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Privilegienwirtschaft

Es gibt gute Gründe, gegen die heutige Finanzwirtschaft und ihr Bankenwesen zu protestieren. Mit Kapitalismus haben sie allerdings wenig zu tun.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang der sozialistischen Grossexperimente ist Kapitalismuskritik wieder en vogue. Antikapitalistische Aktivisten suchen sich als Kulissen vorzugsweise die Bankpaläste in den Finanzzentren aus, um ihren Protest auf die Strasse zu tragen. Hierbei bündeln sich zwei Missverständnisse: Zum Unverständnis über Wesen und Wirkung des Kapitalismus gesellt sich das Trugbild, im heutigen Finanzsystem ginge es primär kapitalistisch zu.

Diejenigen, die ihren Unmut über die ökonomischen und politischen Verhältnisse zum Ausdruck bringen wollen, haben sich mit dem Begriff «Kapitalismus» eine denkbar ungeeignete Vokabel ausgesucht. Kapitalismus bezeichnet ein Wirtschaftssystem, bei dem sowohl die originären Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden) als auch die produzierten Produktionsmittel (Kapitalgüter) in privatem Eigentum stehen. Nicht mehr und nicht weniger. Zu dieser Wirtschaftsform gibt es nur zwei Alternativen: kapitallose Produktion oder Sozialismus. Kapitallose Produktion – also der Verzicht auf produzierte Produktionsmittel als Zwischenstufen im Produktionsprozess – ist so unergiebig, dass sie ernsthaft niemand will. Sämtliche Konsumgüter wären bei dieser Produktionsweise mit blossen Händen der Natur abzuringen. Will man an der kapitalbasierten Produktion festhalten, so bleibt als Alternative zum Kapitalismus nur der Sozialismus, also die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Sozialismus beginnt nicht erst mit der formalen Enteignung, sondern kann auch graduell erfolgen – je stärker die private Verfügung über Produktionsmittel durch Gesetze oder Verordnungen eingeschränkt wird, desto stärker ersetzen bürokratisch-kollektive Bestimmungen die eigenverantwortlichen Entscheidungen der Unternehmer. Verglichen mit dem Kapitalismus ist die sozialistische Wirtschaftsform sehr unergiebig. Zwar kann durchaus Kapital gebildet werden, aber niemand weiss, in welchem Produktionszweig es am besten eingesetzt werden sollte. Weil mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel auch die marktwirtschaftliche Preisbildung untergeht, verliert der ökonomische Prozess sein Navigationssystem: Ohne Signale über die relative Knappheit der Produktionsmittel (gemessen an den Bedürfnissen der Konsumenten) gibt es keine rationale Steuerung der Produktion, und die Kapitalbildung hängt völlig in der Luft. Typisch hierfür ist das in Zentralverwaltungswirtschaften übliche Tonnendenken.

Es wäre für die Debatte viel gewonnen, wenn sich die Kritiker des Kapitalismus konsequent zur sozialistischen Alternative bekennen würden. So weit ist man noch nicht. Lieber ersetzen sie die Reizvokabel «Sozialisierung der Wirtschaft», die in breiten Bevölkerungskreisen keinen guten Klang mehr hat (man ist durch Schaden klug geworden), durch die harmloser klingende «Demokratisierung der Wirtschaft», was allerdings auf dasselbe hinausläuft.1 Zugleich wird die rauhe Wirklichkeit mit einer Phantasiewelt verglichen, in der das Knappheitsproblem aufgehoben scheint – mit dem Glauben an die Überflussgesellschaft begannen auch vor 150 Jahren die utopischen Verheissungen zur Überwindung des Kapitalismus durch Abschaffung des Privateigentums. Millionen Menschen haben diese Experimente bereits mit ihrem Leben bezahlt. Dieser Debatte – so überdrüssig man ihrer sein mag – sollten die Befürworter der freien Marktwirtschaft nicht ausweichen, auch wenn sich der theoretisch wie empirisch (in dieser Reihenfolge!) längst entschiedene Diskurs um die Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus nun wiederholt. Andernfalls ist der abermalige Feldversuch, bei dem ganze Bevölkerungen erneut zu Versuchskaninchen von Sozialingenieuren werden, nicht mehr aufzuhalten.

Der Zweck des Wirtschaftens besteht in der Bereitstellung von Konsumgütern. Jede ökonomische Aktivität erhält nur dadurch einen Wert, dass sie heute oder in Zukunft konsumierbare Güter hervorzubringen hilft. Alles andere ist wertlos. Und aus wertloser Produktion kann niemals Einkommen entstehen. Was so einfach klingt, wirft sehr komplexe Fragen auf. Jeden Tag aufs neue stehen wir vor schwierigen Trade-offs, weil sich mit den begrenzten Ressourcen immer nur ein Teil, niemals aber sämtliche Bedürfnisse befriedigen lassen. Was fängt man beispielsweise mit der Roggenernte an? Soll damit Brot gebacken oder lieber Schnaps gebrannt werden? Und soll man die gesamte Ernte in der einen oder anderen Form aufessen (also konsumieren) oder lieber einen Teil als Saatgut für die Roggenproduktion im nächsten Jahr zurückhalten (also sparen und als Kapitalgut investieren) – und falls ja, wie viel davon? Dieser winzige Ausschnitt aus dem Produktionsprozess macht deutlich, worum es geht. Es geht um die richtige Produktionsstruktur für die gegenwärtigen und zukünftigen Konsumwünsche. Ein mehr des einen bedeutet stets ein weniger des anderen. Weniger Brot heute steht mehr heutiger Schnaps oder mehr zukünftiges Brot oder mehr zukünftiger Schnaps gegenüber – kapitalistische Produktion hat immer eine intertemporale Dimension. Im Kapitalismus werden diese Fragen dezentral gelöst und über Märkte koordiniert. Die Lenkung der Produktion erfolgt über Gewinnanreize und diese basieren auf Preissignalen. Bei profitabler Produktion werden knappe Ressourcen in diejenigen Verwendungen gelenkt, die den Konsumenten am wichtigsten sind. Die Konsumenten sind daher die Herrscher über die Produktion, während die Unternehmer ihre Diener sind. Einige nennen das Konsumentensouveränität, andere sprechen von der Demokratie des Marktes. Beides meint dasselbe.

Zum Wesen, ja geradezu zur Ethik des kapitalistischen Systems gehört das Haftungsprinzip. Wer die in seinem Eigentum stehenden Produktionsmittel einsetzt und dabei auf das falsche Pferd setzt (also die Wünsche der Konsumenten falsch einschätzt), bekommt vom Markt in Form von Verlusten die gelbe Karte. Jeder Verlust entzieht dem jeweiligen Akteur Verfügungsgewalt über knappe ökonomische Ressourcen. Wird darauf nicht reagiert, dann folgt alsbald in Form des Konkurses der Platzverweis. Weil die Zukunft immer unsicher ist, ist jede Investition naturgemäss spekulativ. Garantierenditen sind dem Kapitalismus fremd. Daher muss jeder, der wie auch immer zu Vermögen gekommen ist, dieses wieder und wieder dem Risiko aussetzen, um es überhaupt bewahren zu können. Geht es wettbewerblich zu, dann wandert die Verfügungsgewalt über knappes Kapital tendenziell zu den besten Wirten, also denjenigen Unternehmern, die die heutigen und zukünftigen Konsumentenbedürfnisse besser einschätzen können als andere. Wohlhabend kann man hierbei nur werden, wenn man etwas sozial Nützliches tut, nämlich die Konsumenten möglichst gut versorgt. Profit ist daher nichts, was anderen vorenthalten wird, sondern Ausdruck für sozial nützliche Produktionsentscheidungen, die man früher als andere erkannt hat.

Eine entscheidende Rolle spielt in diesem System der Zinssatz. Anders als es die derzeit wieder lebhafter geführte Debatte um vermeintliche Investitionslücken nahelegt, sind Investitionen nicht per se gut. Wäre es anders, müssten diejenigen Unternehmen am erfolgreichsten sein, die möglichst viel investieren. Dass sie es nicht sind, liegt daran, dass zukünftiger Mehrkonsum von den Konsumenten nicht automatisch höher eingeschätzt wird als ein geringerer Gegenwartskonsum. Zwar lassen sich durch den Einsatz von Kapitalgütern typischerweise mengenmässig ergiebigere Produktionswege einschlagen, d.h. die physische Arbeitsproduktivität steigt. Es kommt aber auch auf die Wertschätzung der Konsumenten an. Es ist nicht egal, wann die Konsumgüter zur Verfügung stehen. Und einfach nur mehr von etwas zu produzieren, ist noch kein Garant für ökonomischen Erfolg. Tonnendenken wird vom Markt nicht honoriert. Erst wenn die zukünftig produzierbaren Konsumgüter von den Konsumenten so sehr geschätzt werden, dass sie bereit sind, auf Gegenwartskonsum zu verzichten (also zu sparen), rechnet sich eine Investition, und nur diese Investitionsprojekte sollten verfolgt werden. Nebenbei bemerkt: erfolgreiche Investitionen kommen nicht nur dem Investor zugute, sondern auch den Arbeitskräften, weil sich ihr Lohn an der Produktivität der mit ihrer Arbeitsleistung erbrachten Produktion orientiert. Wer als Arbeitskraft mit einem marktfähigen Kapitalstock ausgestattet ist (also mit Produktionsmitteln, die direkt oder indirekt der Erzeugung hochgeschätzter Konsumgüter dienen), sieht sein Einkommen steigen. Wer ein Kornfeld nur mit einer Sense in der Hand ernten soll, wird seine bescheidene Produktivität in einem geringen Lohn widergespiegelt sehen. Wer einen Mähdrescher zur Verfügung hat, ist ungleich produktiver und wird ein entsprechend höheres Einkommen erzielen, vorausgesetzt, dass das geerntete Korn den Konsumenten etwas bedeutet.

Ohne es zu beabsichtigen, macht der Kapitalismus vor allem die Arbeitnehmer reicher. Dies gilt umso mehr, als die auf Massenproduktion abzielende kapitalistische Produktion auf den Massenkonsum ausgerichtet ist, um profitabel zu sein. Mit diesen Erkenntnissen klären sich viele Zerrbilder über die Entwicklung der Industrialisierung im 19. Jahrhundert auf, wenn man auch hier die relevanten Alternativen vergleicht. Nicht der Wohlstand heutiger Arbeitnehmer in den wohlhabenden Ländern war damals die Alternative der unter krassen Bedingungen arbeitenden Menschen, sondern der drohende Hungertod. Die Menschen strömten von der Landwirtschaft in die Industrie, weil dort die Löhne höher waren. Demzufolge waren auch die Junker die erbittertsten Gegner der industriellen Kapitalisten, weil diese die Löhne für Landarbeiter in die Höhe getrieben hatten. Dass es den breiten Massen heute so viel besser geht als vor zweihundert Jahren, ist das Ergebnis von fortgesetzter Arbeitsteilung, unternehmerischer Kreativität und der marktorientierten Akkumulation von Kapitalgütern. Voraussetzung hierfür war ein institutionelles System, das das Privateigentum an den Produktionsmitteln anerkannte.

An der richtigen Zusammensetzung des Kapitalstocks, durch den die zukünftigen Produktionsmöglichkeiten massgeblich geprägt werden, müssen alle ökonomischen Akteure ein vorrangiges Interesse haben. Welcher Teil der heutigen Produktion dem Kapitalstockaufbau gewidmet werden soll, hängt – wie alles in der Marktwirtschaft – von den Präferenzen der Konsumenten ab. Haben diese eine hohe Gegenwartspräferenz, so bildet sich am Kapitalmarkt ein hoher Zins und nur wenige Investitionsobjekte sind profitabel. Sinkt die Zeitpräferenz, so sinkt der Zins, und es können mehr Ressourcen aus der Produktion von gegenwärtigen Konsumgütern abgezogen und für den Kapitalstockaufbau genutzt werden, so dass die zukünftige Konsumgüterproduktion reichlicher ausfallen kann. Der Zinsmechanismus spielt daher im Kapitalismus eine entscheidende Rolle. Als Scharnier zwischen Gegenwart und Zukunft werden hierüber Ersparnis- und Investitionsentscheidungen koordiniert.

An dieser Stelle kommt das Finanz- und Geldsystem ins Spiel. Banken sind zusammen mit den übrigen Finanzmarktteilnehmern an entscheidender Stelle für die Kapitalallokation tätig. Die exponierte Stellung der Banken rührt aus ihrer Doppelrolle als Kreditvermittler und Kreditschöpfer. Als Kreditvermittler sammeln sie Anlagegelder der Sparer ein und reichen diese an investitionswillige Unternehmen als Kredite wieder aus. Ihre vornehmste Aufgabe besteht dabei in der Kreditwürdigkeitsprüfung. Nur wer von den Banken Kredit erhält oder erfolgreich eigene Wertpapiere emittiert, kann über das Mass seiner privaten Ersparnis hinaus investieren und wachsen. Damit befinden die Akteure im Finanzsystem darüber, in welche Verwendung das knappe Sparkapital gelenkt wird, und prägen so die Produktionsstruktur der sogenannten Realwirtschaft entscheidend mit. Je schlechter die Banken, desto ärmer das Land.

 

Ruhekissen für risikoscheue Anleger

Ginge es im Bankgeschäft rein kapitalistisch zu, würde auch hier das Haftungsprinzip gelten. Damit würden schlechte Banken mit der Zeit via Insolvenz aus dem Markt gedrängt. Unser derzeitiges, staatlich protegiertes Geldwesen lässt dies jedoch nur sehr eingeschränkt zu. Grund hierfür ist die zweite Rolle, die Banken als Geld- und Kreditschöpfer spielen. Diese Rolle verdanken sie einem staatlichen Privileg, das ihnen die Errichtung eines Teildeckungssystems gestattet. Dieses behindert auf zwei Wegen die effiziente Kapitallenkung und provoziert im schlimmsten Fall schwere Kapitalstockverzerrungen, die dann als Finanzkrisen Schlagzeilen machen. Unser kreditbasiertes Teildeckungssystem macht es möglich, dass Banken mehr Kredite herausgeben, als sie an Spargeldern einnehmen. Sie schöpfen diese Kredite mit Hilfe der Zentralbank aus dem Nichts. Wer bei einer Bank einen Kredit aufnimmt, erwartet als Gegenleistung für die eingegangene Verbindlichkeit natürlich die Auszahlung der kreditierten Summe in Form von Geld. Dieses Geld kann nun der Bankensektor im Moment der Kreditvergabe einfach neu produzieren, statt es vorher bei Anlegern einsammeln zu müssen. Neuem Kredit steht dann eine grössere Geldmenge gegenüber. Das hat zwei entscheidende Konsequenzen. Zum einen wird dadurch die Kreditvergabe von der freiwilligen Ersparnis abgekoppelt – das Kreditsystem wird übermässig elastisch – und zum anderen werden die Banken zerbrechlich.

Eine übermässige Kreditexpansion lässt das Zinsniveau unter das Niveau sinken, bei dem freiwillige Investitionen und Ersparnis zum Ausgleich kämen – damit werden der Kapitalstock und mit ihm die Produktionsstrukturen verzerrt. Der Tendenz nach werden dann mehr Investitionsprojekte angefangen, als sich zu Ende führen lassen. Auf den künstlichen Boom folgt die schmerzhafte Anpassungskrise. Zum anderen macht das Teildeckungssystem die Banken zerbrechlich, sie werden anfällig für Bank-Runs. Da der überwiegende Teil der Bankeinlagen, die die Bankkunden als liquide Mittel betrachten, in Form von Krediten gebunden ist, vermengt sich die Geldproduktion mit der Kreditvergabe. Stellt sich heraus, dass eine Bank auf die falschen Kreditkunden gesetzt hat, so würde ihr Untergang zugleich Teile der Geldmenge mit in den Abgrund reissen und damit Einlagenkunden treffen, die mit den Krediten der Bank überhaupt nichts zu tun haben. Das Geld würde dahin verschwinden, wo es hergekommen ist, nämlich ins Nichts. Allerdings verliert es nicht derjenige, der es auf dem Kreditweg erhalten hat, sondern völlig unbeteiligte Dritte, die es zuletzt als Entgelt für erbrachte Leistungen oder Vermögensverkäufe erhalten haben.

Das Teildeckungssystem begünstigt somit nicht nur die Fehllenkung von Kapital, sondern verbindet die Solvenz der Bank mit der Stabilität des Geldwesens. Um dessen Erschütterung und die damit verbundenen Verwerfungen im übrigen Wirtschaftssystem zu vermeiden, tritt entweder die Zentralbank auf den Plan und druckt das Geld nach, das die Bank verbrannt hat, oder es werden über staatliche Bail-outs die Steuerzahler direkt in die Mithaftung gezogen. Die sogenannten systemisch wichtigen Banken wissen das, sie segeln daher insgesamt zu scharf am Wind. Da ihnen im Erfolgsfalle die Gewinne bleiben, während sie mögliche Verluste zum Teil sozialisieren können, bilden sich in einem solchen Finanzsystem die falschen Risikopreise. Die Banken profitieren dabei von einem doppelten Privileg. Das Teildeckungssystem ermöglicht ihnen die Kreditschöpfung aus dem Nichts – hieran lässt sich prächtig verdienen –, und die implizite Rettungsgarantie sorgt dafür, dass sich das Haftungsprinzip nicht durchsetzen kann. Den Regierungen kommt dieses System gelegen, weil sie sich dadurch leichter verschulden können, als es ohne das elastische Geld- und Kreditsystem der Fall wäre – die Lasten, die mit den Staatsausgaben verbunden sind, können so leichter verschleiert werden. Zudem erlauben sie sich bei der Regulierung des Bankensektors noch zusätzliche Privilegien als bevorzugter Schuldner. Anlegern wird dafür das Vehikel eines «sicheren Wertpapiers» vorgegaukelt. Für die Sicherheit sorgen – wenn überhaupt – nur die zukünftigen Steuerzahler. Diese bereiten damit risikoscheuen Anlegern zwangsweise ein Ruhekissen für deren Vermögen. Das ist das Gegenteil von Kapitalismus.

Die Instanz einer staatlichen Zentralbank ist ebenfalls alles andere als kapitalistisch. Als blosser Clearingmechanismus, der die Tagessalden im Zahlungsverkehr zwischen Geschäftsbanken abzuwickeln hilft, kann eine Zentralbank auch in einem kapitalistischen Geldsystem nützlich sein – spektakulär wäre ihre Rolle indes nicht. Die heutigen staatlichen Notenbanken begnügen sich daher auch nicht mit dieser harmlosen Rolle, sondern sie tragen als «Lender of last resort» massgeblich dazu bei, dass das Teildeckungssystem überhaupt bestehen kann. Das ist geradezu ihr Selbstverständnis. Darüber hinaus wirken sie heutzutage immer aktiver an der Beeinflussung des Zinssatzes mit. Dessen allokative Funktion wird mehr und mehr abgelöst von einer Sichtweise, die den Zins als blosses Instrument der Makrosteuerung betrachtet. Sobald man zu wissen glaubt, dass die aggregierte Gesamtnachfrage zu gering sei, wird das Zinsniveau nach unten gedrückt, um die Investitionen anzuregen. So soll die mit Arbeitslosigkeit einhergehende Produktionslücke wieder geschlossen werden. Das Problem hierbei: jede Diskrepanz in der Zusammensetzung der Produktion (das, was produziert werden kann, entspricht nicht dem, was die Konsumenten am dringlichsten wünschen) äussert sich bei aggregierter Betrachtung automatisch in einer gesamtwirtschaftlichen Unterauslastung. Dann scheint es, als ob insgesamt zu wenig «nachgefragt» werde. Nun kann aber niemand am Markt zu einem Geschäftsabschluss gezwungen werden (Tausch ist immer freiwillig), daher setzt sich stets die kürzere Marktseite durch. Passt also die Struktur des Güterangebots nicht zu dem, was die Verbraucher kaufen wollen, bleiben Anbieter auf einem Teil ihrer Produktion sitzen, während andere Güter, die auf hohes Interesse stossen würden, nicht produziert werden können, weil die Ressourcen für die Produktion von Ladenhütern gebunden sind. Tatsächlich wird dann nicht zu viel, sondern das Falsche produziert. Die «mangelnde Nachfrage» glaubt man zu sehen, die fehlende Produktion sieht man nicht. Nur über Preisanpassungen kann aber die Produktionsstruktur wieder in Einklang mit den Konsumentenpräferenzen gebracht werden. Ein künstliches Herabdrücken des Zinssatzes durch Interventionen der Zentralbank löst nicht die Strukturprobleme, sondern schafft bloss neue Probleme, weil die übermässige Kreditexpansion in die nächste Runde geht. Zugespitzt könnte man sagen: Der wichtigste Preis im Kapitalismus wird von Zentralbankbürokraten manipuliert. Der ökonomische Mainstream in der westlichen Welt hält das für völlig normal. Monat für Monat hält die Finanzwelt den Atem an und wartet gebannt – wie das Kaninchen vor der Schlange – auf die jüngsten Beschlüsse des staatlichen Zentralbankrates. Mit marktradikalem Kapitalismus hat das nichts zu tun.

Es gibt gute Gründe, gegen die finanzwirtschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit zu protestieren. Auch eignen sich die Glastürme der Zentral- und Geschäftsbanken durchaus als Kulisse dafür. Indes sollte man nicht den Kapitalismus anprangern, sondern das deformierte System einer Privilegienwirtschaft, in dem die Grundregeln des freien Marktes in einem wichtigen Teilbereich unseres Wirtschaftssystems mit staatlicher Protektion ausser Kraft gesetzt sind.


Die grosse Konfusion (und ihre Feinde) 

Schon wieder die Systemfrage? Ach Gott, «Monat», dein Ernst? – Aber Moment! Gehört es nicht zu den legitimen Ansprüchen liberaler Publikationen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass das ökonomische Mischsystem unserer Zeit weder den (marxistischen) Begriff «Kapitalismus» noch das Label «Marktwirtschaft» verdienen? Eben.

Vor rund zwei Jahren beschrieb der Ökonom Stefan Kooths in dieser Zeitschrift den Ursprung so manch berechtigter Kritik: Zentralbanken decken sich mit Anleihen (halb)maroder Staaten ein. Geschäftsbanken tun es ihnen gleich mit Gratisgeld, das sie von – genau! – Zentralbanken erhalten. Und die Staaten refinanzieren ihre Schulden mit immer neuen Schulden. Dieser komplexe Kreislauf, andere nennen ihn «Kasino», dreht bis heute ungestört weiter und überfordert manch kognitives System. Deshalb ist es essentiell, sich stets aufs neue mit den Mechanismen zu beschäftigen, die jeden von uns betreffen – die man aber nur selten treffend beschrieben findet. Genau dies tut die vorliegende Analyse von Stefan Kooths. (FR)


1 Vgl. Kooths, Stefan: Kollektivismus, Sozialismus und Demokratie, http://prometheusinstitut.de/kollektivismus-sozialismus-und-demokratie/

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