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Warum es keine Armutsstatistik braucht

Wie arm sind wir eigentlich? – so fragt die Caritas Schweiz. Die Antwort ist nicht einfach. Und wirft eine weitere Frage auf: Wer bestimmt eigentlich, wie arm wer ist?

Caritas Schweiz beklagt das Fehlen einer offiziellen Armutsstatistik in der Schweiz. Die Klage ist verständlich. Aber ist das wirklich ein Problem?

In den frühen 1960ern traf sich der amerikanische Ökonom Milton Friedman in Hongkong mit Sir John Cowperthwaite, dem finanzpolitischen Lenker der britischen Kolonialverwaltung. Die wirtschaftliche Entwicklung der kleinen Kronkolonie hatte Friedmans Interesse geweckt. Er konnte jedoch nichts Näheres über diese in Erfahrung bringen, da es zu seiner Verwunderung kaum Statistiken gab. Also fragte er Sir John, was es mit dem Fehlen der Daten auf sich hätte. Dieser, ein überzeugter Wirtschaftsliberaler, erklärte, er liesse ganz bewusst keine Statistiken erstellen. Die Funktionäre der Kolonialverwaltung sollten gar nicht erst in Versuchung geraten, planend und lenkend in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen.

Dieses Kalkül mag vielen als gewagt anmuten, aber es scheint Hongkong nicht geschadet zu haben. Es ging Hongkong unter den Briten gut, und auch heute steht es wirtschaftlich in beneidenswerter Verfassung da. Mit dem wachsenden Wohlstand (und der damit einhergehenden Umverteilung und den wiederum damit einhergehenden Begehrlichkeiten) mag es zusammenhängen, dass heute tatsächlich Statistiken existieren. Sie zeigen, dass sich Hongkongs Bruttosozialprodukt pro Kopf im Laufe des letzten halben Jahrhunderts real verzehnfacht hat.

Solange es einem Land gut geht und Umverteilung nicht das politische Geschäft dominiert, bedarf es also keiner Statistiken. So gesehen, wäre es gar nicht so schlimm, dass es in der Schweiz bis heute keine offizielle Armutsstatistik gibt. Die Caritas Schweiz sieht dies aber naturgemäss anders. In deren «Sozialalmanach 2010» heisst es in ermahnend-forderndem Unterton: «Was die Weltbank schon seit den 1990er Jahren auf globaler Ebene tut [nämlich Armutsstatistiken erheben], muss in der Schweiz zwanzig Jahre später endlich möglich werden!»1)

Die Herausgeberin des Sozialalmanachs, Christin Kehrli, schlägt vor, international übliche Armutsdefinitionen auf die Schweiz anzuwenden. Ein verständliches Anliegen. Selbstverständlich wäre ein adäquates Bild über Ausmass, Tendenz, geographische Konzentration und Risikofaktoren der Armut wünschenswert. Nur sorgen eben die von Kehrli angeführten Indikatoren gerade nicht für mehr Klarheit.

Die Autorin nennt drei verschiedene Ansätze zur Armutsmessung. Da wäre einmal die «relative Armut»: arm ist, wer über weniger als 60 oder 50 Prozent des nationalen Medianeinkommens verfügt («median» bedeutet, dass die Hälfte der Bevölkerung mehr und die Hälfte weniger verdient). Weiterhin wäre da die «subjektive Armut»: arm ist, wer sich selbst als arm bezeichnet. Und schliesslich gibt es die «multiple Entbehrung»: arm ist, wer mit wesentlichen Gütern unterversorgt ist. Massstab hierfür ist ein vordefinierter Warenkorb (der auch immaterielle Güter wie Freizeit enthalten kann).

Für Grossbritannien gibt es eine Studie der University of York, die diese drei Indikatoren auf britische Verhältnisse anwendet.2) Sie kommt zu einem überraschenden Ergebnis. Die Armutsraten sind zwar bei allen drei Indikatoren etwa gleich hoch, doch zwischen den drei Gruppen gibt es kaum Überschneidungen. Überspitzt ausgedrückt: diejenigen mit geringen Einkommen fühlen sich nicht arm; die subjektiv Armen sind materiell nicht unterversorgt, und die materiell Unterversorgten haben keine geringen Einkommen. Armutsbestimmung ist kein leichtes Geschäft.

Der gebräuchlichste dieser Indikatoren ist derjenige der relativen Einkommensarmut. Setzt man die Armutsgrenze bei 60 Prozent des Medianeinkommens, so sind laut OECD 15,2 Prozent der Schweizer arm. Dieser Indikator ist augenscheinlich der von Kehrli favorisierte. Sie schreibt: «Armut [ist] ein Indikator für Ausgrenzung und Ungleichheit in einer Gesellschaft. … Armut ist folglich ein relatives Phänomen, es bezieht sich auf eine Referenzgruppe, in der Regel die Bevölkerung eines bestimmten Landes.»

Versteht man «relativ» im Sinne von «kontextbezogen», dann ist diese Aussage unstrittig. In der Schweiz dürften nahezu alle Bürger eine trockene, beheizte Wohnung mit Innentoilette sowie Strom- und Warmwasseranschluss als absolutes Grundbedürfnis empfinden. Dasselbe mag in den ehemaligen Sowjetrepubliken nicht so selbstverständlich sein. Ein Armutsindikator, der von den örtlichen Wahrnehmungen völlig losgelöst wäre, würde von niemandem ernst genommen.

Daraus folgt aber noch lange nicht, dass die Armutsgrenze an das nationale Medianeinkommen gekoppelt werden muss. Warum soll ausgerechnet die nationale Ebene als Referenzgrösse dienen, und nicht zum Beispiel die kantonale? Würde die Armutsschwelle am jeweiligen kantonalen Median-einkommen festgemacht, so schösse die Armut in Genf und Zürich in die Höhe, fiele jedoch in Freiburg und Appenzell-Innerrhoden ins Bodenlose. Das wäre zwar unsinnig, aber keinesfalls willkürlicher als die Ergebnisse der OECD.

Ebenso liesse sich fragen, warum die Referenzgruppe mit einer politischen Gebietskörperschaft identisch sein muss. Sie könnte auch auf ein völlig anderes Kriterium, wie etwa eine gemeinsame Sprache, bezogen werden. Ein so definiertes relatives Armutsmass könnte zum Beispiel Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz als Einheit betrachten und die Armutsschwelle am Medianeinkommen dieses Gebiets ausrichten. Da das schweizerische Medianeinkommen das deutsche um etwa ein Viertel übersteigt und der gemeinsame Median nahe am derzeitigen deutschen Wert liegen würde, würde die Armut dann in Deutschland geringfügig ansteigen und in der deutschsprachigen Schweiz deutlich fallen.

Laut Kehrlis eigener Schätzung, die sich an den Berechnungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) orientiert, leben etwa 12 Prozent der Schweizer in Armut. Diese Berechnung ist problematisch. Denn sie basiert auf der Annahme, dass das Einkommen innerhalb eines kurzen Referenzzeitraums den Lebensstandard eines Haushalts adäquat abbilde. Ein Blick auf internationale Daten zeigt, dass diese Annahme trügt.

In der britischen Armutsstatistik taucht beispielsweise eine halbe Million Individuen auf, mit einem Einkommen von null oder sogar darunter. Eine weitere Drittelmillion hat statistisch ein Einkommen, das unter dem niedrigsten Sozialhilfesatz liegt – das sind keine Leute, die Hunger leiden, sondern eher Selbständige, die im erfassten Zeitraum Verluste verzeichnet haben. Ebenso kann ein Elternurlaub oder eine Umschulung vorübergehend zu einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze führen, ohne dass der Betroffene tatsächlich in die Armut abrutscht. Hinzu kommt, dass der Bezug von Sozialleistungen in Haushaltsbefragungen oft nicht vollständig erfasst wird. Sinnvoller wäre deshalb, Haushaltsausgaben statt Einkommen zu betrachten. Und das kann zu völlig anderen Ergebnissen führen.

Ich gebe ein Beispiel. Die Tatsache, dass sich die Einkommensarmut in den USA während der 1980er und 1990er Boomjahre nicht verringerte, hat zu allerlei abenteuerlichen Interpretationen geführt. Eine neue Art von Kapitalismus sei entstanden, der die Armen vom allgemeinen Wohlstandszuwachs abgekoppelt habe. Zu einem anderen Ergebnis kommen Bruce Meyer und James Sullivan in einer Studie der University of Chicago, die sich auf Konsumausgaben anstelle von Einkommen konzentriert.3) Dies ist angesichts der in den USA kreditfinanzierten Konsumfreudigkeit nicht unproblematisch, liefert aber dennoch einen neuen Zugang. In dieser Perspektive hat sich die Armut seit 1980 etwa halbiert, wobei sie in den Boomjahren besonders steil fiel.

John F. Kennedys Ausspruch «A rising tide lifts all the boats» ist also unverändert gültig. Sowas gefällt den Caritas-Autoren offensichtlich nicht. Sie zitieren lieber den früheren sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf mit den zeitgeistgemässen Worten: «Die Industrieländer folgen seit mindestens drei Jahrzehnten einem verfehlten Wachstumsbegriff. Das Wachstum ist zum Fetisch geworden.»

Klar ist: irreführende Armutszahlen produzieren irreführende Politikvorschläge. Das verdeutlicht vor allem der Sozialalmanach-Beitrag von Carlo Knöpfel, der einem staatlichen Hyperaktivismus das Wort redet. Unter dem Schlagwort der «investitionsorientierten Sozialpolitik» soll der Staat allerlei Programme starten und bestehende ausweiten, und das möglichst alles auf Bundesebene. Das Vertrauen des Autors in staatliches social engineering scheint grenzenlos.

Es stimmt – bei einer Sozialausgabenquote von etwa 17 Prozent des BIP ist der Schweizer Sozialstaat im europäischen Vergleich nicht üppig ausgestattet. Vergleicht man Gini-Koeffizienten – ein Mass für die Ungleichheit in einem Land – vor und nach staatlicher Umverteilung, so zeigt sich zudem, dass der Schweizer Staat weniger umverteilt als andere OECD-Staaten. Dafür ist die implizite Verschuldung – die ungedeckten Versprechungen des Sozialstaates – aber auch nicht annähernd so hoch wie in den Nachbarländern. Deshalb dürften der Schweiz Verteilungskonflikte nach griechischem Muster auch in Zukunft erspart bleiben.

Interessant ist aber ein anderer Punkt, den die Caritas-Studie allerdings nicht eigens hervorhebt. Die Ungleichheit vor Umverteilung ist in der Schweiz deutlich geringer ist als in anderen OECD-Ländern. Betriebe der Schweizer Staat überhaupt keine Umverteilung, dann hätte das Land immer noch eine gleichmässigere Einkommensverteilung als Italien, Portugal oder die USA.

Sicherlich sind nicht alle Schweizer wohlhabend. Aber das Schweizer Modell eines für europäische Verhältnisse doch eher zurückhaltenden und noch nicht allzu zentralisierten Staates bietet auch den etwas Zurückstehenden enorme Vorteile. Die Schweizer tun gut daran, diese Vorteile nicht leichtfertig über Bord zu werfen.

1) Sozialalmanach 2010. Luzern: Caritas, 2010.

2) Bradshaw, Jon. und Naomi Finch. «Overlaps in Dimensions of Poverty.» Journal of Social Policy 32.4 (2003): 513–525.

3) Meyer, Bruce und James Sullivan. «Three Decades of Consumption and Income Poverty.» Harris School Working Paper Series 04.16 (2007), Harris School of Public Policy Studies, University of Chicago.

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