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Spät oder zu spät?

Datenschutz ist längst kein Exotenthema mehr. Doch obwohl er in den Medien Präsenz geniesst, hat er am Stammtisch einen schweren Stand – dringt dafür aber zögerlich in Politstuben und Parlamentskammern vor. Nur: was kann ein Akteur, der selber Daten sammelt, zum Schutz der Privatsphäre beitragen? Ein Gespräch über ausbleibende Aufstände, irrationale Ängste und reale Gefahren im digitalen Zeitalter.

Spät oder zu spät?
Juli Zeh, photographiert von Benno Kraehahn / photoselection.

Frau Zeh, Sie leben in Deutschland. Fühlen Sie sich dort primär sicher oder primär überwacht?

Primär überwacht – und deshalb unsicher: Bei mir steigt das Gefühl der Unsicherheit mit der Überwachung an! Das ist jedoch kein deutschlandspezifisches Problem, mein Empfinden wäre heutzutage vermutlich an jedem anderen Ort der Welt das gleiche.

Um auf das Missverhältnis zwischen forcierter Kontrolle und suggerierter Sicherheit aufmerksam zu machen, haben Sie vor fünf Jahren zusammen mit Ilija Trojanow ein Buch verfasst, das mit den Worten endet: «Wehren Sie sich, es ist noch nicht zu spät.» Hat dieser Weckruf heute, da wir dank Snowden ahnen, wie umfassend allenthalben Daten gesammelt werden, noch immer Gültigkeit?

Ja, denn eigentlich hat sich dadurch nichts geändert. Beim Schreiben des Buches sind Ilija Trojanow und ich quasi schon von dem ausgegangen, was Snowden dann enthüllte – nur konnten wir es nicht hinschreiben, weil es nicht beweisbar war. Wir haben damals die zur Verfügung stehenden Informationen mit der Pinzette zusammengetragen, um zu veranschaulichen, was Überwachung bedeutet. Im Vergleich zu dem, was wir heute wissen, war unser Szenario fast schon brav. Grundsätzlich neu ist die heutige Sachlage aber nicht, und deswegen gilt der Satz noch immer – nein: Er gilt umso mehr!

Man hätte erwartet, dass der Skandal die Öffentlichkeit für Ihre Thematik sensibilisiert, tatsächlich ist doch aber wenig Aufruhr zu bemerken. Während die Leute gegen Tiefbahnhöfe auf die Barrikaden gehen, vermag der Datenschutz kaum jemanden hinter dem Ofen hervorzulocken. Wie erklären Sie sich dieses Desinteresse?

Es ist doch schon enorm viel geschehen in den letzten Jahren! Vor Snowden war der Datenschutz ein veritables Exotenthema; wer sich damit befasste, galt als Alarmist. Jetzt aber kommen Meldungen zur geplanten Überwachung von Facebook schon im Supermarktradio. Dass die Bürger nicht millionenweise protestieren, heisst nicht, dass sie nichts verstanden haben. Vielmehr heisst es, dass sie nicht wissen, was sie überhaupt fordern sollen. Beim Bahnhof ist die Sache einfach und konkret: Das Ding steht einem vor der Nase, und man wehrt sich gegen seinen Bau. Beim Datenschutz hingegen fällt es schon schwer, einen Gegner zu identifizieren oder Forderungen zu formulieren. Das Thema ist abstrakt, diffus und komplex – bis es zu Demonstrationen für ein Datenschutzsiegel kommt, ist es deshalb ein weiter Weg.

Das ist die hoffnungsfrohe Sichtweise. Aus anderer Perspektive erscheint die Abstinenz einfach als Indifferenz. Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist zu beobachten, wie die Öffentlichkeit intimisiert respektive das Private enttabuisiert wird. Ist den Menschen also vielleicht schlicht egal, wer was von ihnen weiss, oder anders gefragt: Ist Ihr Kampf für die Privatsphäre möglicherweise ein unzeitgemässer?

Ich bin absolut überzeugt, dass niemand, wirklich niemand es toll findet, keine Privatsphäre zu haben. Viele Leute sind garantiert resigniert oder haben so dermassen keine Vorstellung davon, was eigentlich passieren soll, dass sie sich einfach am liebsten gar nicht mit dem Thema befassen. Das heisst aber nicht, dass die Privatsphäre für sie keine Relevanz besitzt. Wenn es darum ginge, etwas gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen, würde ich mich nie für die Sache engagieren. Ein persönliches Minderheitenkonzept umzusetzen, wäre völliger Unsinn.

Viele Menschen sind aber bereit, Teile dieser Privatsphäre gegen einen «Gewinn» herzugeben und sich ein bisschen durchleuchten zu lassen, um dafür auf Facebook mit der ganzen Freundesschar kommunizieren oder im Supermarkt dank Treuepunkten verbilligt Bettlaken kaufen zu können.

Wenn diese Haltung eine bewusste Entscheidung des Verbrauchers ist, will ich dagegen auch gar nichts unternehmen: Jeder soll seine Privatsphäre genau so handhaben, also auch preisgeben können, wie er will. Nur: damit der Verbraucher eine mündige Entscheidung treffen kann, muss er über die Konsequenzen seines Tuns Bescheid wissen, und hier liegt das Problem. Ich bin mir ganz sicher, dass die Leute anders mit ihren Daten umgehen würden, wenn sie wüssten, was damit angestellt wird. Es gibt dabei zwei Seiten. Zunächst die merkantile: alle Daten sind Geld wert. Wäre den Nutzern klar, dass der Chat, den sie seit einem Jahr unterhalten, 10 000 Euro einbringt, wenn er ausgewertet und einem Unternehmen verkauft wird, so wären sie kaum mehr einverstanden damit, diese Informationen einfach preiszugeben. Das gilt auch für die andere Seite: Daten, die wir heute irgendwo plazieren, auf Facebook zum Beispiel, können Jahre später darüber entscheiden, ob wir einen Kredit bekommen – wenn die Bank bei einer Auskunftei einen Scoring-Wert einkauft, der sich unter anderem auf die Analyse unserer im Internet verwendeten Grammatik stützt. Falls nun jemand im vollen Wissen um diese Prozesse sagt: Mir egal, ich will trotzdem das verbilligte Laken, dann ist dagegen natürlich überhaupt nichts einzuwenden.

Was es braucht, ist also eine Aufklärung, die die Menschen aus ihrer digitalen Unmündigkeit herausführt?

Ja, genau darum geht es.

Sie selbst ergreifen ja zwar gut vernehmlich, aber mit einem doch eher herkömmlichen Mittel das öffentliche Wort, indem Sie Aufrufe und Protestbriefe in Zeitungen publizieren. Wenn aber kaum mehr jemand Zeitung liest, wie man hört, so bringt das vermutlich herzlich wenig. Auf welchem Weg könnte eine breitenwirksamere Sensibilisierung stattfinden?

Als Schriftstellerin ist es für mich naheliegend, mich in feuilletonistischer Form zu äussern. Sicher gäbe es alle möglichen anderen Formen, aber ich glaube eigentlich nicht, dass sich der Protestprozess modernisieren muss. Die eigentliche Aufklärungsarbeit muss meiner Meinung nach die Politik leisten, und an die trete ich ja nicht nur mit einem herkömmlichen Mittel, sondern auch mit einer ganz altmodischen Forderung heran: Ich verlange eine Intervention des Staates, damit im digitalen Raum Markt- und Rechtsgleichgewichte hergestellt werden.

Die Politik soll’s richten. Adressiert haben Sie sie in Gestalt von Kanzlerin Merkel. Hat sie je auf Ihre Interventionen reagiert?

Nein, ich habe nie etwas von ihr gehört. Sie fährt ja beim Datenschutz die genau gleiche Strategie wie bei allen anderen Themen und versucht, die Dinge möglichst lange durch komplettes Schweigen und totale Kommunikationsverweigerung von sich fernzuhalten.

Man könnte doch, etwa beim Kommunikationsverhalten, auch an die Eigenverantwortung appellieren und darauf vertrauen, 
dass die mündigen Bürger sagen: Bei diesem Spiel mach ich nicht mit. Sind Sie bei Facebook?

Ja, und gerade das ist auch eine politische Entscheidung. Wenn jeder Selbstzensur betreibt und sich absentiert, dann nutzen wir die positiven Möglichkeiten der Technologie nicht mehr. Das kann nicht Sinn und Zweck sein. Wenn Politiker sagen: «Wer nicht abgehört werden will, soll halt auf Social Media verzichten», so ist das absolut naiv, denn man kann sich ja nicht einfach aus dem Kommunikationszeitalter verabschieden, das Handy wegwerfen und sich ans Lagerfeuer zurückziehen. Das wäre das Ende unserer gesellschaftlichen Existenz. Und weil sich die Unternehmen logischerweise nicht selber regulieren und freiwillig ihre Erwerbschancen beeinträchtigen, muss die Politik das leisten – ich bin kein Politik-Fan, aber hier muss sie tätig werden. Es geht ja letztlich um simple Verbraucherschutzrechte, wie sie beispielsweise im Supermarkt, wo auf den Verpackungen steht, was drin ist, ganz selbstverständlich sind. Und so einfach ist auch die Prämisse, der ethische Grundwert, der im Informationszeitalter durchzusetzen wäre: die Datensouveränität des einzelnen.

Was heisst das?

Das heisst: Daten, also persönliche Daten, gehören dem, der sie erzeugt. Und sonst niemandem. Genauso wie auch ein Bild, das ich male, oder ein Photo, das ich mache, mir gehört. Das ist zwar rechtlich jetzt schon so, aber es wird eben nicht umgesetzt und in unserem politischen und gesellschaftlichen Leben nicht implementiert. Wenn man nun alles daransetzen würde, diese Prämisse rechtlich abzusichern, egal ob im Verbraucherschutzbereich oder gegenüber den Geheimdiensten – dann wäre eigentlich alles getan.

Was bräuchte es denn konkret, um diese Datensouveränität durchzusetzen, sind dafür spezifische Institutionen oder Mechanismen zu schaffen?

Das ist ungefähr so, wie wenn Sie mich vor 50 Jahren gefragt hätten, was denn getan werden müsse, um die Umwelt zu retten. Die Frage spielt in sämtliche Lebensbereiche hinein, und entsprechend wird es Institutionen und Prüfstellen aller Couleur brauchen, ja. Die Datensouveränität muss zu einem Querschnittsthema werden, das in jedem Ressort, bei jeder Reform und bei jedem Gesetz, das erlassen wird, immer mit dabei ist. So wie wir bei einem neuentwickelten Auto prüfen, ob es umweltverträglich ist, müssen wir dazu kommen, bei jedem neuen Produkt im digitalen Bereich, sei es der selbstbestellende Kühlschrank oder das blutdruckmessende Bett, ganz selbstverständlich danach zu fragen, ob es die Datensouveränität respektiert. Und wenn es das nicht tut, wird es nicht zugelassen.

Das setzt freilich einen Konsens voraus – nämlich, dass niemand dieses vielleicht datensouveränitätsverletzende, aber möglicherweise wahnsinnig bequeme blutdruckmessende Bett haben will.

Dieser Konsens ist da. Natürlich, im Einzelfall ist mit einer oberflächlichen Betrachtung immer zu begründen, weshalb so ein Ding eine gute Sache ist. Wenn man einem Menschen sagt: Du wirst nicht mehr krank, wenn du ab jetzt alle fünf Minuten deinen Blutdruck messen und die Resultate an die Krankenkasse schicken lässt, dann mag ihm das Blutdruckbett vielleicht gefallen. Sobald derselbe Mensch aber realisiert, dass die Krankenkasse ihm im Gegenzug vorgibt, wie viel Kaffee er pro Tag trinken darf, damit seine Prämie nicht steigt, wird sein Interesse weg sein. Kurz: die Leute wollen bequeme Produkte, aber sie wollen ihre Freiheit behalten. Man sieht das in Kino und Literatur: Der Überwachungsstaat ist in jedem Thriller eine Horrorvision und kein Wunschtraum.

Wenn das so ist, müssten die fraglichen politischen Prozesse recht mühelos in Gang zu setzen sein. Tatsächlich aber sind kaum konkrete Schritte zu erkennen. Wieso hinkt die Politik den Entwicklungen derart hinterher? Sind die älteren Damen und Herren nicht auf der Höhe der Zeit?

Zu Teilen stehen wir tatsächlich vor einem Generationenproblem. Viele Politiker sehen das Internet immer noch als Spezialwelt und verstehen nicht, dass in diesem Raum ganz normale, schutzbedürftige Rechtsgeschäfte ablaufen. Obschon wir noch quasi bei null stehen, bin ich aber zuversichtlich. Immer wieder haben Technologien grundlegende Veränderungen gebracht, und nach einigen Anlaufschwierigkeiten ist es immer gelungen, sie zu domestizieren. Bis eine Sozialgesetzgebung da war, hat es ja nach Erfindung der Dampfmaschine auch eine Weile gedauert. Die Informationstechnologie ist eine Umwälzung vergleichbaren Ausmasses, und auch ihre Verwerfungen werden sich regeln lassen.

Indes bleibt im Fall der Informationstechnologie die Frage, ob die Politik der geeignete Hebel ist, um ihre Auswüchse zu bekämpfen – wo sich der Staat doch auch selbst als Datensammler betätigt! Man braucht ihm ja nicht gleich böse Absichten zu unterstellen, sondern kann nüchtern feststellen, dass er – wie viele Unternehmen – dem Prinzip der Redundanz folgt und also möglichst viele Informationen über seine Bürger sammelt, um möglichst präzise Prognosen zu ihrem Verhalten machen zu können. Wenn der Staat aber demnach selbst im Fahrwasser der technologischen Umwälzung operiert, wie soll er diese dann regulieren können oder wollen?

Das ist in der Tat das ganz grosse Problem: Es gibt einen unheiligen Schulterschluss zwischen Ökonomie und Staatsverwaltung. Ich rede jetzt nicht vom «Staat» mit seinen Geheimdiensten und Regierenden, sondern schlicht und ergreifend vom mittleren Verwaltungsaufbau. Dem spielt die ganze Entwicklung gewaltig in die Hände: Der Ministerialbeamte, der für die Planung des Kinderbetreuungsangebots verantwortlich ist, träumt ja davon, zu wissen, wie viele Kinder welchen sozialen Hintergrunds in den nächsten zehn Jahren wo geboren werden. Je mehr er weiss, desto besser kann er seine Verwaltung darauf ausrichten. Wenn jetzt also irgendwelche Lobbyisten von Google den Politikern erklären, welch tolle Tools sie ihnen in Zukunft anbieten können, dann fällt das bei den Zuhörenden auf fruchtbaren Boden.

Als realistische Pessimistin würde ich sagen, dass es vor dem Hintergrund dieser ineinander verwachsenen Sphären eher hoffnungslos ist, noch irgendetwas ausrichten zu wollen.

Ich bin anderer Meinung. Aus meiner Sicht ist Politik nicht dasselbe wie Evolution, sondern etwas, in das der menschliche Wille eingreifen kann. Wir können den Staat durchaus dazu zwingen, wieder in eine antagonistischere Position zur Wirtschaft zu treten.

Ich bleibe skeptisch, denn den Aktivitäten des Staats stehen die Bürger doch noch viel unkritischer gegenüber als jenen 
von privaten Firmen – dass die Politiker Daten erheben, um die Hortplätze passgenau zu planen, dürften viele gar begrüssen. 
Ist es paranoid, vor dem Sammeltrieb des Staats zu warnen, oder ist es naiv, das nicht zu tun?

Es ist total naiv, hier die Gefahren nicht zu sehen. Wir haben in Europa mehrere Totalitarismen hinter uns, die ihre Systeme allesamt auf Überwachen, Datensammeln und Selektion stützten. Auch in jeder anderen Diktatur der Welt kann man sich das vor Augen führen. Es funktioniert immer so, dass Menschen bis in ihr Denken hinein überwacht werden und dass man dann versucht, staatsfeindliches oder irgendwie abweichlerisches oder auch nur unangenehmes Denken zu identifizieren, um diese Leute dann selektieren und im Zweifel aus ihrem Umfeld herausreissen und einsperren oder umbringen zu können. Das ist so offensichtlich, dass es mir sehr schwerfällt zu verstehen, warum die Leute darauf nicht sensibler reagieren. Wenn man sagt, die Gefahr, dass sich die Macht dereinst gegen uns wende, drohe auf gar keinen Fall, dann heisst das eigentlich, dass man glaubt, die Demokratie funktioniere auf ewig reibungslos.

Tatsächlich dürften viele Menschen genau davon ausgehen und sich in einem gewissermassen nachgeschichtlichen Zustand wähnen.

Absolut. Und wenn man etwas anderes sagt, denken die Leute, man wolle die Gespenster der Vergangenheit wieder heraufbeschwören – dabei geht es darum, neue Gespenster zu erkennen! Vielleicht passiert der nächste Machtmissbrauch gar nicht durch den Staat, sondern durch einen Konzern oder das Militär; wir können das nicht vorhersehen, aber was wir aus Erfahrung wissen, ist, dass das Akkumulieren von Macht irgendwann kippt. In Deutschland mag das Gefühl der Postgeschichte auch damit zu tun haben, dass wir Geschichte so sehr als Vergangenheitsbewältigung betrieben haben, dass man sie zwangsläufig als etwas sieht, von dem man sich gelöst und entfernt hat, um in eine bessere, ja konstant gute Richtung aufzubrechen.

Seltsam ist nur, dass in dieser guten Nachgeschichte allenthalben Angst herrscht. Wenn verschiedene Überwachungstechniken hingenommen werden, dann häufig mit dem Verweis, dass sie notwendig seien, um Sicherheit zu schaffen: Wir scheinen in einem Präventivdenken verhaftet, das möglichst alle Unwägbarkeiten und Unsicherheitsfaktoren ausschalten will.

Das Sicherheitsargument wird zwar nur noch sehr verschämt vorgebracht, seit klar ist, dass wir es seitens der Staaten mit systematischer Massenüberwachung zu tun haben und es dabei um das militärische Aufteilen von künftigen digitalen Schlachtfeldern geht. Aber es stimmt schon: Wir haben tatsächlich eine zeitgeistige Mentalitätsverschiebung durchgemacht und angefangen, das Ideal der Freiheit immer weiter hinter das Ideal der Sicherheit zurückzustellen; die Leute sind immer weniger bereit, ihr eigenes Leben als Risikogeschäft zu betrachten. Während in den 1960er oder ’70er Jahren das Roadmovie quasi als Lebenskonzept galt, das Risiko das Salz in der Suppe und der Rebell mit der Zigarette im Mundwinkel der Held der Jugend war, trachtet die Jugend heute danach, einen möglichst gefahrenfreien Weg vorgezeigt zu bekommen. Das Roadmovie ist definitiv zu Ende.

Wo auf der Zeitachse würden Sie die Verschiebung verorten?

Das ist schwierig zu verallgemeinern, ich kann nur sagen, dass ich noch in den 1990er Jahren in einer fast schon euphorischen Aufbruchsstimmung gebadet habe. Kurz nach der Wende war da ein optimistisches Grundgefühl; man hat Parties gefeiert und sich irgendwie frei und glücklich gefühlt. Der 11. September wurde dann als Widerlegung dieser Zukunftsgläubigkeit wahrgenommen, als Beweis, dass alles ein Irrtum war. Ich habe das überhaupt nicht verstanden, und es ist auch total irrational: Natürlich war der 11. September eine Katastrophe, aber seine Auswirkungen waren im Grunde rein metaphorischer Natur. Es hat sich faktisch nichts geändert – es sind seither nicht mehr Menschen durch Terroranschläge ums Leben gekommen als vorher –, nur in den Köpfen ist sehr viel passiert.

Die irrationalen Ängste werden auf allen Seiten heraufbeschworen. Nur, wer profitiert denn eigentlich davon?

Die Firmen, die Überwachungstechnik herstellen! Es gibt immer schlaue Leute, die die Gunst der Stunde erkennen, und wenn ein Unternehmen merkt, dass plötzlich alle einen Rauchmelder in der Wohnung haben wollen, dann wird es die produzieren. Natürlich entstehen dadurch Teufelskreise, denn es gibt einen erwiesenen Zusammenhang: Je mehr Sicherheitstechnologie eingesetzt wird, desto grösser wird die Angst. Der Firma kann man ihr Vorgehen aber nicht vorwerfen. Höchstens kann man neidisch sein, dass man nicht selber begonnen hat, Rauchmelder herzustellen.

Stimmt. Trotzdem bleibt unverständlich, woher deren Erfolg ursprünglich rührt. Wer ausser den Rauchmeldern heizt unsere Angst an? Wir leben in den nachweislich sichersten Zeiten seit Menschengedenken, wieso sehen wir ausgerechnet jetzt überall Gefahren?

Ich glaube, die Frage nach dem «Wer» ist nicht zu beantworten, denn ich habe nicht das Gefühl, dass es Triebkräfte gibt, die die Ängste wirklich bewusst stimulieren. Erklären kann ich mir das alles nur mit einer fast schon psychoanalytischen These, die ich einmal aufgestellt, aber noch nie mit einem Fachmann besprochen habe. Vielleicht ist es aber doch so, dass es in der menschlichen Seele ein immer gleich bleibendes Potential an Angst gibt, und entweder wird diese Angst durch konkrete Bedrohungen gebunden – beispielsweise durch den befürchteten Atomschlag im Kalten Krieg –, oder sie wird das eben nicht und verwandelt sich stattdessen in eine Art frei flottierende Masse; in einen Soundtrack, der alles untermalt, so dass auf einmal alles ein bisschen angstdurchsetzt ist.

Die Politik greift die frei flottierende Masse Angst dann auf und bewirtschaftet sie – mit welchen Konsequenzen für die Beziehungen zwischen den Bürgern und ihrem Staat?

Um über konkrete Auswirkungen zu reden, ist es noch etwas früh, aber klar ist, dass man mit Überwachungen ein Klima des Misstrauens schafft! Denn diesem Vorgehen liegt ja ein Menschenbild zugrunde, das nicht mehr davon ausgeht, dass wir grundsätzlich friedliche und einander wohlgesonnene Wesen sind. Vielmehr kommunizieren die Überwachungsmassnahmen ein Menschenbild, das an den Hobbesschen Leviathan denken und also glauben lässt, dass der Mensch unter ständiger Kontrolle stehen müsse. Sicher färbt das auch auf das Verhältnis der Menschen untereinander ab. Wenn man in jedem Mitbürger eine Gefahr sieht, vergiftet das die Gesellschaft auf Dauer. Tatsächlich aber leiden die Leute ja unter dem latenten Angstgefühl, denn was sie eigentlich wollen, ist das Gegenteil von Angst: Lebensqualität. Die wahnhaften Ängste als solche erkennen und entkräften kann man am besten mit einer ganz konservativen Strategie: Indem man über sie redet. So wie wir eben.

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