bei den arbeitenden Schichten würde Anreize zur Bevölkerungsvermehrung setzen, die den Wohlstandsgewinn wieder vernichteten. Der liberale Ökonom David Ricardo argumentierte ähnlich, setzte sich aber für Reformen im Sinne von Freihandel und Wirtschaftsfreiheit ein, obwohl er an ein «ehernes Lohngesetz» glaubte, das sozialen Fortschritt für die meisten Menschen ausschloss – immerhin hatte er bemerkt, dass die Voraussetzungen der Produktion von Land zu Land unterschiedlich waren.

Kurz: die damaligen Umstände luden nicht gerade dazu ein, über soziale Aufstiegschancen bzw. gesellschaftliche «Durchlässigkeit» im materiellen Sinne nachzudenken. Immerhin schien man ein probates Mittel gefunden zu haben, ungerechte Privilegierung abzubauen und das Wohlstandsniveau so zu stabilisieren, dass dramatische Formen von Massenarmut eingedämmt wurden – mehr wagte man kaum zu träumen.

Aus Ideen werden Reformen

Dass diese freiheitlichen Rezepte mehr erreichen konnten als das, zeigte sich erst nach und nach. Schon während der Frühzeit der Industriellen Revolution begann sich abzuzeichnen, dass die Realeinkommen von Arbeitern trotz enormen Bevölkerungswachstums steigen konnten, was zuvor von fast allen Ökonomen – ob liberal oder nicht – kategorisch ausgeschlossen worden war. Die eigentliche liberale Reformära zwischen 1840 und 1870 verstärkte diesen Effekt noch einmal. Die Menschen begannen, breitenwirksam zu realisieren, dass ihr elendes Schicksal keineswegs in Stein gemeisselt war. Es ist erstaunlich, dass die meisten liberalen Theoretiker dies erst recht spät intellektuell nachzuvollziehen begannen. Ein Beispiel dafür ist der französische Ökonom Frédéric Bastiat. Er machte in seinen «Volkswirtschaftlichen Harmonien» von 1850 darauf aufmerksam, dass sich mit dem einsetzenden allgemeinen Wachstum der Kapitalstock für Unternehmen so steigern lasse, dass sich auch der Anteil für Investitionen in Arbeit erhöhe. Mehr Wohlstand für alle, so Bastiat, sei greifbar. Die pädagogische Botschaft des Samuel Smiles klang einige Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung plötzlich nicht mehr absurd, sondern äusserst sinnvoll.

Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Folgen der Reformen und des Engagements der Bürger in weiten Teilen Europas unübersehbar geworden. 1919 attestierte John Maynard Keynes:

«Was für ein ausserordentliches Zwischenspiel in dem wirtschaftlichen Fortschritt des Menschen war doch das Zeitalter, das im August 1914 endete. Der grössere Teil der Bevölkerung arbeitete freilich hart und hatte eine niedrige Lebenshaltung, war aber allem Anschein nach mit diesem Lose einigermassen zufrieden. Denn für jeden irgend über den Durchschnitt Fähigen und Willenskräftigen war der Aufstieg in die Mittel- oder Oberklasse möglich, denen das Leben mit geringen Kosten und sehr wenig Mühe Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten weit hinaus über den Gesichtskreis der reichsten und mächtigsten Monarchen anderer Zeitalter bot.»4

Man kann mit einigem Recht behaupten, dass der Wunsch nach persönlichen Aufstiegsmöglichkeiten untrennbar mit der allgemeinen Wohlstandsmehrung verbunden war – das eine beflügelte das andere. Dieser Umstand entwickelte sich für Liberale in der Folge zur Herausforderung: Die Entwicklung hatte Erwartungen an die Politik geweckt, die nicht als gegenstandslos bezeichnet werden konnten.

Aus Reformen werden Ansprüche

Sozialer Aufstieg galt als etwas, das Liberale nun prinzipiell für richtig hielten, da sie sich als Feinde festgefahrener Privilegien verstanden. Mit dem Schwinden der Armut in weiten Teilen Europas allerdings wurden selbige Liberale aber plötzlich mit politischen Waffen bekämpft, die auf Ansprüchen basierten, die sie – fast unbeabsichtigt – selbst geschaffen hatten. Nachdem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Aufstieg der Grosstotalitarismen begonnen hatte, bemerkte Friedrich August von Hayek 1944 in seinem Buch «Der Weg zur Knechtschaft»:

«Mit dem Erfolg wuchsen die Ansprüche – und der Mensch hatte alles Recht dazu, anspruchsvoll zu sein. […] und in den Prinzipien, die diesen Fortschritt in der Vergangenheit ermöglicht hatten, sah man schliesslich mehr ein Hindernis für seine Beschleunigung, das auf dem raschesten Wege beseitigt werden müsse.»5

Oder einfacher: wenn sozialer Aufstieg gut für alle war, warum sollten die Staaten diesen Aufstieg nicht selbst in die Hand nehmen und also diejenigen, die bislang nicht aufsteigen konnten, ideell und materiell unterstützen? Es war die Geburtsstunde des modernen Sozialstaats. Die Entwicklung verbreitete unter Liberalen Verwirrung und verlangte nach neuen Antworten – dazu gehörte eine gewisse Kompromissbereitschaft gegenüber staatlichen Eingriffen, die man früher mit gutem Recht als Freiheitsbeschränkungen definiert hatte. Aber wie konnte man das mit dem liberalen Freiheitsimperativ vereinbaren? Das Aufkommen grosser monopolistischer Industriebetriebe etwa trug dazu bei, das ursprünglich als Mittel zum «Aufstieg durch Fleiss» gedachte Gut der Vertragsfreiheit von Arbeitern zu entwerten, wie etwa Friedrich Naumann feststellte. Er versuchte dieses Problem durch die Einführung der betrieblichen Mitbestimmung zu lösen. Aber war Mitbestimmung wirklich ein Ersatz für echte Selbstbestimmung? Und konnte sie sozialen Aufstieg garantieren?

Es folgten neue Denkansätze. Die Tendenz zum grossindustriellen Monopolismus – Aufstieg und Wettbewerb konnten schliesslich als wechselseitig abhängige Prozesse gesehen werden – sorgte dafür, dass sich bereits in der Zwischenkriegszeit immer mehr Ökonomen mit der Frage beschäftigten, wie der Wettbewerb zu stärken sei und wie sich Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft finden liessen, die gleichermassen das Freiheits-, Wachstums- und Aufstiegsversprechen einlösen könnten. Dieses «magische Dreieck» bestimmt seither einen Grossteil freiheitlichen Denkens zum Thema.

Der erfolgreichste Versuch in diese Richtung stellte die Wettbewerbsordnung in den Mittelpunkt. Die Rede ist vom Ordoliberalismus, dessen Kern die Idee war, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, Wettbewerb und Freiheit zu behindern, sondern – umgekehrt – die realen Grundbedingungen zu schaffen, um beides erst zu ermöglichen und dafür zu sorgen, dass die damit verbundenen Vorteile allen Menschen (und ihren Aufstiegschancen) zugutekämen. Einer der Hauptvertreter der Schule, Walter Eucken, fasste die Botschaft so zusammen: «Nur so kann das Ziel erreicht werden, dass nicht eine kleine Minderheit, sondern alle Bürger über den Preismechanismus die Wirtschaft lenken können. Die einzige Wirtschaftsordnung, in der dies möglich ist, ist die des ‹vollständigen Wettbewerbs›. Sie ist nur realisierbar, wenn allen Marktteilnehmern die Möglichkeit genommen wird, die Spielregeln des Marktes zu verändern.»6

Die Schule setzte sich politisch am stärksten in Deutschland durch und gestaltete damit massgeblich das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. In Westeuropa bildete sich in der Folge eine Wirtschaftsordnung unter dem Vorzeichen von Freiheit und Wettbewerb heraus, die allgemein auch als «fair» in Sachen individueller Aufstiegschancen anerkannt wurde.

Moral- und Ordnungsprinzipien unter Druck

Aber auch dem Modell der «sozialen Marktwirtschaft» blieben die politischen Schwierigkeiten nicht erspart, denn es verlangt Staat und Gesellschaft eine starke Bindung an Moral- und Ordnungsprinzipien ab – und deren gesellschaftliche Festigung war nie wirtschaftlich oder gesellschaftlich voraussetzungslos. Etwas verzweifelt stellte Wilhelm Röpke schon 1958 fest: «Unser Wirtschaftssystem ist ein Gebilde von höchster und subtilster Differenziertheit bei grundsätzlicher Anarchie.»7 Den neu entstehenden Wohlstandsgesellschaften hielt er das Ideal einer Gemeinschaft entgegen, die freibäuerlich geprägt und der Massenmobilität abhold sein sollte. Sein Ideal wirkt heute antiquiert, die Schablonenhaftigkeit des Entweder-oder-Ansatzes ist mit einer globalisierten Welt der dynamischen Prozesse – in denen sowohl Gemeinschaften wie Gesellschaften ihren Platz haben und nach unterschiedlichen Regeln funktionieren – schlicht inkompatibel. Nicht zu reden davon, dass eine solche Gemeinschaft wohl ohne Zwang und Markteingriff kaum vorstellbar ist.

Spätestens seit der Finanzkrise 2007 wissen wir auch um die Existenz des wahrscheinlich grössten Hemmschuhs für soziale Mobilität in westlichen Wohlfahrtsstaaten: die schleichende Erosion der Ordnung. Die Rede ist von dramatischen Marktverzerrungen in Form von politisch ignorierter Kartellbildung, Absprachen zwischen Politik und Wirtschaft, der Inkraftsetzung von Gesetzen, die einzelne Wirtschaftszweige bevorzugt oder benachteiligt. Wie Eucken befürchtet hatte, werden heute beinahe täglich «die Spielregeln des Marktes» zugunsten einzelner Lobbies (und zum Nachteil für alle anderen) verändert.

Die Erosion ist dort am gefährlichsten, wo sie Staat und Interessengruppen schmerzlos und unbemerkt betreiben. Solch unheilige Allianzen sind gleich doppelt schädlich: zuerst bevorteilen sie einzelne auf Kosten vieler und – sobald die Dubiositäten ans Licht kommen – erschüttern dann noch das Vertrauen der Bürger in jede liberale Wirtschaftsordnung. Am gründlichsten gelingt das, wenn die Interventionen «wirtschaftsfreundlich» und pseudo-marktwirtschaftlich daherkommen. Wo Aufstiegschancen mit politischer Macht kanalisiert, umgeleitet oder gar verunmöglicht werden, herrscht bald kein Vertrauen ins handelnde Gegenüber mehr, sondern Missgunst, Neid und Machthunger. Die expansive und schuldengetriebene Geldpolitik beinahe aller westlichen Industrieländer ist ein Musterbeispiel dafür: Sie hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass die Finanzwirtschaft einen übermässigen Anteil an der Wirtschaft und enormen Einfluss auf die Politik erhielt – zum doppelten Nachteil aller.

In Anbetracht dieser Tatsache ist nicht verwunderlich, dass viele arbeitende Menschen glauben, nicht mehr vom sozialen Aufstieg profitieren zu können – obschon ihnen niemand rechtliche Steine in den Weg legt. Das Vertrauen in die Politik, die hier längst ordnend hätte eingreifen müssen, leidet gleich mit: Die Folgen – von Trump zu Maduro, von der AfD zu Orbán – sind offensichtlich. Egal ob in den USA, in der Schweiz oder in Deutschland: viele Bürger werden das Gefühl nicht los, dass nicht mehr für alle die gleichen Regeln gelten und deshalb auch die Märkte kaum mehr im Interesse aller funktionieren können. Die Marktwirtschaft ist über vielerlei politische Umwege – und alles andere als selbstverschuldet – in ein fundamentales Werteproblem geraten, das schlimmer scheint als ein gesellschaftliches Versagen bei der Wohlstandsmehrung, schliesslich blieb eine Massenarmut in den Industrieländern bis heute aus.

Ralf Dahrendorf hat noch vor seinem Tod 2009 das Problem dieser «Pumpwirtschaft» gesehen und den klassisch-liberalen Marktmodellen gegenübergestellt: Für die «Wachstumsgesellschaften alten Stils», so Dahrendorf, war kennzeichnend, «dass eine bessere Zukunft in ihnen angelegt war. Zukunftshoffnung war kein leerer Wahn. In den modernen Ökonomien des Als-ob dagegen ist das ganz anders. Sie begründen No-future-Gesellschaften.»8 Dieser Befund ist beunruhigend.

Privileg statt Freiheit, Wachstum ohne Aufstiegsmöglichkeiten – das kann kein freiheitliches Zukunftsmodell sein. Wäre es also nicht sinnvoller, auf einen Staat hinzuarbeiten, der sich darauf spezialisiert, die sozialen Aufstiegschancen für alle zu maximieren – indem er offensichtliche und versteckte Privilegien abbaut und gleichzeitig das Vertrauen seiner Bürger in sie selbst und ihre Handlungsmacht stärkt? Oder einfacher: wäre es nicht klug, sich wieder an die Vision des Samuel Smiles zu erinnern?


1 Vgl. Samuel Smiles: Self-Help. London: John Murray, 1859. Web: http://www.gutenberg.org/files/935/935-h/935-h.htm. Deutsche Übersetzung: Michael Gross (Web: http://mgmechanics.users.sourceforge.net/selfhelp/selfh10h.deutsch10.html).
2 Hermann Schulze-Delitzsch: Sociale Rechte und Pflichten. Berlin: Lüderitz, 1866.
3 Die Wirtschaftshistorikerin Deirdre McCloskey nennt das «bourgeois dignity». Vgl. Deirdre McCloskey: Bourgeois Dignity. Why Economics Can’t Explain the Modern World. Chicago: University of Chicago Press, 2010.
4 John Maynard Keynes: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages. München: Duncker & Humblot, 1920.
5 Friedrich A. v. Hayek: Der Weg zur Knechtschaft. Erlenbach b. Zürich: Rentsch, 1945.
6 Walter Eucken: Vorwort. In: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1. Godesberg, 1948.
7 Wilhelm Röpke: Die Lehre von der Wirtschaft. Wien: J. Springer, 1937.
8 Ralf Dahrendorf: Vom Sparkapitalismus zum Pumpkapitalismus. In: Cicero. Heft 8, 2009. S. 38 – 41. Web: http://cicero.de/weltb%C3%BChne/vom-sparkapitalismus-zum-pumpkapitalismus/39922

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