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Von Hunden, Nachthemden und den fünfziger Jahren

Da wird die ganze Zeit einfach so dahingeplappert. Eine Kinderstimme. Ein kleines Mädchen, das vieles von dem, was um sie herum passiert, zwar noch nicht verstehen kann und es dennoch mit grossen Ohren und offenen Augen wahrnimmt. Langsam ändern sich die Zeiten. Das Mädchen wird älter, spürt zuweilen schon ein «gutes Gefühl» zwischen den zusammengepressten […]

Da wird die ganze Zeit einfach so dahingeplappert. Eine Kinderstimme. Ein kleines Mädchen, das vieles von dem, was um sie herum passiert, zwar noch nicht verstehen kann und es dennoch mit grossen Ohren und offenen Augen wahrnimmt. Langsam ändern sich die Zeiten. Das Mädchen wird älter, spürt zuweilen schon ein «gutes Gefühl» zwischen den zusammengepressten Beinen und bekennt darum bei der nächsten Beichte: «Ich habe Unkeusches angerührt», worauf der Pfarrer durchs Gitter flüstert: «Du musst sagen, ich habe beim Berühren unkeusche Gedanken gehabt.» Das Mädchen korrigiert ihren Beichtvater: «Das habe ich aber nicht, es hat mir einfach gefallen…»

Gisela Rudolfs Roman «Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen» spielt, leicht erkennbar, ohne dass eine Jahreszahl genannt werden müsste, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch die mehr oder minder grossen Ereignisse der Zeitgeschichte, der Ungarnaufstand, die Fussballweltmeisterschaft in der Schweiz, der Mord an der Frankfurter Prostituierten Nitribitt, der Weltallausflug des russischen Hundes Laika, werden allenfalls beiläufig gestreift. Viel wichtiger erscheint dem Kind die Anschaffung eines eigenen Hundes, der Kauf eines neuen Autos, das schicke Kleid der Mutter.

Gisela Rudolf erzählt vom Leben einer Zahnarztfamilie mit drei Kindern, häufig wechselnden Dienstmädchen, oft sehr ansehnlichen Sprechstundenhilfen und einer teils unausstehlichen Verwandtschaft. Sie berichtet über kantonale Tennisturniere, an denen die Mutter erfolgreich teilnimmt. Und das alles in epischer Breite.

Es ist bekanntlich schwierig, eine solche kindliche Perspektive über längere Strecken durchzuhalten. Gisela Rudolf gelingt es weitgehend. Doch schon nach wenigen Seiten spürt man, dass sich unter dem oberflächlichen Geplapper eine mächtige Unterströmung entwickelt. Durch den Alltag hindurch, die Stoffmassen, die hier ausgebreitet werden, durch die Sinnlichkeit der Beschreibung, scheint etwas anderes auf: Zeitgeschichte. Ja mehr noch: in diese Familiengeschichte eingeschrieben ist die Geschichte des letzten Jahrhunderts, der Abschied vom 19. Jahrhundert, der endgültige Durchbruch der Moderne. Noch gelten die Tabus. Noch herrschen schier unglaubliche Glaubensvorstellungen. Noch orientieren sich die Leute an den Normen, Werten, Verhaltensmustern einer anderen Zeit. Doch immer mehr Risse werden sichtbar.

«Die Risse in der Mauer» hatte der schwedische Erzähler Lars Gustafsson seinen Zyklus von Romanen genannt, in dem er genau diesen Prozess, mit ungleich grösserem Aufwand, zu beschreiben versuchte. Gisela Rudolf gelingt es wie nebenher. Sie erzählt uns von Hunden und Nachthemden, Kindergeburtstagen und Krankheiten, von privaten Affären, über die man «nicht spricht», von Lachgas und Lustmolchen, von Liebe und Tod – und zeigt uns dabei, dass die sechziger Jahre vor der Tür stehen. Das heisst, eine völlig andere Welt. Ein kleiner Roman. Und doch ein grosses Buch.

Gisela Rudolf: «Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen». Frankfurt a.M.: Weissbooks, 2010

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