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Stammestriebe

Politiker appellieren gerne an Gruppeninstinkte, um Stimmen zu fangen. Dieser Tribalismus erschwert den Diskurs zwischen unterschiedlichen Interessen. Wie könnte eine humane Identitätspolitik aussehen?

Stammestriebe
Ivo Scherrer, photographiert von Lukas Rühli.

Stammesdenken ist allgegenwärtig. Theoretische Physiker blicken auf experimentelle Physiker herab, klassische Ökonomen beäugen Verhaltensökonomen kritisch und für viele Naturwissenschafter sind die meisten Sozialwissenschafter pseudowissenschaftliche Quacksalber. Akademiker unterschiedlicher Disziplinen stehen sich in leidenschaftlicher Feindseligkeit gegenüber, sprechen sich gegenseitig die wissenschaftliche Legitimität ab und stehen dabei Fussballfans verschiedener Clubs nur in wenig nach – so beobachtet während meiner Arbeit an einer Schweizer Universität. Wenn sogar eine akademische Institution, in der Wissen und Fortschritt das Mass aller Dinge sein sollten, nicht vor Stammesdünkel gefeit ist, wie steht es dann um unsere politischen Institutionen?

Über Stämme und Identität

In Anlehnung an die Social Identity Theory, von der später noch die Rede sein wird, liegt diesem Text eine weitläufige Definition von Stämmen zugrunde. Zentraler Eckpfeiler der Theorie ist die Einsicht, dass Gruppen identitätsstiftend sind und dass sich Mitglieder einer Gruppe davon zu überzeugen versuchen, anderen Gruppen überlegen zu sein. Als Stamm gilt demnach jede Gruppe, welche die Weltsicht, die Werte und den Selbstwert der Individuen, die sich dem Stamme zugehörig fühlen, beeinflusst. Die Social Identity Theory anerkennt auch, dass wir alle über zahlreiche, teils widersprüchliche Gruppenidentitäten verfügen, welche die zahlreichen Eigenschaften unserer Persönlichkeiten spiegeln. Nehmen wir mein Beispiel: Ich bin Schweizer und Europäer. Ökonom und Menschenrechtler. Umweltaktivist und Hedonist. Nachfahre von Arbeitern und von Fabrikanten. Atheist und Sprössling einer multikonfessionellen Familie. Diese Fragmente meiner Persönlichkeit bilden die Grundlage verschiedener Gruppenzugehörigkeiten, die für mich identitätsstiftend sind.

Unabhängig davon, welchen Gruppen wir uns zugehörig fühlen: Wir alle brauchen unsere eigenen kleinen Stämme. Wir brauchen wenigstens eine Handvoll von Menschen, denen wir blind vertrauen können, deren Werte für uns sinnstiftend und richtungsweisend sind und die uns Schutz bieten vor den anonymen Kräften, die unsere Leben bestimmen. Neben Identität stattet uns gruppenbezogenes («tribales») Denken auch mit den kognitiven Werkzeugen aus, um uns in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Im Wissen darum, dass wir unmöglich alle Menschen persönlich kennenlernen können, neigen wir dazu, andere auf Basis angeblicher Gruppenmerkmale zu beurteilen. Das ist bequem, aber nur dann erkenntnisbringend, wenn wir vor einer Fragestellung stehen, die sich direkt auf solche Gruppenzugehörigkeiten bezieht. Wird über Abtreibung diskutiert, ist es zum Beispiel relevant, ob Entscheidungsträger männlich oder weiblich sind.

In den meisten Fällen führt tribales Denken jedoch zu fundamentalen Denkfehlern und verstärkt kognitive Verzerrungen («Cognitive Biases»), wie zum Beispiel unsere Neigung, die Welt so zu interpretieren, dass sich unsere eigenen Erwartungen und Werte bestätigt sehen (sog. Confirmation Bias). Denkmuster, die sich auf angebliche Gruppenzugehörigkeiten beziehen, führen fast immer zu deduktiven Fehlschlüssen in Form der Unart, eine Person aufgrund ihrer angeblichen Gruppenzugehörigkeit zu beurteilen und dabei alle anderen entscheidenden Faktoren ausser Acht zu lassen. Gleichzeitig verleitet tribales Denken auch zu induktiven Fehlschlüssen in Form der Beurteilung ganzer Gruppen auf Basis der Beobachtung eines einzelnen Gruppenmitglieds. Besonders problematisch wird es, wenn Gruppen totalitäre Züge annehmen, keine innere Heterogenität zulassen, volle Loyalität verlangen und Nichtmitglieder dehumanisieren. Der Weg dazu ist nicht weit, wie die Begründer der erwähnten Social Identity Theory, die Psychologen Henri Tajfel und John Turner, und viele Kolleginnen und Kollegen nach ihnen seit Ende der 1970er mit Feldexperimenten gezeigt haben: in einem Experiment genügte z.B. die blosse Zugehörigkeit zu einer künstlichen und völlig belanglosen Gruppe A, um den Mitgliedern einer anderen Gruppe B, die nicht mit Gruppe A in Konflikt stand, Schaden zufügen zu wollen – und dies sogar dann, wenn dies auch negative Auswirkungen auf Gruppe A hatte.1

Identitätspolitik im Aufwind?

In den Vereinigten Staaten wird eine heisse Debatte darüber geführt, wie stark die Tribalisierung der Öffentlichkeit fortgeschritten ist.2 Neue empirische Erkenntnisse der Politologinnen Liliane Mason und Julie Wronski zeigen, dass in den letzten zwei Jahrzehnten besonders auf der rechten Seite des politischen Spektrums eine massive Selbstselektion der Amerikaner in einen sogenannten «Super-Tribe» stattgefunden hat. Dessen Mitglieder kennzeichnen sich durch homogene politische, demographische und religiöse Vorstellungen – sie sind christlich, weiss, konservativ, republikanisch und haben nur geringen Kontakt mit Mitgliedern anderer Tribes. Dieser homogene Super-Tribe unterscheidet sich stark gegenüber früheren Jahrzehnten, wo Überlappungen zwischen den Gruppen grösser waren und etwa konservative Demokraten in den Südstaaten noch politisch bedeutend waren.3 Der Umweltwissenschafter Brian Helmuth und seine Kollegen haben zudem Evidenz dafür gefunden, dass in den USA auch die Wissenschaften zunehmend politisiert werden und dass das Interesse an wissenschaftlichen Methoden und Fakten mittlerweile nicht mehr als neutral, sondern als eine Tugend von Demokraten betrachtet wird.4 Damit nicht genug. Die Politologin Liliana Mason hat gemessen, dass Personen, die homogenen Superstämmen angehören, deutlich emotionaler auf identitätsbezogene Kommunikation5 ansprechen als andere. Dies haben sich offenbar politische Trolle aus Russland zunutze gemacht, die in sozialen Medien gezielt Werbungen zu besonders polarisierenden Themen wie Rassenbeziehungen und Abtreibung schalteten und damit versuchten, die amerikanische Zivilbevölkerung zu spalten.6 Schliesslich scheint sich die zunehmende Tribalisierung der US-Politik auch auf einzelne Politikbereiche auszuwirken. So haben die Soziologen Rachel Wetts und Rob Willer nach­gewiesen, dass weisse Amerikaner Sozialprogramme dann ablehnen, wenn sie entweder die Information erhalten, dass mehrheitlich Nichtweisse davon pro­fitierten, oder wenn suggeriert wird, dass die ökonomische Vormachtstellung der Weissen abnehme.7

Ob eine ähnliche Tribalisierung der Politik in Europa ebenfalls im Gange ist, scheint auf den ersten Blick nicht klar. Gleich umfassende empirische Befunde wie aus den USA fehlen. In Anbetracht der Szenen, die sich jüngst in Berlin abgespielt haben, wo sich AfD-Gegner und AfD-Anhänger gegenseitig als «Nazis» beschimpften und sich gegenseitig jegliche Legitimität absprachen, scheint die These jedoch nicht abwegig. Dies auch vor dem Hintergrund des politischen Diskurses vieler rechtspopulistischer Parteien, die offenbar der erodierenden Vorherrschaft des weissen, christlichen Mannes nachtrauern und nativistische und sexistische Ideale predigen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war einem weissen, christlichen Mann, egal aus welcher Schicht, ein fester Platz am oberen Ende der gesellschaftlichen Hierarchie sicher, heute muss sich auch ein solcher seinen gesellschaftlichen Status aktiv erarbeiten. Für einige der Betroffenen scheint diese Bedrohung politikwirksam identitätsstiftend zu sein. So haben die Soziologen Noam Gidron und Peter Hall gemessen, dass der gesellschaftliche Status von weissen Männern ohne Tertiärbildung in westlichen Demokratien in den letzten 30 Jahren abgenommen hat und dass unter diesen Männern der selbst als tiefer wahrgenommene Status mit hoher Unterstützung von rechtspopulistischen Parteien einhergeht.8

Ein systemisches Problem

Gerne wird einzelnen Politikern oder Medien die Schuld für tribalistische politische Diskurse in die Schuhe geschoben. In den USA bezichtigen Republikaner die Demokraten, mit ihrem Einsatz für die Rechte von Minderheiten für den Aufstieg von Identitätspolitik verantwortlich zu sein. Umgekehrt werfen Demokraten den Republikanern vor, mit ihrer Blut-und-Boden-Politik ethischen Tribalismus zu betreiben. Beide Sichtweisen scheinen für sich genommen nicht verkehrt, verkennen aber die systemische Tiefe des Problems.

Aus polit- und medienökonomischer Sicht lässt sich die Dynamik wie folgt erklären: Politiker haben ein Interesse daran, Wahlstimmen zu maximieren, und tun dies unter anderem, indem sie nur ein bestimmtes ideologisches Spektrum von potenziellen Wählern ansprechen. Diesen Wählern versuchen sie eine kohärente und für sie vorteilhafte Politik anzubieten und bewirtschaften dabei gerne die eingangs erwähnten Confirmation Biases. Dabei ist festzuhalten, dass es nicht möglich ist, keine Identitätspolitik zu betreiben. Politik kann nicht unabhängig von Gruppenidentitäten betrieben werden, da diese zumindest einen Teil unserer politischen Präferenzen erklären. Ob implizit oder explizit – Politiker sprechen immer Gruppenidentitäten an. Höchstens eine dem Status quo oder einer dominanten Gruppe zugerechnete Politik wird fälschlicherweise als identitätspolitisch neutral wahrgenommen.

Medienanbieter fahren eine ähnliche Strategie. Sie bereiten nicht nur Neuigkeiten auf, sondern deuten die Welt und sprechen dabei ein gewisses ideologisches Spektrum der Öffentlichkeit an. Die ideologischen Angebote von Medien und Politiker treffen auf eine entsprechende Nachfrage. Besonders in turbulenten Zeiten, wo sich geopolitischer Wandel, kulturelle Liberalisierungen, Immigration und rasche Digitalisierung die Hand geben, scheint die Bereitschaft, sich der Komplexität der Dinge zu stellen, tief und der Wunsch nach politischen und medialen Erklärbären, die eine kohärente, einfache Sicht der Dinge darlegen, besonders hoch. Anders lässt sich die besonders in den USA zu beobachten­de Selbstselektion in ideologische, demographische und religiöse Superstämme kaum erklären. Tribale Dynamiken werden von Bürgerinnen und Bürgern zusätzlich durch deren Heirats- und Fortpflanzungsstrategien zementiert: zumindest in den USA ist der Trend zu beobachten, dass in abnehmendem Masse über soziale Klassen hinweg geheiratet wird und sich entsprechend die sozioökonomische Stratifikation der Gesellschaft verfestigt.9

Demokratie und Wohlstand in Gefahr

Dass tribale Geister in der Politik ihr Unwesen treiben, ist nichts Neues. Doch wenn Stammesdenken verhindert, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen miteinander in Dialog treten, ist die Demokratie im Kern bedroht. Genau das ist im Moment in den Vereinigten Staaten zu beobachten, wo unterschiedliche Gruppen Sachverhalte teilweise so unterschiedlich wahrnehmen, dass man meinen könnte, sie lebten nicht auf demselben Planeten. Wenn das Vertrauen in die Medien und gar in die Autorität der Wissenschaften als neutrale Informationsvermittler verloren geht und stark polarisierte Medien wie Breitbart den Ton angeben, wird eine gemeinsame Entschlüsselung der Welt schwierig. Dann steht die Demokratie nicht nur vor dem Problem, dass hart um politische Lösungen gerungen wird, sondern dass schon nur die grundlegende Sachlage komplett unterschiedlich bewertet wird und jeder Stamm seinen eigenen epistemologischen Prozess unterhält.10 Ausser bei den Wahlen, wo sich die beiden Mannschaften sozusagen auf demselben Rasen gegenüberstehen, spielen sie den Rest der Saison in zwei unterschiedlichen Stadien vor komplett unterschiedlichen Publika.

Gemeinsame Identitäten lösen sich so auf und ein konstruktiver öffentlicher Diskurs kann kaum noch geführt werden. Je weiter die Interpretationen der Wirklichkeit von politischen und gesellschaftlichen Gruppen auseinanderliegen, umso härter tobt der Kampf um Status und Macht und umso wahrscheinlicher wird es, dass politische Konflikte als Nullsummenspiele wahrgenommen werden, in denen die Gewinner alles kriegen und die Verlierer nichts. Damit steht für alle beteiligten Gruppen wiederum mehr auf dem Spiel. Ein Teufelskreis droht, in dem gegenseitiges Vertrauen erodiert, politische Polarisierung weiter voranschreitet und Vertrauen in die Institutionen evaporiert. Empirische Evidenz, dass sich politische Polarisierung negativ auf zwischenmenschliches Vertrauen und Vertrauen in politische Institutionen auswirkt, gibt es aus den USA, Spanien und Portugal.11

Ökonomen konzeptualisieren gesellschaftliches Vertrauen als soziales Kapital.12 Soziales Kapital ist zwar nicht tangibel, aber sehr wertvoll. Je höher das gegenseitige Vertrauen in einer Gesellschaft oder je höher das Vertrauen in politische Prozesse und Institutionen ist, umso einfacher lässt es sich bilateral und kollektiv zusammenarbeiten. Je weniger Angst ich haben muss, vom Nächstbesten übers Ohr gehauen zu werden, umso weniger werde ich das Bedürfnis verspüren, mich gegen jegliche Eventualitäten rechtlich absichern zu müssen. Eine Abnahme an sozialem Vertrauen kommt also einer Zunahme von Transaktionskosten gleich. Zudem wiegen klassische Koordinationsprobleme umso weniger, je höher das gegenseitige Vertrauen ist: wenn ich darauf vertrauen kann, dass meine Mitbürger ihre Steuern bezahlen und ihre Umwelt sauber halten, habe ich einen grösseren Anreiz, das selbst auch zu tun. Damit nicht genug: soziales Vertrauen korreliert auch positiv mit Wirtschaftswachstum und Lebenszufriedenheit.13

Drei Ansätze für eine humane Identitätspolitik 

Die Tribalisierung und die Polarisierung der Politik gefährden also die Demokratie, das Sozialkapital und das Wohlergehen einer Gesellschaft. Dies stellt uns vor eine zentrale Frage: Wie können wir soziales Kapital schaffen, gemeinsame Identität fördern und dem Tribalismus in der Politik Einhalt gebieten, ohne in die paternalistische Trickkiste von Nativisten und Kollektivisten zu greifen und auf gemeinsame Herkunft und Glauben zu pochen? Nachfolgend werden drei Vorschläge gemacht.

1. Bildet emotional-intelligente Bürger aus und nicht nur produktive Arbeitsmaschinen!
Wenn wir in unseren Schulen nicht rigoros in Epistemologie, Logik, Empirie und Ethik geschult werden, laufen wir Gefahr, früher oder später Scharlatanen jeglicher Couleur zum Opfer zu fallen und in tribalistische Denkfallen zu tappen. Wir müssen in den Grundlagen des guten Denkens besser geschult werden, um als mündige Bürger konstruktive Lösungen für gemeinsame Probleme finden zu können. Ökonomisch gesprochen: klassische Humanbildung produziert positive Externalitäten. Es scheint ein bildungspolitischer Fehlgriff zu sein, immer stärker auf eine Ausbildung zu setzen, die rein auf die Arbeitsmarktfähigkeit der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet ist.

Zudem sollten wir endlich damit beginnen, unsere Kinder (und uns selbst) emotional zu schulen und ihnen die Werkzeuge zu geben, um mit der wunderbaren Bedeutungslosigkeit des Lebens umgehen zu können. Heute rennen wir erst im Notfall zum Psychologen. Institutionen, die uns dabei helfen, emotionale Intelligenz zu bilden, sind, abgesehen von esoterischen und klerikalen Wünschelrutengängern, rar – eine gute Ausnahme ist zum Beispiel Alain de Bottons «School of Life». Wenn es uns gelingt, emotionale Intelligenz und Resilienz aufzubauen, laufen wir weniger Gefahr, andere für unsere Misere und Hilflosigkeit verantwortlich zu machen. Emotionale Intelligenz sollte es uns erlauben, die Komplexität von Menschen mit anderer Gruppenzugehörigkeit besser zu verstehen und zu realisieren, dass wir andere weder mögen noch mit ihnen einverstanden sein müssen, um sie respektieren zu können.

2. Schafft (euch) Raum für Austausch!
Der Herausbildung von «Super-Tribes» à l’américaine kann Einhalt geboten werden, wenn öffentliche Räume bestehen oder geschaffen werden, in denen wir mit den Lebensrealitäten anderer Menschen konfrontiert werden. Wir sollten sicherstellen, dass wir uns nicht reibungslos in unsere eigenen Parallelwelten zurückziehen können. Politisch kann daraus der Schluss gezogen werden, dass es sich lohnt, sozial und ethnisch durchmischte Schulen und Wohnviertel zu fördern. Für uns Bürger gilt zudem: lasst uns unsere Filterblasen platzen! Es ist klar, dass die Nutzung sozialer Medien den Rückzug in eine Parallelwelt Gleichgesinnter einfach macht. Doch das Gegenteil ist genauso möglich! Folge aktiv Mitbürgerinnen, Politikerinnen, Denkern, mit denen du explizit nicht einverstanden bist. Versuche zu verstehen, weshalb sie denken, wie sie denken (mit Ausnahme natürlich der wirklich totalitären Ideologen, denen nicht mehr zu helfen ist)!

3. Fördert institutionellen Patriotismus!
Wenn wir unsere gemeinsame Identifikation nicht auf einen engmaschigen moralischen Wertekodex abstellen wollen, bietet sich die Möglichkeit, das Gemeinsame in den Institutionen zu suchen, die wir uns freiwillig geben, um unsere Probleme gemeinsam zu lösen.

In einer halbdirekten Demokratie wie der Schweiz fällt es vergleichsweise einfach, Verfassungspatriot zu sein. Die zahlreichen Möglichkeiten, sich in die Politik einbringen zu können, wirken identitätsstiftend. Schwieriger gestaltet es sich bei repräsentativen Demokratien, die ihre Bürger nur alle drei bis fünf Jahre an die Wahlurnen rufen. Für repräsentative Demokratien böte es sich an, sich aus dem Köcher der Instrumente der deliberativen Demokratie14 oder der Vielzahl moderner Formate direkter und indirekter Bürgerbeteiligung15 zu bedienen. Zudem sollten öffentliche Verwaltungen die Effektivität ihrer Politik rigoros messen, die Resultate transparent kommunizieren und ineffektive Politiken sistieren. Eine solche auf Wirksamkeit ausgerichtete Politik birgt Potential, das Vertrauen der Bürger in die Politik und ihre Institutionen zu stärken. Um institutionellen Patriotismus zu fördern und somit soziales Kapital zu bilden, ist es zudem unerlässlich, dass staatliche Institutionen den Wertepluralismus ihrer Gesellschaften auf Basis humanistischer Grundprinzipien so neutral wie möglich widerspiegeln und sich nicht zu Symbolpolitik verleiten lassen. Wenn zum Beispiel wie dieser Tage in Bayern wieder Kreuze an die Schulhauswände genagelt werden, verliert der Staat für alle Nichtchristen massiv an Legitimität.


1 Z.B. Henri Tajfel und John C. Turner: The Social Identity Theory of Intergroup Behavior (1979); Henri Tajfel: Social Psychology of Intergroup Relations. In: Annual Revue of Psychology 33 (1982). Die Ökonomie befasst sich erst seit letztem Jahrzehnt mit Fragen der Identität. Vgl. z.B. George A. Akerlof und Rachel E. Kranton: Identity Economics – How Our Identities Shape Our Work, Wages, and Well-Being. Princeton University Press, 2011.
2 Vgl. z.B. neue Buchpublikationen von Mark Lila (The Once and Future Liberal, 2017), Amy Chua (Political Tribes, 2018), Jonah Goldberg (Suicide of the West, 2018), Steven Pinker (Enlightenment Now, 2018).
3 Liliana Mason und Julie Wronski: One Tribe to Bind Them All: How Our Social Group Attachments Strengthen Partisanship. In: Advances in Political Psychology 39/51 (2018), S. 257–277.
4 Brian Helmuth, Tarik C. Gouhier, Steven Scyphers und Jennifer Mocarski: Trust, Tribalism, and Tweets: Has Political Polarization Made Science a «Wedge Issue»? In: Climate Change Responses 3:3 (2016).
5 Liliana Mason: A Cross-Cutting Calm: How Social Sorting Drives Affective Polarization. In: Public Opinion Quarterly 80/1 (2016), S. 351–377.
6 USA Today, 13. Mai 2018: We read every one of the 3,517 Facebook ads bought by Russians. Here’s what we found.
7 Rachel Wett und Rob Willer: Privilege on the Precipice: Perceived Racial Status Threats Lead White Americans to Oppose Welfare Programs. In: Social Forces 46 (2018).
8 Noam Gidron und Peter A. Hall: The Politics of Social Status: Economic and Cultural Roots of the Populist Right. In: The British Journal of Sociology 68/51 (2017), S. 57–84.
9 Matthew Stewart: The 9.9 Percent Is the New American Aristocracy. In: The Atlantic, Juni 2016.
10 David Roberts: Donald Trump and the Rise of Tribal Epistemology. In: Vox, 19. Mai 2017.
11 Vgl. Eric M. Uslaner: Congressional Polarization and Political Trust. In: The Forum 13/3 (2015), S. 361–373; Marc J. Hetherington und Thomas J. Rudolph: The Oxford Handbook of Social and Political Trust. Oxford University Press, 2018; Sergio Martini und Mariano Torcal: Trust across Political Conflicts: Evidence from a Survey Experiment in Divided Societies. In: Party Politics (2016), S. 1–14.
12 Soziales Kapital ist im engeren Sinne ein öffentliches Gut, d.h. ein Gut, von dem alle Bürger gleichzeitig profitieren und von dessen Genuss sie nicht ausgeschlossen werden können.
13 David Halpern: Social trust is one of the most important measures that most people have never heard of – and it’s moving. In: The Behavioural Insights Team (2015); Esteban Ortiz-Ospina und Max Roser: Trust. In: Our World in Data (2017).
14 Vgl. z.B. deliberative-democracy.net oder Center for Deliberative Democracy der Stanford University: cdd.stanford.edu
15 Vgl. z.B. die von den Grassroots-Think-Tanks foraus (CH), Polis180 (DE), Argo (FR) oder Agora (UK) verwendeten Methoden zur Einbindung von Bürgern in politische Prozesse.


Ivo Scherrer
ist Autor und arbeitet als selbständiger Ökonom zu Klima- und Energiefragen. Er ist Mitgründer der Grassroots-Think-Tanks foraus (CH) und Argo (FR) sowie der politischen Bewegung Operation Libero (CH).

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