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Was heisst denn hier Freiheit?

Eine Antwort aus dem Stegreif von Ursula Renold Mit einem Anstoss von Blaise Pascal:
Zitiert aus «Pensées»
«Ich habe gefunden, dass alles Unglück der Menschen einzig davon kommt, dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können.»

Was heisst denn hier Freiheit?

«Mir gefällt dieses Zitat, weil ich mich vor einiger Zeit lange damit beschäftigt habe, wieso eigentlich die Bildung so wenig dazu beiträgt, dass die Menschen zu ihrem eigentlichen Wesen kommen. Ich bin damals auf den indischen Gelehrten Krishnamurti gestossen. In seinen Schriften – Zwiegesprächen zwischen Lehrer und Schüler – nimmt er genau diese Frage auf: Warum kann der Mensch nicht mehr in Ruhe mit sich allein irgendwo sein und seine inneren Kräfte mobilisieren? Krishnamurti lehrt, der Mensch sei nur dann frei, wenn er sich von den Abhängigkeiten lösen und sich selbst erfahren könne. In Ruhe allein in einem Zimmer bleiben zu können – das ist für mich eine Metapher für diese Befreiung.

Es ist allzuoft so, dass wir uns in unserem Berufsalltag wie der Hamster im Drehrad verhalten. Wir haben keine Zeit mehr, uns darüber Gedanken zu machen, was unser wahrer innerer Antrieb ist. Und das heisst auch, dass wir uns ständig in der Abhängigkeit befinden, anderen genügen und gefallen zu wollen. Die Frage ist, was passiert, wenn man sich die Zeit nimmt, sich über die Abhängigkeiten Gedanken zu machen. Will und kann man die Abhängigkeiten überhaupt loswerden? Wahrscheinlich empfindet man diese Loslösung anfangs als Qual. Und kann sie wohl auch niemals völlig erreichen.

Es kommt wohl auf den Prozess an, in dem man sich immer wieder bewusst der Differenz zwischen den eigenen Ansprüchen und den faktischen Abhängigkeiten aussetzt. Diese Differenz scheint mir etwas Wichtiges zu sein. Und da kommen mir natürlich Dinge in den Sinn, die durchaus mit Bildung zu tun haben. Pierre Bourdieu hat hier für mich interessante Werke geschrieben, etwa ‹La reproduction›, in der deutschen Übersetzung ‹Schule als Agentur der symbolischen Gewalt›. Ich habe diesen Titel oft als Provokation bei Leitbilddiskussionen für Schulen verwendet. Ich wollte den Lehrern aufzeigen, dass sie verantwortlich dafür sind, dass junge Menschen eine eigenständige, kulturelle Identität entwickeln können. Das bedeutet, dass die Lehrer es den Schülern ermöglichen müssen, die Differenzen zwischen ihrer eigenen Kultur und derjenigen der Lehrer oder anderer Autoritätspersonen zu erfahren. Wenn diese Differenzen sichtbar werden, dann ist das für mich ein guter Unterricht.

Wer kommt eigentlich in unserem schulischen System für gewöhnlich weiter? Es sind diejenigen, die den symbolischen Code des Lehrers oder Professors am besten imitieren können. Auch daher ist unser Ausbildungssystem selbstreferentiell und verhindert, dass Menschen als eigenständige, unabhängige Individuen in ihrer Gesellschaft dazu beitragen können, dass die Kultur mit Hilfe neuer Denk- und Werthaltungen weiterentwickelt werden kann. Erst das Erkennen der Differenz schafft den Raum, in dem Freiheit möglich werden kann.

Ich arbeite am Schweizer Bundesamt für Berufsbildung und Technologie in Bern und wohne dort während der Woche in einem kleinen Appartement. Am Wochenende, während der Ferien und wann immer es sonst möglich ist, lebe ich in meinem Haus am Stadtrand der vergleichsweise kleinen und abgelegenen Stadt Brugg. Das war eine bewusste Entscheidung, die wieder mit der Differenz zu tun hat. Ich möchte unterschiedliche Welten erfahren, unterschiedliche Rationalitäten wahrnehmen. Das hilft, mir zu mir Fragen zu stellen, aus dem Hamsterrad hinauszugelangen. Brugg ist so gesehen mein Reduit, das Zimmer, in dem ich zur Ruhe komme und Freiheit finde.»

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