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Unbehagen im Writers’ Room

Das neue amerikanische Autorenfernsehen und seine Zukunft

Unbehagen im Writers’ Room

Wie vielen Staaten, Künsten und Menschen werden gleich zwei goldene Zeitalter zuteil? Von einem einzigen goldenen Zeitalter erzählt man mit Nostalgie, von einem zweiten spricht man mit falscher Bescheidenheit. So ist es jetzt mit dem Fernsehen: Wir sind im zweiten goldenen Zeitalter des Mediums, das, wenn wir ehrlich sind, eigentlich das goldenere Zeitalter ist.

Erinnern wir uns: Das Fernsehen im ausgehenden 20. Jahrhundert, ein Medium, das sich in einem Einheitsbrei aus Partnersuchshows und Musikantenstadl zu verlieren drohte, auf das jeder, der intellektuell etwas auf sich hielt, schimpfen musste, dem Internetpiraterie und der Kult um Gratisinhalte den Garaus zu machen sich anschickten, erlebte plötzlich eine zweite Blüte, die die erste noch übertraf. Die erste, das war noch viel früher, begann Mitte des 20. Jahrhunderts und zeichnete sich künstlerisch dadurch aus, dass die damaligen Fernsehmacher gar keine andere Wahl hatten, als originell zu sein. Die neue Originalität, der wir im TV seit der Jahrhundertwende beiwohnen, schien ebenso aus dem Nichts zu kommen. Es ist einerseits die Geschichte einer sich verschiebenden Medienlandschaft, in der neue Zweige – erst das Kabelfernsehen, dann die Streaming-Services – sich mit Prestige ihren Platz im Bewusstsein der Menschen erstritten. Aber andererseits eine Geschichte der Kreativen, die die veränderten Gegebenheiten dazu benutzten, das Popelfernsehen der siebziger, achtziger und frühen neunziger Jahre von innen heraus zu sprengen. Und es ist nicht zuletzt eine Geschichte der Zuschauer, die das honorierten. 

Die Parallele zum neuen Hollywood der späten 60er ist auffällig: Damals kollabierte das alte Studiosystem, die jungen Wilden erzählten neue, anspruchsvollere Stoffe – und die Zuschauer zogen mit. «It’s not TV, it’s HBO», hiess von 1996 bis 2009 der Slogan des grossen Kabelsenders. Das bedeutete: keine Sitcoms, auf denen eigentlich rotzfreche Stand-up-Comedians kreuzbrave Familienväter mimten und vor einem unverhältnismässig amüsierten Studiopublikum ihren Kindern Lebensweisheiten näherbrachten. Keine Krimis mehr, in denen immer dieselben drei Cops irgendwelche Bösewichter jagten, ohne selber jemals in Gefahr zu geraten. Keine Serien, in denen Woche um Woche nie jemand merkt, dass nebenan ein katzenfressender Ausserirdischer oder ein Robotermädchen wohnen.

Stattdessen bekommen wir heute Serien, in denen keine Folge der letzten gleicht, die sich von Staffel zu Staffel einen anderen Ton, neue Themen, ein neues Setting erlauben, in denen die Hauptfigur am Ende der ersten Staffel enthauptet werden kann, in denen wir mit einem Serienmörder mitfiebern, der andere Serienmörder jagt. Die neuen TV-Macher widersetzen sich den Diktaten, die das Fernsehen der siebziger und achtziger Jahre so schablonenhaft wirken liessen. Setzten diese auf das Iterative, auf das in sich Abgeschlossene, auf das leicht Verdauliche, fordern die neuen Serien ihre Zuschauer heraus: episch, oft differenziert und noch häufiger mit harter Kost.

«Die Sopranos» erzählten vom emotionalen Leben der Mafia, «Sons of Anarchy» von einer Rockergang im Central Valley von Kalifornien, «Mad Men» von den Werbeagenturen der Madison Avenue circa 1960 und den Träumen und Ängsten derer, die amerikanische Träume und Ängste zu verkaufen hatten. «Battlestar Galactica» entspann aus einem Remake einer altbackenen «Krieg der Sterne»-Kopie eine niederschmetternde Allegorie auf den 11. September, die fragte: Woher nehmen wir die Gewissheit, dass die Menschheit es verdient hat, zu überleben? In «The Wire» erzählte David Simon von der Stadt Baltimore, mal von den Journalisten, mal von den Kleinkriminellen, dann wieder von den Politikern und der Polizei. Und «The Americans» verfolgt, ohne zu werten, die Umtriebe eines Ehepaars in einer Vorstadt von Washington, D.C., das zufällig auch für den KGB spioniert. 

Unsere Sehgewohnheiten sind den neuen TV-Machern entgegengekommen: Vor zwanzig Jahren war Fernsehen eine prinzipiell unendliche Kette von Folgen, die man erwischte oder nicht. Man sah Folgen in wilder Unordnung, ganze Staffeln blieben einem unbekannt, weil der Sender die Rechte daran nicht gekauft hatte. Die VHS-Kassette machte das Komaglotzen möglich, wenn auch nervig, die DVD machte es salonfähig. Mittlerweile stellt Netflix ganze Staffeln auf einmal online. Sie sind dafür gedacht, sind sogar so gemacht, dass man sie in einer durchwachten Nacht oder auf einem langen Flug fertigschauen kann. Da liegen Vergleiche mit dem Roman und dem Romankonsum nicht fern. Jeder amerikanische Literaturprofessor war schon bei geschätzt einem Dutzend Vorträgen, in denen «The Wire» mit den Romanen Charles Dickens’ verglichen wird. Literaturkritiker behaupten gerne, dass wirklich spannende Geschichten längst nicht mehr in der amerikanischen Literatur, sondern im amerikanischen Fernsehen erzählt werden. Trotzdem ist es wahrscheinlich Unsinn, verschiedene Kunstrichtungen so dumpf teleologisch gegeneinander ausspielen zu wollen, als wäre das Fernsehen der nächste evolutionäre Schritt. Aber interessant ist doch, dass das neue goldene Zeitalter des Fernsehens mit einer Aufwertung der Kategorie des Autors einhergeht.

 

Autorenfernsehen?

Gab es vormals Autoren in der Literatur, später im Autorenkino, soll es jetzt Autorenfernsehen geben. Das stimmt, und das stimmt nicht. Natürlich wissen viele von uns mehr über «Breaking Bad»-Schöpfer Vince Gilligan, als wir über die Schöpfer von «Friends» oder «Knight Rider» wussten, und wir nehmen Gilligan auch weitaus ernster, als wir es bei Glen A. Larson getan hätten, wenn wir gewusst hätten, wer das war. Heute muss man Namen wie Aaron Sorkin, David Simon, Kurt Sutter und Nic Pizzolatto kennen, um mitreden zu können. 

Viele dieser «Showrunner» sind selber Romanciers: Nic Pizzolatto schrieb Romane, Kurzgeschichten und lehrte kreatives Schreiben, bevor er zum Fernsehen kam. David Benioff und D. B. Weiss, die gemeinsam die Fantasy-Serie «Game of Thrones» entwickeln, schrieben vorher Romane, die mit Fantasy nichts zu tun hatten. David Simon, Autor von «The Wire» und «Tremé», war lange als Journalist tätig, Ryan Murphy («Glee», «American Horror Story») hatte die Idee zu «Nip/Tuck», als er als Journalist in der Schönheitschirurgie recherchierte. Auch in der Schweiz ist «Der Bestatter»-Autor Dominik Bernet, Sie erraten es, Schriftsteller.

Aber wenn wir andererseits einfach die Kategorien aus der Literatur supponieren, verstehen wir das neue Fernsehen auch falsch. Denn die neue Epik entspann sich aus einer Dynamik zwischen sehr alten Instanzen der (amerikanischen) Fernsehproduktion einerseits und dem neuen Geist des Autorenfernsehens andererseits. Die wenigsten dieser Serien stammen nämlich wirklich Wort für Wort aus der Feder dieser Autoren. Sie fungieren, je nach Titel, als «Showrunner», als «Executive Producer» oder «Creator». Die individuellen Episoden, die Verwicklungen der jeweiligen Staffel, gar das Ende der Serie, entstehen im «Writers’ Room», und der ist keine Novelle des zweiten goldenen Zeitalters, sondern gehört seit dem ersten dazu. Und für jeden Ex-Romancier, der sich jetzt im Kabelfernsehen austobt, gibt es jemanden wie Matthew Weiner («Mad Men»), Ronald D. Moore («Outlander»), Jenji Kohan («Orange is the New Black»), der oder die sich in den «Writers’ Rooms» hochgearbeitet hat.

Das kollaborative Modell, nach dem seit den 1950er Jahren gerade Sitcoms und Talkshows entstanden, war dem Autorenprinzip diametral entgegengesetzt. Anstatt dass die Schreiberlinge eigenbrötlerisch am je eigenen Drehbuch schraubten, stand die Werkstatt Pate. Im Writers’ Room werden die einzelnen Episoden gemeinschaftlich entwickelt, die «Character Arcs» und die wichtigen Plotpunkte der Staffel. Selbst das «Breaking», also die Unterteilung in Aktstrukturen und Szenen, passiert im Normalfall hier. Erst dann gehen die einzelnen Scripts an den jeweiligen Drehbuchautor.

Das dürfte wenige Leser wirklich überraschen, aber es schneidet sich doch ziemlich eklatant mit der Ideologie des Autorenfernsehens, dass viele der von uns so verehrten Serienschöpfer vor allem durch Abwesenheit schöpfen. «Showrunner» wie z.B. Kurt Sutter und Graeme Manson liefern lediglich die Eckdaten für die Staffel, die narrativen «Blaupausen» und «Kilometersteine», lassen dann aber bewusst den «Staff Writers» den Raum, ihre eigenen Ideen zu entwickeln. Sutter preist die Energie, die entsteht, «wenn man diesen Typen ein Eigentumsrecht» an der Story einräume.

Das Autorenprinzip hat die Institution des Writers’ Room also nicht abgelöst, sondern wurde ihm zuaddiert. Es gibt zwar mittlerweile auch viele Sendungen, in denen keine zwanzig Drehbuchautoren mehr in einem verqualmten Zimmer sitzen und vor sich hinschreiben, sondern stattdessen der Showrunner mit den individuellen Autoren die jeweiligen Scripts erarbeitet. Im Endeffekt ist das zwar dezentraler, aber eigentlich vom Prinzip her dasselbe: Die Ideen des einzelnen Autors entstehen immer nur im Dialog mit dem Kollektiv. 

Das missversteht selbst das amerikanische Fernsehpublikum gerne: Man nahm an, dass J. J. Abrams wirklich das Ende von «Lost» kannte, dass Ron Moore wusste, ob die Menschheit in «Battlestar Galactica» überlebt – in Wahrheit tasten sich Schöpfer und Schreiberlinge aber gemeinsam und mit der Zeit auf das ihnen passend scheinende Ende zu. Irgendwie obwaltet wohl, wenn wir etwas als besonders prestigeträchtig ansehen, immer eine latente Genieästhetik: Die Vorstellung, dass eine Gruppe mehr oder minder talentierter Köpfe etwas so Geniales wie «The Americans» geschaffen haben könnte, passt nicht ins Konzept. In Wirklichkeit aber haben wir die Schwemme genialer Fernsehsendungen, die uns derzeit mit «Peak TV» beglücken, nicht wirklich den einsamen Genies zu verdanken, sondern dem Dialog zwischen den Visionären und dem Writers’ Room. Es gibt natürlich Ausnahmen: Nic Pizzolatto hat tatsächlich jede einzelne Episode von «True Detective» geschrieben – was in der ersten Staffel zu grossartigen Resultaten führte und in der ungeliebten zweiten zu äusserst durchwachsenen. Die amerikanische Kritik urteilte: Pizzolatto hätte ein Writers’ Room gut getan. Denn dort ist das institutionelle Gedächtnis dieser Sendungen zuhause, hier ergibt sich die grossartige Mischung aus Spontaneität und Schlüssigkeit, in der alles passieren kann, aber das Richtige passiert.

 

 

Die Serie sind wir: die neue Produktionsästhetik

Derartige Gleisführung im Abendprogramm wünscht sich offenbar auch das Schweizer Fernsehen. So hat das SRF im Jahr 2014 einen grossangelegten Wettbewerb für Dramaserien nach amerikanischem Vorbild durchgeführt. Drei Projekte wurden nach der Einreichung weiterverfolgt, zwei entwickelt – eines ist nun in Produktion (es geht um ein kleines Schweizer Bergdorf, das Schauplatz eines Millioneninvestments eines auswärtigen Unternehmers wird – kommt Ihnen das Setting bekannt vor?). Im Winter 2015 simulierte man einen Writers’ Room unter Anleitung von Peter Blake («House M.D.») und Nick Antosca («Hannibal») – gegenwärtig bleibt aber «Der Bestatter» die einzige Sendung im Deutschschweizer Fernsehen, die das Erfolgskonzept aus den USA tatsächlich umsetzt. Hier arbeiten vier Drehbuchautorinnen und -autoren an den Folgen, stimmen sich eng untereinander ab – einen Showrunner, der die Zügel in der Hand hält, sie mal loslässt oder strafft, also entscheidet, wohin die beste Idee verfolgt wird, wo es weitergeht, sucht man vergebens.

Writers’ Rooms ohne Showrunner waren stets Garanten für Gleichförmigkeit, heute aber garantieren sie Kontinuität. Damit die Serie auch ausser Reihenfolge gezeigt, wiederholt und gesehen werden konnte, mussten Sitcoms und Dramen jahrzehntelang gegen Ende der Folge zum Status quo ante zurückkehren: «Guest Stars» fuhren wieder nach Hause, starben oder waren der Mörder. Wenn sich wirklich Monumentales ereignete – etwa Bobby Ewings Tod in «Dallas» –, dann stellte sich schnell alles als Traum heraus. So zentral war dieser Trick für die Struktur televisuellen Erzählens, dass er einen Namen hatte: die «reset button technique».

Es ist erstaunlich, wie viel gegenwärtige amerikanische Popkultur sich als Reaktion auf diese Gängelung verstehen lässt. Bei «Star Trek» war das Episodische besonders ausgeprägt oder zumindest besonders auffällig: Die Geschichte der Weltraumerschliessung ist ja in sich episch, aber der Produktionskalender verlangte, dass sich Woche um Woche dasselbe Personal in denselben Räumlichkeiten über ziemlich ähnliche Dinge unterhielt.

Ronald D. Moore entfloh diesem «Keiner stirbt, alle lernen etwas»-Ethos der «Enterprise» in die düstere, paranoide Welt von «Battlestar Galactica», in der keiner sicher ist und in der aller Optimismus Lüge ist. Und George R. R. Martin war so gefrustet von der Kurzatmigkeit der Geschichten, die er in Serien wie «Max Headroom» und «Beauty and the Beast» erzählen konnte, dass er sich aus dem Fernsehgeschäft zurückzog, um stattdessen Monsterromane über Ritter und Drachen zu schreiben – bis die Kabelkanäle nach fünfzehn Jahren so weit waren und das als «Anti-TV» gedachte «Game of Thrones» doch noch ins Fernsehen holten. Mit überwältigendem Erfolg – nicht zuletzt für den Autor.

Vielleicht wäre es passend, mit Michel Foucault von einer Veränderung der «Autorenfunktion» zu sprechen, die sich hier besonders deutlich manifestiert. Die Figur des Serienschöpfers ist im Zeitalter von «True Detective» eine andere als noch in der Ära von Gene Roddenberrys «Star Trek». Das heisst nicht unbedingt, dass die neuen Autoren etwas völlig anderes machen, wohl aber, dass das, was sie machen, anders wahrgenommen wird. Wir Zuschauer werden ganz spezifisch dazu angehalten, die neuen Serien nach dem Autorenprinzip zu beurteilen – als einzigartigen Ausdruck einer spezifischen Perspektive. David Simon erzählt von seiner Arbeit als Journalist in Baltimore, wenn er zu «The Wire» befragt wird. Durch die Gruselgeschichten von «American Horror Story» erzählt Ryan Murphy von sexuellem Aussenseitertum. Beides ist neu. Es hilft, dass wir Zuschauer des neuen goldenen Zeitalters ermuntert werden, die Serien eingedenk dessen zu beurteilen, was wir über die Produktion von Serien und die dazugehörigen Welten wissen.

Beides ist mittlerweile beträchtlich, bleiben wir aber beim Wissen über die Funktionsweisen der Serien. Schon die «Staffel» war denen, die amerikanischen Serien im deutschsprachigen TV begegneten, kaum ein Begriff – spätestens seit den DVD- und Blu-Ray-Box-Sets wissen wir aber genau, wie die Macher ihre Serien einteilen. Die Fans von heute wissen auch, wie eine Staffel aufgebaut ist – wenn eine Hauptfigur in der fünften Folge von zehn stirbt, zollt man auf Twitter und in den Recaps Respekt, weil Konvention und narrative Logik umgestülpt worden sind. Sind wir also bessere Zuschauer geworden? Schwer zu sagen, aber verändert haben wir uns ohne Zweifel. Wir sassen noch vor «Ein Duke kommt selten allein» oder dem «A-Team» als naive Kinder, die man mit jedem Unsinn manipulieren konnte. Heute sind wir abgebrühte Profis, die nicht selten meinen, sie wüssten alles besser. War der Schöpfungsprozess früher noch ein Mysterium, wissen wir heute fast zu gut über ihn Bescheid. Nur die Zuschauer von Seifenopern und Telenovelas haben sich jene alte Sorglosigkeit bewahrt, die sich an jedem Plot-Twist freut und nicht gleich wissen will, ob der ausreichend motiviert wäre oder ob er dramaturgisch fehlgehe.

Sonst benehmen sich die Zuschauer, als wären sie mit den Serienschöpfern im selben Schreibkurs: Sie bieten Alternativen an und hinterfragen die Handlungsführung. Die vielen hundert Blogger, die mit Recaps der grossen Sendungen um Klicks buhlen, kramen Halberinnertes aus längst vergangenen Kursen im kreativen Schreiben hervor und geben gute Ratschläge, wie man alles hätte besser machen können. Und erinnern Sie sich noch, wie lange es her ist, dass Ihr Kollege oder Ihr Kind Ihnen zuletzt vom letzten Staffelfinale von Serie XY vorschwärmte? Lange ist es nicht her, wahrscheinlich erläuterten beide Ihnen auch, wie sie die finale Folge hätten viel besser ausgehen lassen.

Das hat mehrere gute Gründe: Einerseits sind die neuen Serien viel mehr auf Fans ausgerichtet – Zuschauer von «Game of Thrones» zu sein, bedeutet, eine In-Serien-Expertise zu haben, die in den achtziger Jahren noch den nerdigsten Trekkies vorbehalten war. Die Serienmacher verlangen also mehr von uns Zuschauern. Aber sie geben uns auch mehr, beziehen uns bewusst mit ein. Sie rechtfertigen sich und geben unseren Kritikpunkten recht. Vorläufer dieser Entwicklung waren wohl die DVD-Audio-Kommentare, die Ende der 1990er Jahre den Schreibprozess transparenter machten; da die Serie erst geraume Zeit nach der Ausstrahlung auf DVD erschien, allerdings in der extremen Rückblende. Ronald D. Moore begann stattdessen irgendwann, Podcasts aufzunehmen, in denen er die soeben ausgestrahlte Episode mit anschaute und live kommentierte. Jede Woche schenkte er sich dabei einen anderen Whiskey ein und redete drauflos, erklärte den Schreibprozess und übte Selbstkritik. Näher dran am Writers’ Room – das ging nicht mehr.

Mittlerweile ist die «After-Show» populär geworden: Nach der Sendung (z.B. von «The Walking Dead» oder «Orphan Black») wird mit den Stars und den Schöpfern der Sendung das soeben Gesehene nachbereitet. Allerdings sind diese Veranstaltungen offiziell, zugeknöpft, fan service wie die Diskussionsrunden bei der ComicCon in San Diego. Der Podcast ist vom Format her direkter; herrscht in der After-Show eigentlich immer Friede, Freude, Eierkuchen, so kann es im Podcast schon mal rauher werden, auf jeden Fall aber selbstkritischer und ehrlicher.

In der Sendung «The Writers’ Room», in der der Komiker Jim Rash die Autoren wichtiger Serien interviewt, gibt es ein Segment, das «Defend this Scene» heisst – Fans verlangen Rechtfertigung, der jeweilige Autor liefert sie. Und die sozialen Netzwerke, allen voran Twitter, haben die Türen des Writers’ Room noch weiter aufgestossen: Fans können jetzt einfach ihre Theorien, ihre Beschwerden, ihre Vorschläge an die individuellen Staff Writers adressieren.

 

Kult der «Grittiness»

Niemand wird behaupten wollen, das neue Fernsehen sei irgendwie schlechter als das alte. Ich werde mich hüten, Ihnen weismachen zu wollen, «Alle unter einem Dach» sei lustiger als «Arrested Development» oder «L.A. Law» tiefgründiger als «Breaking Bad». Aber vielleicht ist es auch an der Zeit, an das zu erinnern, was im neuen goldenen Zeitalter mit seinen ewigen Handlungssträngen, hyperkomplexen Figuren und politischen Allegorien verlorengegangen ist.

Und auch hier ist der Writers’ Room der Tatort. Dasselbe System, in dem sich der Erfinder und seine Schreiberlinge gegenseitig zu immer grösserer Kreativität anstacheln, kann einerseits tolle, komplexe Gebilde schaffen, kann andererseits aber auch zu einer blossen Lust an der Provokation verführen. «Sons of Anarchy» ist so ein Fall: «Creator» Kurt Sutter selber hat erzählt, dass, wenn er sich eine besonders schockierende Entwicklung ausgedacht habe, ihn die Staff Writers normalerweise noch einmal überböten. Das Endresultat sieht immer wieder dementsprechend aus: düster und grimmig, hart an der Grenze zur unfreiwilligen Komik. Es liegt nahe, dass das kollaborative und doch kompetitive Werkstattmodell gewissen erzählerischen Kniffen entgegenkommt und dass diese daher inflationär werden: Die vielen Köche übertreffen einander in den Knoten und Twists, die sie in ihre Geschichten einflechten, und die Fans danken es ihnen. Derjenige Zuschauer, der verständnislos vor der Episode sitzt, weil er sich nicht an eine Szene von vor vier Jahren erinnern kann, ist der Leidtragende.

Das Missverständnis, nach dem komplexe Mythologie gleich Tiefe ist, hat längst auch Kinoproduktionen befallen. Nach jedem Nachspann eines Films, der im «Marvel Cinematic Universe» (MCU) spielt, gibt es einen Teaser auf irgendeinen neuen Film, Bösewicht, eine Entwicklung in den zu Marvel gehörenden Fernsehserien. Für Fans sicher schön, aber von einem erzählerischen Standpunkt obszön: Es vermittelt einem, dass der Film, den man gerade gesehen hat, eigentlich nur ein winziger Mosaikstein eines unendlich grossen Panoramas ist, dass die Figuren, mit denen man mitgefiebert hat, eigentlich nur als Vorbereitung fungiert haben auf ganz andere Figuren.

Bleiben ist nirgends. Die neuen Serien haben eigentlich keine Episoden mehr: Auf zehn verschiedenen Plotschienen etwa schiebt «Game of Thrones» jede Woche dutzende Figuren voran, keine Woche hat Anfang oder Ende, alles ist ewige Mitte. Die alte Episodenstruktur hatte demgegenüber etwas Beruhigendes, ja Massvolles: Du hast uns eine Stunde deiner Zeit geschenkt, sagte sie, jetzt hast du wahrscheinlich Besseres zu tun – see you next week. Das Massvolle ist dem neuen Fernsehen abhandengekommen.

Eine ähnlich masslose Lust an Komplexisierung herrscht bei der Zeichnung der einzelnen Figuren. Man könnte diesen Effekt als «Batmanisierung» bezeichnen: die irrige Annahme, dass widersprüchliches oder verabscheuungswürdiges Verhalten gleich Tiefgründigkeit bedeutet – nach Christopher Nolans aufgeblasenem Heulsusen-Batman, der im Vergleich zu den alten Batman-Filmen aus der Werkstatt Tim Burtons ebenso sinnentleert daherkommt, aber dafür hundertmal gravitätischer. Auf Englisch heisst die neue Grimmigkeit dann «Grittiness» – es hat Mut, es hat Echtheit, es hat Realismus. Der Kult der Grittiness hat in den letzten Jahren alles infiziert: die Märchenverfilmungen, die Comicbuchfilme, selbst ein «gritty reboot» von «Power Rangers» soll in der Mache sein – sauve qui peut. Und im Fernsehen? Statt der Monokultur netter weisser Familien in den Suburbs bekommen wir einen Grauzonen-Einheitsbrei: Wer nicht Drogen dealt oder auch mal Hunde erwürgt, hat eigentlich derzeit keine Chance, im amerikanischen Kabelfernsehen Serienheld zu werden.

Dabei ist das Verhalten dieser Antihelden auch nicht unbedingt komplexer oder interessanter als das der alten Strahlemänner. Es kann sogar ebenso vorhersagbar sein wie das Happy End bei «Familienbande» oder die Moral zum Schluss von «Der Prinz von Bel Air». Genauso wie Blossom immer etwas lernt, Kevin in den «Wunderbaren Jahren» sich nostalgisch zurückbesinnt, benimmt sich Frank Underwood eben irgendwie immer soziopathisch.

 

Boys, Boys, Boys

Das Faszinierende an «Breaking Bad»-Charakter (und Grittiness-Blaupause) Walter White war nicht die Tiefe seiner Soziopathie, sondern vielmehr der Wiedererkennungswert der Emotionen, die sie in Gang setzen. Die Düsternis in «Breaking Bad», «Game of Thrones» und «The Americans» fasziniert, weil sie in unseren Emotionen verwurzelt ist, weil sie sich aus interessanten Figuren entspinnt, ohne aufgesetzt zu wirken; man muss sich nur Sendungen wie «Boss» (in dem Kelsey Grammer einen Chicagoer Bürgermeister spielt) anschauen, um zu sehen, wie schnell diese obsessive Negativität selber zum Klischee wird und die Hauptfigur zur billigen Projektionsfläche für einen sich tiefschürfend glaubenden Pessimismus und eine reflexhafte, durch nichts unterfütterte Misanthropie. Im Fall von «House of Cards» führt das zu einer ermüdenden Gleichförmigkeit der einzelnen Staffeln: Frank Underwood ist jeder Niedertracht fähig, eigentlich ist er (bis auf seine Frau Claire) nur von Trotteln umgeben, die im einen Moment gefühlsduselig und im nächsten korrupt sind. Die Figuren gleiten nach dem Gutdünken der Drehbuchschreiber durch eine Art schwerelosen Raum, der zwar leidlich wie Washington, D.C., aussieht, aber eigentlich keinem von Menschen bewohnten Kosmos auch nur annähernd ähnelt: ein reines Simulakrum aus billigem Zynismus und durch nichts motivierten Grautönen.

Sie haben es erahnt: Die Showrunner sind ein Männerklub – und die Writers’ Rooms auch. Das trägt zur Maskulinisierung der Fernsehlandschaft bei. Die jährliche Aufstellung der fünfzig einflussreichsten Showrunner seitens des Branchenblatts «Hollywood Reporter» enthält gerade mal sieben Frauen und sieben Teams aus Männern und Frauen. Klar, es hat sich einiges verbessert: Jenji Kohan («Orange is the New Black»), Jill Soloway («Transparent») und Sarah Treem («The Affair») spielen dieser Tage in der ersten Liga mit. Lena Dunham («Girls») und Shonda Rhymes («Grey’s Anatomy») sind selber Medienstars geworden. Aber sonst starren einem aus den Seiten des «Hollywood Reporter» weiterhin Männer mit Hornbrille entgegen.

Es ist nicht so, dass es keine guten Rollen für Frauen gäbe – das Gegenteil ist der Fall. Aber je prestigeträchtiger das Drama, je epischer die Handlungsstränge, desto testosteronbeschwerter wird das Ganze: Alles brüllt, heult, kämpft, schwitzt, mordet. Alles stinkt nach Blut und Moschus. Oder riecht zumindest nach Brandy und Zigarettenrauch. Happy End, eine Lehre, die gezogen wird, all das gehört zum Ballast, den die neuen Ernsten im Dienste der Eigentlichkeit über Bord werfen. Die feine Ironie, mit der «The Golden Girls» weder melancholisch noch schönfärbend mit einem Lachen auf das Altern zugingen, scheint lang vergessen – heute hätte Blanche Alzheimer und Dorothy erwürgte sie im Schlaf.

Es fällt auf, dass die prestigeträchtigen von Frauen geführten Serien dagegen vornehmlich Komödien sind, und betont episodisch: Tina Feys Serien «30 Rock» und «The Unbreakable Kimmy Schmidt», aber auch «Broad City» und «Inside Amy Schumer» haben gerade Freude am non sequitur, an der brillanten, aber isolierten Sequenz, am genialen Call-Back. Sie bleiben ungern bei der Sache, wenn sich noch ein guter Gag unterbringen lässt. Irgendwie mythisch aufladen wollen sie ihre Arbeit nicht. Wieso auch? Ihre Vorbilder heissen Carol Burnett und Mary Tyler Moore, sie sehen sich als Bewahrer einer Tradition gut gemachter episodischer Fernsehunterhaltung. Gerade Tina Feys Humor steht dem Vaudeville näher als dem Roman, was sie auch genüsslich unterstreicht. Die Plots sind häufig explizit als Gag-Fliessbänder konzipiert, der Writers’ Room, den sie in «30 Rock» porträtiert, ist eine schwer pubertäre Mischung aus verschwitzten Hipster-T-Shirts und kalter Pizza, die Sendung, die in ihm entsteht, scheint entsetzlich schlecht zu sein. Die Comédiennes sind es also, die die Grenzen des neuen Booms bereits begriffen haben: Sie rauben dem Autorenfernsehen seine Mystik, erinnern uns an die Tradition des Writers’ Room.

Klar, das ist eine Tradition mit Schweisskringeln und kalter Pizza. Aber eben trotzdem: Tradition. Vielleicht erleben wir im Rückgriff darauf ja bereits den Beginn eines dritten goldenen Zeitalters. Die Europäer haben derweil immer noch die Tendenz, am neuen Prestigefernsehen vor allem den monolithischen Autor wahrzunehmen – die Simulation des SRF und das Vorgehen anderer europäischer Sender legen das nahe. Dabei täten sie gut daran, hinter den genialen Produkten das Rumoren der alten, gut geölten Maschine zu hören – einer Maschine namens Writers’ Room.


Adrian Daub (Text)
ist Professor am Department of German Studies an der Stanford University. Er schreibt für verschiedene deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt erschienen sind  «The James Bond Songs» (Oxford, 2015) und  «Pop-Up Nation» (Hanser, 2016). Adrian Daub lebt in San Francisco.


Michael Raaflaub (Illustrationen)
ist Illustrator und lebt in Bern.

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