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Warum Schweiz?

Was macht den Standort Schweiz im internationalen Vergleich tatsächlich besonders? Sind wir für die Digitalisierung gewappnet? Sind wir kreativ? Hängt uns Asien ab? Ein Professor für Innovationsmanagement hat Antworten.

Warum Schweiz?
Oliver Gassmann, zvg.

Herr Gassmann, Sie haben umfangreiche Forschung zum Thema Business Models betrieben. Wenn Sie Ihr Wissen auf ganze Länder übertragen müssten: Wie würden Sie dann das Geschäftsmodell der Schweiz beschreiben?
Ich glaube, es gibt nicht ein Geschäftsmodell Schweiz, wie wir es bei Unternehmen definieren könnten. Aber die Schweiz verkörpert Grundwerte wie Präzision, eine starke Forschungs- und Bildungsorientierung, gepaart mit hoher Flexibilität und einem gesunden Pragmatismus, der die Regulierung bisher einigermassen im Zaum hielt. Darüber hinaus nehme ich einen hohen Grad an Vielseitigkeit und Offenheit wahr, dem die Reputation der Schweiz nach aussen nicht gerecht wird. Nur schon die Vielsprachigkeit führt zu einer Diversität, die sehr erfolgreich ist.

Sind die Schweizer kreativ?
Kreativer, als man gemeinhin denkt. Die Schweiz hat von allen OECD-Ländern die meisten Patentanmeldungen pro Kopf – dreimal mehr als die USA. Sie hat die höchste Publikationstätigkeit pro Kopf und mit insgesamt 26 Ausgezeichneten sogar die meisten Nobelpreisträger pro Kopf. Die Schweizer sind kreativ und sie sind fähig, unkonventionell zu denken. Weniger exzellent ist die Schweiz, wenn es um die marktliche Umsetzung geht.

Wie meinen Sie das?
Zu einer Innovation gehört nicht nur die Idee oder Erfindung, sondern auch deren Implementierung in einem Markt – und das gelingt hier noch nicht wie gewünscht. Das Paradebeispiel für dieses Phänomen ist die LCD-Technik. Sie wurde in den 1970ern massgeblich in der Schweiz entwickelt, aber die ganze Kommerzialisierung dieser Technologie, von TFT-Bildschirmen bis Quarzuhren, fand in Asien statt, nicht in der Schweiz. Die Schweiz mag also Patentweltmeister sein, sie ist aber nicht Wertschöpfungsweltmeister.

Was sind die Gründe dafür?
Gegen einen Grund kann man nichts machen: die Schweiz ist ein kleiner Markt. Um ein Start-up gross zu machen, um eine neue Technologie voranzubringen, ist ein Milliardenmarkt einfach hilfreicher als ein Millionenmarkt. Es ist darum immer attraktiv, aus den USA zu starten, denn da ist der Heimatmarkt gross genug und skalierbar. In der Schweiz stösst man schnell an Grenzen, an wirtschaftliche Landesgrenzen, an Regulierungsgrenzen, an Handelshemmnisse mit Europa.

Dann ist es ja aber müssig, darüber zu klagen, dass wir nicht Wertschöpfungsweltmeister sind. An unserer Kleinheit können wir wenig ändern. Sollten wir also nicht einfach weiterhin auf Kreativität, auf Innovationstätigkeit setzen und die marktliche Umsetzung anderen überlassen?
Absolut. Und Kleinheit hat viele Vorteile. Mit Luxemburg, Liechtenstein, Singapur gibt es diverse weitere erfolgreiche Kleinstaaten, die sich sehr gut international behaupten. Man muss sich einfach eine gewisse Spezifität bewahren. Bislang war die Vision «Schweiz als Finanzplatz» gut, aber das reicht nicht. Die Schweiz als Werk- und Denkplatz hingegen kommt immer stärker unter Druck. Der Werkplatz wird kleiner, langfristig gibt es jedoch keinen Denkplatz ohne Werkplatz; daher macht mir die Deindustrialisierung grosse Sorgen. Wir müssen uns darum kümmern, auch industrielle Wertschöpfung im Land zu behalten.

Welche Unternehmen in der Schweiz halten Sie für besonders innovativ?
Wir haben 2017 in einer Umfrage unter 526 Führungskräften erhoben, wen sie als Innovationsführer sehen. Am häufigsten genannt wurden: 1. Roche. 2. Logitech. 3. Swisscom.

Die Swisscom?
Ja, die Swisscom ist der grösste Aufsteiger im Vergleich zu den Ergebnissen von 2012. Sie weist auch tatsächlich sehr innovative Ansätze auf, z.B. ihre User-Zentrierung. Angesichts ihrer Position als Ex-Monopolist geht die Swisscom einen erstaunlich innovativen Weg und agiert nicht nur defensiv, wie man es bei anderen Telecom-Unternehmen sieht. Weiterhin sind die SBB ein hoch-innovatives Unternehmen. Sie gelten z.B. als der Lead-User in Bahntechnik. Oder auch die Schweizer Post. Zwar mögen die Lieferroboter und die Drohnen derzeit noch nicht das grosse Wirtschaftspotenzial haben, aber die Post exploriert ohne grossen Einsatz von Steuergeldern damit in einem schlanken Projekt, das von zwei Mitarbeitern betreut wird. Oder die autonomen PostAuto-Shuttles in Sion. Das sind Beispiele für eine angesichts ihrer Eigentümerverhältnisse erstaunliche Innovationsfreude der Post.

Nennen Sie absichtlich drei Staatsunternehmen?
Ja, weil es überrascht. Natürlich könnte ich auch Nestlé nennen, die mit ihrem Functional-Food-Bereich offensichtlich hochinnovativ sind. Oder Schindler, die mit dem Internet of Elevators und Escalators auf der letzten CeBIT für riesige Aufmerksamkeit gesorgt haben. Wir haben hier viele potenziell hochinnovative Unternehmen – und wir unterschätzen das.

Der Ökonom und Soziologe Gunnar Heinsohn meint, dass der internationale Standortwettbewerb zunehmend vom Kampf um wenige Toptalente geprägt werde. Wie kann man in diesem Kampf erfolgreich sein?
Richard Florida, ein anderer bekannter Soziologe, hat untersucht, welche Faktoren wichtig sind, um innovative, kreative Talente anzuziehen: An erster Stelle steht schlicht die Standortattraktivität punkto Lebensqualität und physischer Umgebung. Das hat die Schweiz alles. Dann gibt es gewisse Hygienefaktoren wie Kaufkraft, Lohn – diese werden allerdings tendenziell überschätzt. Und zuletzt spielt auch die gesellschaftliche Akzeptanz eine Rolle. Da ist sicherlich ein kleiner Umkehrtrend festzustellen: die Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften nimmt ab. Das ist aber eine zu erwartende Entwicklung im Wettbewerb mit anderen Standorten, die unterdessen auch gemerkt haben, dass sie viele der in ihrem Land gut und teuer Ausgebildeten z.B. an die Schweiz verlieren.

Sie selbst sind Expat. Fühlen Sie sich wohl in der Schweiz?
Nach über 25 Jahren in der Schweiz fühle ich mich nicht mehr als Expat. Aber ja, vielleicht habe ich immer noch eher eine Aussenperspektive als ein hier Geborener.

Dann wenden Sie sie doch gleich an: welche Standortvorteile hat die Schweiz, von denen Sie zu selten hören?
An erster Stelle gehört für mich Kreativität und Leidenschaft. Das haben die Chinesen und Inder nicht. Und auch eine gewisse Loyalität zum Arbeitgeber ist schweizerisch. Irgendwann kippt das dann natürlich – eine zu lange Zugehörigkeit führt zu einer zu geringen Durchmischung. Aber diese Identifikation mit einer übergeordneten Organisation, die Leidenschaft für eine Idee per se, das sind wichtige Dinge, die ich so in anderen Ländern weniger erlebt habe.

Wo versagt die Schweiz?
In der Vermittlung zwischen dem Wunsch grosser Teile der Bevölkerung nach ländlicher Idylle und den städtischen Anforderungen an Dichte in einem wachsenden Staat. Dieser ungelöste Zielkonflikt strapaziert die Gesellschaft. Hier – und ganz generell beim Konflikt Bewahren versus Weitergehen – muss ein Mittelweg gefunden werden, denn das wirkt sich auf weite gesellschaftliche Bereiche aus.

Welche Regulierung würden Sie abschaffen, wenn Sie könnten?
Es gibt für mich nicht die schädlichste Regulierung. Das ist sehr von der Branche abhängig. Wenn ich in der Stammzellenforschung tätig bin, stört es mich, dass ich hierzulande kaum Stammzellenforschung betreiben kann. Wenn ich Syngenta bin, die gentechnisch modifizierten Mais erforschen möchte, stören mich die drastischen Einschränkungen im Umgang mit GVO, die mich zwingen, Experimente in einem hochregulierten, überwachten Versuchslabor an der ETH genehmigen zu lassen, während weltweit auf 1,9 Millionen km2 – 45mal die Fläche der Schweiz – oft völlig unkontrolliert genmanipulierte Pflanzen wachsen.

Was muss die Schweiz tun, um in einer digitalisierten und globalisierten Welt gut aufgestellt zu sein?
Ganz zentral ist eine Bildungs- und Forschungsinitiative. Die Ausbildung in digitaler Kompetenz muss auf allen Bildungsebenen stattfinden, nicht nur an den Universitäten. Es reicht nicht aus, nicht abgehängt zu werden bei der digitalen Kompetenz. Wir sind ein Forschungs- und Bildungsstandort. Wenn wir das morgen noch sein wollen, müssen wir unseren komparativen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Standorten mindestens halten, besser noch: ausbauen.

Die Digitalisierung stösst bei vielen Menschen auf Skepsis. Und trotzdem ist sie in aller Munde. Langweilt Sie das Gerede nicht langsam?
Digitalisierung als Selbstzweck ist tatsächlich etwas ermüdend. Ich selber werde auch zu vielen solchen Events als Sprecher eingeladen. Digitalisierung passiert schon seit Jahrzehnten. Trotzdem: in den letzten Jahren hat sich etwas verändert: Die exponentielle Entwicklung hat in immer mehr Branchen einen Tipping Point erreicht…

Was bedeutet das genau?
An sich schon länger bekannte Technologien führen aufgrund der Unterschreitung gewisser Preisschwellen nun plötzlich zu völlig neuen marktlichen Anwendungen. Da passieren zum Teil erstaunliche Dinge. Schauen Sie sich die Trump-Wahl an. Ich habe vor einigen Monaten den CEO von Cambridge Analytica getroffen, Alex Nix. Er hat die Social-Media-Kampagne von Trump vorangetrieben, die sich die Arbeiten des Psychologen Michal Kosinski zunutze macht. Dieser hatte gezeigt, dass sich die Persönlichkeitsstruktur bzw. die politischen Präferenzen anhand von Facebook-Likes vorhersagen lassen. Mit 70 Likes macht der Algorithmus bessere Prognosen als ein Freund, mit 150 Likes werden die eigenen Eltern übertroffen, und mit 300 ist gar eine bessere Prognose möglich als durch den Lebenspartner. Habe ich einen Neurotiker vor mir, der sich vor Einbrüchen fürchtet, oder einen Grossvater, der sich auf das Second Amendment – das Recht zum Tragen von Waffen – beruft und seinem Enkel das Schiessen beibringen will? Solche Auswertungen wurden für das Microtargeting der Social-Media-Kampagne eingesetzt. So etwas gab es vor 10 Jahren noch nicht. Früher waren zwar auch viele Daten da, aber das waren Datenfriedhöfe. Heute haben wir ungeahnte Möglichkeiten, aus unstrukturierten Daten Muster zu gewinnen.

Jetzt sind wir in der Politik. Sie sprachen eben aber von wirtschaftlichen Branchen.
Korrekt. Nehmen wir den Retailsektor: dessen Herausforderung ist nicht der in der Schweiz vieldiskutierte Einkaufstourismus, sondern das Online-Shopping, das den Besuch von physischen Verkaufsstellen massiv substituiert. Oder die Musikindustrie: sie ist innert kürzester Zeit auf den Kopf gestellt worden. Die Einkommen der Künstler aus dem Musikverkauf sind weggebrochen. Verdiente ein Musiker am Verkauf einer CD noch 1 Fr., so benötigt er heute auf Spotify fast 10 000 Streams dafür. Kurz und gut: hier werden Wertschöpfungsketten auseinandergenommen. Die praktischen Auswirkungen sind dramatisch.

Aber diese Gamechanger, die schnell ganze Wirtschaftsstrukturen änderten, gab es seit der industriellen Revolution doch immer wieder. Zu Massenarbeitslosigkeit führte das nicht.
Sie sprechen die sogenannten Kondratjew-Zyklen an. Kondratjew hat gezeigt, dass neue Technologien jeweils mit Krisen und später Arbeitslosigkeit verbunden sind. Eine neue Technologie wenden zunächst nur die Pioniere an, das hat noch kaum Folgen. Dann weist die neue Technologie ein überproportionales Wachstum auf. Das führt zu Verteilkämpfen, man versucht, defensiv die alte Technologie zu halten – z.B. heute beim Verbrennungsmotor gegen den Elektroantrieb. Daraus folgt strukturelle Arbeitslosigkeit: die Herstellung eines Verbrennungsmotors benötigte bisher sieben Arbeitskräfte, die eines Elektromotors nur noch eine – und sie erfordert andere Kompetenzen und findet vermutlich eher in China statt. Das führt unweigerlich in eine Krise. Erst danach kommt die nächste Erneuerung. Das haben wir vielleicht nicht so in Erinnerung, denn historisch betrachtet sieht vieles nicht mehr nach signifikantem Einbruch aus. Doch in der Tagespolitik hat das die Leute dramatisch getroffen. Das Spezielle am Zyklus der Digitalisierung ist der exponentielle Fortschritt. Er ist für Menschen schlecht greifbar, da wir linear denken. Wir können berechnen, was Moores Gesetz – Verdoppelung der Rechenleistung von Prozessoren alle 18 Monate – bedeutet, aber wir können uns die Folgen und Implikationen schlecht vorstellen.

Exponentielles Wachstum, Tipping Points: das klingt nun so, als fürchteten Sie sich selbst vor der Digitalisierung. Übernehmen die Roboter bald die Weltherrschaft?
Nein. Aber die Digitalisierung verändert viele Berufsbilder. Viele Berufe werden wegfallen: Taxi- und Lastwagenfahrer, aber auch gut ausgebildete Radiologen, Versicherungsverkäufer, Office-Assistenten. Auf der anderen Seite schafft die Digitalisierung viele Chancen und neue Berufe, die wir gar noch nicht kennen. Die Herausforderung ist die strukturelle Arbeitslosigkeit dazwischen. Der 40jährige Versicherungsverkäufer wird kein Virtual Reality Designer werden. Wie genau uns die strukturelle Arbeitslosigkeit treffen wird, hängt davon ab, wie viel die Unternehmen machen und wie weit der Staat dazwischengeht und versucht, den strukturellen Wandel zu hemmen. Im Moment stelle ich viele Hemmungstendenzen fest. Die Industrie 4.0, die Automatisierung wird nur mit Jobverlust in Verbindung gebracht…

… was die Politik zu bremsen verspricht. Kann sie das?
Man kann den Prozess natürlich zu bremsen versuchen, aber er trifft uns später dafür dann umso abrupter und stärker. Wir müssen aufpassen, dass wir den Sozialstaat nicht überstrapazieren und dass es nicht attraktiver wird, nicht zu arbeiten. Das Leistungsprinzip ist ein wichtiges, treibendes Prinzip der Schweizer Volkswirtschaft. Langfristig kann sich zwar vieles ändern, auch massive strukturelle Arbeitslosigkeit in einigen Jahrzehnten ist nicht ausgeschlossen – solange wir es aber nicht besser wissen, müssen wir alles dafür tun, die Arbeitskräfte fit für die Digitalisierung zu machen. Das vielzitierte Grundeinkommen wäre in diesem Zusammenhang eine Bankrotterklärung, denn es gestände ein: wir finden uns mit der Arbeitslosigkeit breiter Bevölkerungsschichten ab.

Sind die Schweizer heute risikoaverser als früher?
Das kann ich so nicht sagen, grundsätzlich gibt es dahingehend aber eine einfache Faustregel: Je höher der Entwicklungsstand eines Landes, desto weniger hungrig und experimentierfreudig sind dessen Bewohner. Die postmaterielle Gesellschaft kann etwas persönlich sehr Erstrebenswertes sein, sie führt aber auch dazu, dass der Hunger nach materiellen Neuerungen etwas geringer und die Skepsis etwas grösser wird. Dieses Phänomen trifft auf die Schweiz zu, sie ist damit aber nicht alleine.

Wird Asien uns überholen? Kann eine eher kollektivistisch geprägte Kultur wie die asiatische überhaupt so innovativ sein wie der individualistische Westen?
In Sachen materieller Wohlstand ist das europäische Zeitalter vorbei, aber wir Europäer haben das noch gar nicht richtig wahrgenommen. Asien wird uns industriell davonziehen. Wir haben schon heute keinen richtigen Elektronikriesen mehr in Europa und die Maschinenbaubranche wächst auch nicht mehr. Auch in der Robotik ist China schon heute der Schlüsselmarkt: da gibt es schon vollautomatisierte Dreischichtbetriebe, obwohl die Arbeitskräfte ja – noch – viel günstiger sind. Die Chinesen sehen diese Entwicklung aber mit anderen Augen, sie waren ja die letzten 5000 Jahre immer vorne, nur während der letzten 200 bis 300 Jahre wurden sie vom Westen überholt. Das ist für Chinesen keine allzu lange Zeitspanne – sie denken viel, viel langfristiger. Ob uns die Chinesen in absehbarer Zeit aber auch punkto Lebensqualität, Demokratie und Wohlstand in einer umfassenden Sicht überholen? Da habe ich sehr grosse Zweifel.

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