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Sonnenuntergang für die Altersvorsorge

Scheitern bei der Reform der Altersvorsorge ist politisch opportun, weil es den Status quo beibehält. Ein Verfallsdatum für deren politische Eckwerte könnte aus der Sackgasse führen.

Der 25.Juni 1995 war ein Sonntag. An der Urne wurde mit knapp 61 Prozent Ja-Stimmen die 10. AHV-Revision angenommen. Sie brachte unter anderem einen individuellen Renten­anspruch für Frauen und Männer, die Witwerrente sowie eine schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters auf 64 Jahre. 

Nötig war die Revision gemäss Abstimmungsbüchlein, weil die AHV «ständig den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen angepasst werden» muss. Seit diesem Abstimmungssonntag, also seit notabene 23 Jahren, ist jeder Versuch, die Schweizer Altersvorsorge erneut zu reformieren, gescheitert: Die 11. AHV-Revision erlitt 2004 vor dem Volk und in neuer Auflage 2010 im Nationalrat Schiffbruch. Die Reduktion des BVG-Mindestumwandlungssatzes scheiterte sowohl 2010, als sie alleine lanciert wurde, als auch 2017 im Rahmen des grossangelegten Reformprojekts «Altersvorsorge 2020».

Scheitern als Option

Jede dieser nicht geglückten Anpassungen hat aus heutiger Sicht zweierlei Konsequenzen: Auf der einen Seite geht die Schere zwischen den genannten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen sowie den tatsächlichen Parametern der Altersvorsorge immer weiter auf. Das macht eine Reform immer dringender. Auf der anderen Seite zementiert jede gescheiterte Revision den Status quo, da sie automatisch eine Fortführung der bisherigen Werte zur Folge hat und diese damit immer stärker in den Köpfen verankert. Das macht eine Reform immer schwieriger.

Wer also auch immer in diesem Land einen neuen Vorschlag für eine Rentenreform macht, weiss, dass sich die politischen Gegner nur darauf einlassen werden, wenn die neue Lösung auch aus ihrer Sicht eine Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellt. Meist müssen daher viele Kompromisse eingegangen werden – gerade wenn das eine politische Lager den Status quo im Vergleich zur angestrebten Stossrichtung der Reform gar nicht so unattraktiv findet. Sind es zu viele Kompromisse, sinkt wie­derum die Lust des anderen politischen Lagers, sich für diese Reform überhaupt noch entschieden einzusetzen. Die Frage, ob die Altersvorsorge noch den «sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen» entspricht – was ja eigentlich die Triebfeder für eine Reform sein sollte –, tritt hingegen in den Hintergrund. Stattdessen wird Scheitern zur valablen Option. 

Die schönsten Blüten dieses Spiels zeigten sich nicht nur im Abstimmungskampf des vergangenen Sommers («lieber keine Reform als diese»), sondern sind auch in den aktuellen Reformvorschlägen erkennbar. So mag beispielsweise die Verknüpfung zwischen der Erhöhung des Frauenrentenalters und der Forderung nach Lohngleichheit politisch opportun sein. Technisch ist sie aber ungefähr so sinnvoll, wie die Rentenhöhe an den Preis eines Bitcoins zu binden. Ob aus derartigen Ideen eine mehrheitsfähige Vorlage entsteht, wird sich zeigen. Ebenso unsicher ist das Ergebnis aus dem bundesrätlichen «Buebetrickli», im BVG die Sozialpartner an einen gemeinsamen Tisch zu zwingen. Das Traurigste an der Geschichte ist aber, dass es selbst nach einer erfolgreichen Reform in gleicher Art und Weise weiterginge: Auch dann würde der Gesetzgeber wieder beim Status quo starten und nach einem neuen Kompromiss suchen, der jedoch zuerst teuer zu erkaufen wäre.

Sunset-Legislation als Lösung

Man mag nun einwenden, dass dieses Vorgehen dem Wesen der Schweizer Politik entspreche und der Kompromiss genauso wie der Kuhhandel zum Repertoire gehöre. Damit verkennt man aber, dass uns diese Methode seit über zwei Jahrzehnten und vier gescheiterten Versuchen zum Stillstehen zwingt. Immer wieder das Gleiche zu tun und dabei ein anderes Ergebnis zu erwarten: das beschrieb Albert Einstein bekanntlich als Irrsinn. Dabei läge eine sinnvolle Alternative schon seit langem auf dem Tisch: Bereits 1816 äusserte der amerikanische Präsident Thomas Jefferson in einem Brief die Idee, Gesetze mit einem automatischen Ablaufdatum zu versehen.1 Heute ist dieses Vorgehen als Sunset-Legislation bekannt.

Selbstverständlich lässt sich das Konzept nicht unbesehen auf die schweizerische Altersvorsorge übertragen. Ein simples Auslaufen der gesetzlichen Grundlagen hätte unter Umständen den Verlust einer der grössten Errungenschaften der Schweizer Sozial­politik zur Folge. Zudem wäre auch in diesem Fall immer wieder ein Kompromiss notwendig, um eine neue, mehrheitsfähige Reform zu ermöglichen. Entscheidend für den Sunset-Charakter ist daher vielmehr das automatische Auslösen einer Fallback-Lösung. Das heisst, der Gesetzgeber versieht nicht die gesamte Gesetzesgrundlage, sondern nur die Leistungsparameter der Altersvorsorge mit einer Frist. Nach Ablauf dieser Verfallszeit tritt ein automatischer Mechanismus in Kraft, der nur durch einen neuen Beschluss mit entsprechenden Mehrheiten vermieden werden kann. Gelingt kein Kompromiss oder kommt dieser in einer späteren Runde nicht zustande, greift die Fallback-Strategie. Um diese konkret umzusetzen, müssen erste und zweite Säule unbedingt koordiniert werden, da beispielsweise beim Rentenalter Interdependenzen auftreten. Sie werden nachfolgend somit nur der besseren Übersicht wegen getrennt dargestellt.

Für die AHV gleicht die Sunset-Legislation der automatischen Schuldenbremse, wie sie im Rahmen der Beratung zum Reformpaket Altersvorsorge 2020 bereits im Parlament diskutiert worden ist: Nach Ablauf der Gültigkeitsfrist wird die finanzielle Gesundheit der AHV überprüft, wozu beispielsweise das aktuelle Umlageergebnis sowie der Stand des Fonds dienen können. Droht eine Schieflage und gelingt im Parlament keine alternative Reform, setzen sich automatisch zwei Hebel in Kraft: Der AHV fliessen mehr Beiträge zu und weniger Leistungen ab. Die zusätzlichen Beiträge können entweder aus direkten Abgaben (AHV-Beiträge) oder aus einem Zustupf seitens der Mehrwertsteuer kommen. Leistungskürzungen wären beispielsweise durch einen ausbleibenden Teuerungsausgleich möglich. Mit einer Erhöhung des Rentenalters werden beide Hebel gleichzeitig bedient, indem die Beitragsdauer steigt und die Leistungsbezugsdauer sinkt. Um die Lasten möglichst breit zu verteilen, empfiehlt es sich, gleichzeitig mehrere Ansatzpunkte auszuwählen, wobei sich der Umfang insbesondere am Fehlbetrag der AHV-Rechnung orientieren sollte.

In der zweiten Säule betrifft der Sunset-Charakter ebenfalls die Leistungsparameter, wozu neben dem Umwandlungssatz insbesondere das Rentenalter, die Beitragssätze sowie die jährlich zu bestimmende Verzinsung gehören. Diese Werte sind im BVG-Obligatorium bekanntlich als Mindestparameter festgesetzt, entsprechend stehen zwei Varianten als Fallback-Lösung zur Auswahl: Entweder werden die Parameter durch versicherungsmathematisch korrekte Werte ersetzt oder sie fallen ganz dahin. Im ersten Fall würde das Rentenalter aus der ersten Säule übernommen und der Umwandlungssatz, der das vorhandene Sparkapital in die jährliche Rente umrechnet, würde so festgelegt, dass er den aktuel­lsten statistischen Grundlagen für Demographie und Renditeerwartung entspricht. Nachteilig an dieser Variante ist jedoch, dass die notwendigen Grundlagen zentral festgelegt und für alle Pensionskassen angewandt werden müssen. Dem individuellen Risikoprofil könnte daher nicht Rechnung getragen werden. Im zweiten Fall stünde den Vorsorgeeinrichtungen die Wahl der Werte grundsätzlich frei. Sie könnten damit kassenindividuell festgelegt werden, so wie das schon heute für das Überobligatorium getan wird. Dieses Vorgehen entspricht somit einer Zwangsliberalisierung für den Fall, dass sich die Politik nicht zu einer mehrheitsfähigen Alternative durchringen kann. Um Missbräuche zu verhindern, müssten auch in dieser Variante Zwangsversicherung und Mindestbeitragssätze vorgeschrieben werden. Zudem wären flankierende Massnahmen notwendig, um beispielsweise eine abrupte Leistungsreduktion zu verhindern.

Vergänglichkeit der Parameter

Die Idee der Sunset-Legislation muss also verfeinert und auf den Sachverhalt der Altersvorsorge angepasst werden. Mit der Befristung der Leistungsparameter wird aber nicht nur ein weiterer Stillstand bei zukünftigen Reformen verhindert, sondern auch die Vergänglichkeit dieser Werte begreifbar gemacht. Die eigentlich offensichtliche Tatsache, dass sich ökonomische und demographische Entwicklungen, ähnlich wie das Wetter, nur beschränkt voraussagen lassen, geht bei der Altersvorsorge regelmässig vergessen. Nur so lässt sich erklären, dass beispielsweise bei Pensionskassenvergleichen der Umwandlungssatz als entscheidungsnützliches Kriterium für 30- oder 40-Jährige herangezogen wird. Bei den Versicherten führt dies oftmals zu einer Vollkaskomentalität, wodurch zum Beispiel Anpassungen der Leistungs­parameter als unrechtmässiges Wegnehmen (um nicht das Unwort «Rentenklau» zu benutzen) empfunden werden. Dass man aber aus technischer Sicht einen Umwandlungssatz guten Gewissens höchstens für einige Jahre festlegen kann, wird gerne ignoriert. Schliesslich macht es der Gesetzgeber bisher auch nicht anders. 


1 Thomas Jefferson: Jefferson: Writings. New York: Penguin Random House, 1984.


Lukas Müller
ist Assistenzprofessor für Management und Regulierung am Institut für Accounting, Controlling und Auditing der Universität St. Gallen.

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