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Somnoproxy

Kurzgeschichte von Stuart Evers.
Aus dem Englischen übersetzt von Anna-Christin Kramer.
Mit Illustrationen von Johan Keslassy.

Somnoproxy

Die dritte Hotelsuite des Tages überblickte den Hafen im Westen. Das Panoramafenster gab den Blick frei auf die Boote und Yachten in der Marina, im Hintergrund ragten die Minarette und Telefonmasten der Altstadt auf. Keine Vorhänge oder Jalousien, stattdessen ein in die Wand eingelassenes Bedienfeld. Routh tippte ein Icon an, und die Boote und Kuppeln verschwanden. Er tippte noch einmal darauf, und Minarette und Telefonmasten kamen wieder zum Vorschein. Da, weg, ein langsam blinzelndes Auge. Hätte er nicht andere Verpflichtungen gehabt, Routh hätte sich stundenlang im Bademantel mit dem Fenster beschäftigen können. Was es alles zu sehen gab, was er alles verpassen würde. Er strich ein letztes Mal über das Bedienfeld. Der Hafen im Abendlicht wirkte lebhaft. Er streifte den Bademantel ab und ging ins Bad.

Die Wanne war nierenförmig und hatte die Farbe von Schafsmilch, die Wände sahen aus wie mit Feuerstein gefliest. Die Dusche bot Platz für zwei, die Wanne für drei. Hier ging das Panoramafenster nach Osten über das Geschäftsviertel mit seinen rot blinkenden Türmen und grellweiss leuchtenden Fenstern, die Namen der Bankhäuser so gross wie Kathedralen. Routh drehte den Hahn zu und stieg in die Wanne. Schaum, so viel Schaum, davon träumte jedes Kind. Routh schloss die Augen. Entspannte sich. Die anderen Suiten – im Juniper Sky Hotel sowie im «Clavier» – hatten ihn enttäuscht: Die Einrichtung im «Juniper» war für Menahs Geschmack zu überladen, die Zimmer im «Clavier» merkwürdig schmal geschnitten. Das «Excelsior» jedoch würde ihre Erwartungen erfüllen. Er konnte Menah vor sich sehen, wie sie den Bademantel auszog, ins Wasser glitt, sich zurücklehnte und die Augen schloss.

Nach neunzehn Minuten stieg Routh aus der Wanne. Die Schlüssel zum Erfolg sind Übung und Routine. Menah verbrachte höchstens neunzehn Minuten in der Wanne, mindestens jedoch sechzehn. Vor Jahren hatte er sie gebeten, ihre Badezeiten zu messen. Ihre unbewusste Beständigkeit hatte sie überrascht, doch er hatte ihr erklärt, das sei normal, wir wüssten nichts über die Gesetze, an die wir uns unbewusst hielten: das innere Timing, die Regeln, denen es folge. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte er ihr gegenüber von vielen Dingen behauptet, sie seien normal, obgleich er bei den meisten vom Gegenteil überzeugt war.

Er trocknete sich mit einem weichen weissen Handtuch ab. Im Ankleidezimmer zog er die Sachen an, die Menah ihm gekauft hatte: teure, aber schlichte Unterwäsche, einen kobaltblauen Massanzug, ein Hemd aus edlem Twill. Einmal war Routh von einem reichen Mann gefragt worden, wessen Hemden er trüge. Routh grinste nur. Der Reiche lachte.

«Behalten Sie Ihr Geheimnis eben für sich, mein Freund», hatte er gesagt. «Aber eins kann ich Ihnen versprechen, irgendwann finde ich es doch raus. Am Ende finde ich es immer raus.»

Eine Zeitlang hatte Routh über den Reichen und seine Hemdensuche nachgedacht. Wie es ihm dabei wohl ergangen war. Welche Anstrengungen er womöglich unternommen hatte. Aber inzwischen erinnerte er sich kaum noch an ihn oder an den Ort ihrer Begegnung. Wenn er sich heute ein Hemd anzog, dachte er ausschliesslich an Menah. Die Manschettenknöpfe waren ein Geschenk gewesen, ein Päckchen, das ihm unerwartet an einem Flughafen überreicht worden war. Onyx in Weissgoldfassung. Cartier. Während er sie in die Manschetten steckte, dachte er an Menah. Nur ein Hauch von einem Gedanken, er glich eher einem Kuss. Die Schlüssel zum Erfolg sind Übung und Routine.

Anschliessend fuhr Routh mit dem in der Suite gelegenen Aufzug nach unten in die Cocktailbar. In guten Hotels weiss man, dass die Zimmer den Eindruck vermitteln müssen, sie wären für eine einsame Nacht geplant und hergerichtet worden, während die Bars Geschichte atmen sollten, egal wie neu sie sind: eine Atmosphäre dezenter Verschwiegenheit. Die Türen glitten auf, dahinter die perfekte Nachbildung eines New Yorker Speakeasy. Der jahrzehntealte Duft von Zigarrenrauch, Zedernholzparfüm und Bienenwachspolitur war ebenso überzeugend wie die dunkle Walnussvertäfelung, die mit weinrotem Leder bezogenen Barhocker und die schrägen Messinglampen.

Menah setzte sich immer an die Theke. Einen Drink nach dem Baden, dann ins Bett. In jedem Hotel dasselbe. Die Schlüssel zum Erfolg sind Übung und Routine. Routh setzte sich an die Theke, er war mit dem Barkeeper allein, unaufdringlicher Jazz lief im Hintergrund.

«Haben Sie Charver-Gin?», fragte Routh.

«Ja, Sir», erwiderte der Barkeeper.

«Auf Eis mit Limette.»

Das war die einzige Marke, die Menah trank. Sie reiste immer mit einer Flasche im Gepäck, für alle Fälle. In den meisten Bars hatte man noch nie davon gehört. Routh konnte keinen Unterschied zwischen diesem Gin und Tanqueray oder Gordon’s schmecken. Du hast eben einen schlichten Gaumen, hatte sie einmal lachend erklärt. Er hatte das als Kompliment aufgefasst.

Der Barkeeper mischte den Drink, und Routh nahm sich eine Handvoll japanische Reiscracker aus einem Schälchen. Wenn es etwas Essbares umsonst gab, konnte er nicht anders, alte Gewohnheit.

«Viel zu tun?» Routh nickte in Richtung des leeren Gastraums.

«Die meisten Gäste sind zu dieser Zeit auf der Terrasse», antwortete der Barkeeper. «Wenn Sie möchten, kann ich Ihren Drink nach draussen bringen lassen.»

«Okay», sagte Routh. «Klingt gut.»

Dünne Rauchglastüren führten auf eine ausladende, gut gefüllte Terrasse. Die Tische wurden von Kugelleuchten erhellt, manche grün, manche mattweiss. Ein Kellner führte ihn zu einem Tisch, wo sein Drink und ein Schälchen japanische Reiscracker schon auf ihn warteten.

Die Luft roch nach Meer gemischt mit dem Gas der Heizpilze, gelegentlich durchwoben von Zigarettenrauch. Schiffshörner ertönten, Männer und Frauen lachten, eine Frau im Frack spielte Klavier. Schmuck klirrte, Kristallglas glitt auf Tabletts durch die Luft, und am Rand der Terrasse stand ein junges Pärchen, trank Cocktails und vibrierte förmlich vor Glückseligkeit.

Der Mann trug einen billigen Anzug, was er mit seiner Haltung und seiner schlanken Attraktivität ausglich; die Frau ein rückenfreies grünes Kleid, unter dem ihre Muskeln unablässig spielten. Routh beobachtete, wie sie auf ein Boot deuteten, der Besatzung zuwinkten. Der Mann legte eine Hand auf den Rücken der Frau. Und dann küssten sie sich. Sie küssten sich wie zwei Menschen, die sich ihres Glücks vollkommen sicher sind. In dem Moment wusste Routh, dass Menah hier übernachten würde. In einem anderen Leben hätte er gesagt, die Ausrichtung sei perfekt, er hätte von Ley-Linien und psychischen Turbulenzen gesprochen, von der Beruhigung von Zeitbeben. Er hätte eine glückliche, beständige Zukunft gesehen. Das alles hätte er in einem anderen Leben gesehen.

*

In einem anderen Leben sass Routh in einem anderen Land mit einem anderen Namen im Gefängnis. Es sei nur vorübergehend, redete er sich ein, Berufsrisiko, Zeit für eine Bestandsaufnahme, um sich neu aufzustellen. Er hatte ein Händchen dafür, hinter Gittern Verbündete zu finden, sogar Freunde. Das Gesicht seines Zellengenossen Hanlon wirkte zwanzig Jahre älter als der Rest seines Körpers, amateurhafte Tätowierungen schlängelten sich seine Arme hinauf. Er war beim Ladendiebstahl erwischt worden und hatte zwei Sicherheitsleute angegriffen. Dennoch strahlte er die goldene Aura des Optimismus aus. In einem anderen Leben hätte Routh den Jungen so richtig ausgenommen. Aber er zockte Hanlon nicht ab. Stattdessen kümmerte er sich um ihn, hatte aber nicht verhindern können, dass ihm eines Nachmittags beim Hofgang doch der Optimismus ausgeprügelt wurde.

Fünf Nächte lang konnte Hanlon nicht schlafen. Und danach wand er sich unter Albträumen. Routh schwieg. Er hörte, wie Hanlon seine Atemzüge zählte, wozu ihm vermutlich die Ärzte geraten hatten. Er hörte ihn weinen, hörte, wie er verzweifelt den Kopf gegen die Wand schlug, weil er nicht einschlafen konnte. Routh lauschte und musste an seine Mutter denken. Sie hatte ihn gepflegt, wenn er als kleiner Junge krank wurde. Sie hatte ihm die Stirn abgetupft, versucht, das Fieber wegzupusten.

«Wenn ich es dir abnehmen könnte», hatte sie gesagt, «wenn ich dir die Schmerzen und das Fieber abnehmen und sie für dich durchstehen könnte, ich würde es tun. Das schwöre ich dir, mein kleiner Liebling.»

Als Hanlon sich wieder einmal durch die Nacht quälte, verstand Routh, was seine Mutter gemeint hatte. Er wünschte sich nichts so sehr, wie an Hanlons Stelle schlafen zu können. Wenn es eines gäbe, das er für ihn tun konnte, dann das. Nur ein paar Stunden Ruhe für den Jungen. Der Gedanke hatte sich eingeschlichen, und er hielt Routh wach. Bis zum Morgengrauen lauschte er, wurde die Frage nicht los: Gibt es etwas, das wichtiger ist als Schlaf?

Als er schliesslich freikam, verbrachte Routh seine Tage an den Computern der Stadtbibliothek, die Abende in einer Resozialisierungseinrichtung. Er recherchierte, studierte, prüfte den Markt, machte sich Notizen, analysierte Chancen. Ideen wuchsen und schrumpften, wurden immer wieder umgeschrieben. Und sobald er einen grossartigen Plan vor sich sah, zerfiel dieser wie der Mörtel im Duschblock.

Das Problem, oder besser: die Herausforderung – in keinem Unternehmen, egal wie zwielichtig, darf es Probleme geben –, bestand darin, dass die Grundidee unsolide war. Ohne Ausrüstung, teures wissenschaftliches Spielzeug und piepsende Maschinen würde einem niemand abkaufen, dass ein Mensch wirklich für einen anderen schlafen konnte. Ohne diese Überzeugungshilfen konnte er den Plan unmöglich in die Tat umsetzen. Zwischen all den Ausdrucken und Fotokopien verbarg sich der perfekte Schlafbetrug, er konnte ihn nur nicht hervorlocken.

Er forschte weiter, bis er eines Tages auf dem Heimweg von der Bibliothek einen Geschäftsmann vor einem Billighotel stehen sah. Der Mann passte nicht in dieses heikle Viertel. Er sah so deplatziert aus wie Routh einst in seinem Gerichtsanzug.

«Auf gar keinen Fall übernachte ich hier», brüllte er in sein Handy. «Finden Sie gefälligst was, wo ich tatsächlich schlafen kann, Sie Armleuchter!»

Routh blieb wie angewurzelt stehen. Der brüllende Geschäftsmann war rot im Gesicht, wirkte erschöpft. Routh beobachtete ihn ganz ungeniert. Der Mann bemerkte es nicht. Als Routh in der Einrichtung ankam, hatte er bereits die Grundzüge seines neuen Entwurfs im Kopf. Innerhalb eines Monats war er im Geschäft.

Ursprünglich hatte er es Narkoproxy nennen wollen, doch die Drogenkonnotation störte ihn. Also entschied er sich für Somnoproxy und entwickelte es aus dem Nichts. Eine Kur für Schlaflosigkeit, die Geissel der modernen Welt. Das Wort Geissel gefiel ihm.

Somnoproxy basierte auf dem Gedanken der «Schlafkompatibilität». Man benötigte lediglich einen Stellvertreter mit demselben Schlafrhythmus, der einen Ort, ein Bett oder ein Hotel vorab testete, und erholsamer Schlaf war garantiert. Die Kunden unterzogen sich einem Vorgespräch, in dem Routh die Kompatibilität mass. Nachdem diese bestätigt war – Routh war immer kompatibel –, besuchte er den entsprechenden Ort, schlief dort und erstellte anschliessend einen Bericht über die Schlafqualität und seine Träume, zusammen mit einer allgemeinen Rezension der Örtlichkeit. Am Ende erhielten die Kunden ein kostspielig aussehendes Dossier. Das Placebo war äusserst wirksam: Seine Erfolgsquote pendelte sich nach einer Weile bei etwa achtzig Prozent ein.

Zunächst hatte er ein paar alte Knastkumpel kontaktiert, die sich inzwischen mit Conciergediensten für Superreiche eine goldene Nase verdienten. Sie verlangten einen Anteil von siebzig Prozent, doch schon bald schwamm Routh auf einer Welle unabhängiger Empfehlungen. Er übernachtete in Häusern in Cádiz, in Wohnungen in Krakau und im Tourbus eines ehemals drogenabhängigen Cellisten. Überall, wo es ein Bett gab, konnte er seine Dienste anbieten. Die Gebühren waren horrend, aber niemand beklagte sich. Somnoproxy war das bestgehütete Geheimnis der reisenden Millionärszunft. Und so fand ihn auch Arclid, Menahs Firma. In einem anderen Leben.

*

In Tokio verlor Menah den Verstand. Ihr Bodyguard fing sie auf, als sie von ihrem Barhocker kippte und irgendwas von Perücken, Plastikmäusen und Sturm und Drang faselte. Ihr wurde eine Spritze verabreicht. Sie sah Dinge: ihren toten Vater auf der Bettkante, der sagte, der Weihnachtsmann könne nicht kommen, wenn sie nicht schliefe; dann ihren Ex-Mann Joe, der sagte, er verzeihe ihr. Dann noch eine Spritze, und dann nichts mehr.

Als sie aufwachte, stand ihr COO am Bett. Malkin. Seine gerunzelte Stirn verhiess nichts Gutes. Er legte die Hände auf ihre, kalt wie ein toter Fisch.

«Wie fühlst du dich, Menah?»

Sie schwieg.

«Wir müssen reden.»

Sie schwieg.

«Es sind Fragen aufgekommen. Gerüchte. Der Aktienkurs ist… ich will da jetzt nicht… Aber wir haben jemanden gefunden, Menah. Jemanden, der dir sicher helfen kann.»

Sie nickte. Sie nickte weiter, bis Malkin ging.

Eine Woche später wurde sie zum «Britannia Inn» in Ilford gefahren. Ihr Chauffeur stellte sie einem grossen, schlanken Mann in Hemdsärmeln vor. Menah reckte die Nase, grinste abschätzig.

«Ich bin mal mit einem Strassenhändler ausgegangen, und selbst der hat ein Fünf-Sterne-Zimmer im ‹Trusthouse Forte› springen lassen.»

Sie beobachtete, wie Routh sich die Brille auf dem Nasenrücken hochschob und einen Schluck Wasser trank.

«In einem ‹Trusthouse Forte› würden Sie heutzutage kein Auge mehr zubekommen», sagte er. «Viel zu brutal für die Psyche.»

Er zog einen Ordner aus seiner Aktentasche und schob ihn zu ihr.

«Was ist das?», fragte sie.

«Meine Arbeit», erwiderte er. «Ich helfe Leuten, die nicht mehr schlafen können.»

Sie durchblätterte das Dossier. Fotos, Diagramme, Tabellen und einige Traumberichte. Letztere weckten ihr Interesse.

«Ich soll also heute Nacht schlafen können, weil Sie etwas geträumt haben, das…», sie schaute auf den Traumbericht, «…gleichzeitig positiv und amüsant war?»

Der Barkeeper stellte ein beschlagenes Martiniglas vor ihr ab. Ihr Gesichtsausdruck entgleiste.

«Trinken Sie was», sagte Routh. «Charvers, ganz nach Ihrem Geschmack. Trinken Sie was, und dann ruhen Sie sich auf Ihrem Zimmer aus. Schlaf ist weniger eine mentale Sache als vielmehr eine geographische. Der Ort ist wichtiger als der Zustand, in dem man sich befindet.»

«Und ich befinde mich anscheinend in Essex.»

Sie rechnete mit Gelächter. Aber er schüttelte nur den Kopf und trank sein Wasser aus.

«Wir frühstücken um sechs, dann können wir uns über Ihre Nacht unterhalten.»

Am nächsten Morgen war sie spät dran. Er wartete im Frühstücksraum, und sie lächelte, war fast verlegen, so wie früher als Jugendliche. Wenige Tage später stellte sie Routh in Vollzeit an. Der Skandal um die Kosten war ein notwendiges Übel.

*

Im Durchschnitt braucht der Mensch sieben Minuten, um einzuschlafen. Routh hatte diese Zeit auf zwei Minuten reduziert. Ganz am Anfang hatte er noch fünfzehn gebraucht. Eine Frage von Übung und Routine. Jede Nacht trug er dieselben Shorts und dasselbe T-Shirt, unabhängig vom Wetter, und trank stets ein Glas Wasser, bevor er ins Bett ging. Ehe er das Licht löschte, steckte er sich Howard-Leight-Ohrstöpsel in die Ohren, und bevor er sich auf den Bauch drehte, dachte er an Menah. Er dachte an ihr kantiges Gesicht, ihre Unbeholfenheit; er dachte an wahre Schönheit, die sich durch Marketing und Handel nicht künstlich herstellen liess. Dieser Abend war keine Ausnahme.

In seinem ersten Traum ging es um japanische Reiscracker. Der nächste war ein Wirrwarr aus unwichtigen Bildern. Im dritten ging es um den Billiganzugträger und die rückenfreie Frau auf der Terrasse. Nach jedem wachte er auf, machte sich Notizen und schlief wieder ein.

Im vierten Traum waren Menah und er ein Paar. Sie war schwanger und wollte mit ihm schlafen. Routh sagte etwas wegen des Babys, und sie lachte. Sie schwang sich rittlings auf ihn. «Hast du etwa Angst?», fragte sie. Er schwieg. Sie sagte, sie liebe ihn, und nur weil sie schwanger sei, bedeute das noch lange nicht, dass sie nicht ficken wolle. Neben dem Fenster hing etwas, das aussah wie ein Hochzeitskleid. Auf dem Boden lag ein Frack. Routh wusste, dass sie schon immer ineinander verliebt gewesen waren. Nein, besser noch: Sie war schon immer in ihn verliebt gewesen, ihm war es bloss nie aufgefallen. Von draussen hörte er Schiffshörner, den geschäftigen Hafen. Plötzlich lag ein Baby zwischen ihnen. Das Baby war klein und flaumig. Es war ein Mädchen, und es hatte die Augen seiner Mutter.

Routh stieg aus dem Bett. Er notierte sich den Traum und ging ans Fenster. Er berührte das Bedienfeld, und das zuvor schwarze Fenster zeigte nun die Lichter des Hafens. Routh sah Pärchen auf den Stegen spazieren, auf den Terrassen sitzen. Er nahm sich einen Gin aus der Minibar und wog die kleine Flasche in der Hand. Menah hatte stets sehr deutlich gemacht, welche Träume sie nicht tolerierte. Insbesondere erotische; alles, was mit Kindern zu tun hatte, war ebenso verboten. Sollte sich so ein Traum einstellen, musste Routh es anderswo versuchen. Darauf legte sie äussersten Wert.

«Ich kann nirgends übernachten, wo du so etwas geträumt hast», hatte sie einmal erklärt, «und wo mir das Gleiche passieren könnte.»

Routh kippte den Gin herunter und klappte seinen Laptop auf. Wieder tippte er auf das Bedienfeld und blendete den Hafen aus. Er begann seinen Bericht. Er war zur Hälfte fertig, als er merkte, dass er lachte. Er musste an die Worte des Hochstaplers Yellow Kid Weil denken: «Jedes meiner Opfer war im Herzen ein Dieb.» Routh hatte ihn schon oft zitiert, und jetzt sah er den Dieb in sich. Das eigentliche Opfer war er selbst. Er lachte darüber, lachte so heftig wie seit Jahren nicht.

Sämtliche Schwindel operieren mit Glaubensstufen. Wenn man daran glaubt, egal woran, ist es so gut wie wahr. Auch das hatte er oft verkündet. Und hierin war es also geendet: Er glaubte daran, dass seine Methoden wirklich funktionierten. Er glaubte, Menah würde baden, ihren Gin an der Bar trinken, sich Ohrstöpsel in die Ohren stecken und das Gleiche träumen wie er. Er glaubte, ihr würde klar werden, dass sie so sehr in ihn verliebt war wie er seit Jahren in sie. Er schob sich die Brille nach oben und tippte weiter. Er schrieb bis zum Morgengrauen und schickte den Bericht ab: auf seinen eigenen Schwindel und sein Diebesherz hereingefallen.

*

Menahs Suite ging auf einen stillen Hof hinaus, der von Zitronenbäumen gesäumt wurde – ein Ort, an dem sie ohne Routh nie übernachtet hätte. Morgen jährte sich ihr erstes Treffen. Jedes Jahr besorgte sie ihm zur Feier des Tages ein kostspieliges, atemberaubendes Geschenk. Er nahm es stets an. Er hatte ihr noch nie etwas geschenkt. Das hätte ihr auch sehr missfallen.

Dieses Jahr schenkte sie ihm eine Uhr, die früher einmal Joseph Weil gehört hatte, einem Hochstapler, mit dem Routh sich verbunden fühlte. Das hatte sie selbst herausgefunden. Arclid hatte einen gründlichen Background-Check durchgeführt, ehe er eingestellt wurde, doch sie hatte noch tiefer gegraben. Ihr Dossier war dick und umfassend. Ihre Entdeckungen hatten ihr keinen Anlass zum Zweifel gegeben.

Betrüger sind immer auf der Jagd nach dem ganz grossen Coup, dem, der ihnen Legitimität verleiht. Das hatte sie in einer Ponzi-Biographie gelesen. Auch auf Weil traf es zu. Weils Armbanduhr war ein kleiner Scherz zwischen ihnen, so betrachtete sie das, ein Insiderwitz.

Menahs Gerät blinkte. Der Hotelbericht von Routh, zu früh. Sie las sie immer noch und fragte sich, wie lange er den Schwindel wohl noch aufrechterhalten konnte. Wie lange er noch bei ihr bleiben würde. Der erste Bericht galt dem Juniper Sky Hotel: «seelenlos und verstörend». Darauf folgte das «Clavier», ein Hotel, das «bis auf vage Enttäuschung nichts in einem hervorruft». Das dritte, das «Royal», war laut Routh ideal: «Ein angemessen anonymer Komplex mit Blick nach Westen über den Hafen.» Sie betrachtete das Foto und fand ihren Verdacht bestätigt. Früher hatte es anders geheissen, «Excelsior», da war sie sich sicher, doch es handelte sich ohne jeden Zweifel um das Hotel, in dem Joe und sie in ihrem ersten Ehejahr übernachtet hatten, dem Gründungsjahr von Arclid.

«Das Panoramafenster», schrieb Routh, «bietet einen endlosen Blick auf Geschichte und Moderne, Aktivität und Stillstand, Stein und Metall, Boote und Tauwerk. Man könnte ihn sicher tagelang betrachten, ähnlich wie ein Gemälde alter Meister.»

Sie erinnerte sich noch an den Ausblick: aus dem Panoramafenster, aber auch von der Terrasse. Joe hatte einen Anzug getragen, der billig war, aber wie angegossen sass. Menah trug ihr einziges Kleid, es war rückenfrei. Sie hatten sich mit Investoren getroffen und dazu eine grandiose Kulisse gebraucht. Joe hatte jemanden im Hotel dazu überredet, ihnen eine Suite zu geben. Später fand sie heraus, dass er behauptet hatte, sie habe Krebs. Sie hatte sich schon gewundert, weil die Angestellten während ihres Aufenthalts so sehr an ihren Haaren interessiert gewesen waren. Aber in jenem Augenblick, mit dem dicken Scheck in der Handtasche, schien die Welt nur ihnen zu gehören.

«Dieser Ort», schrieb Routh, «ist wie für dich geschaffen, Menah. Dein Gin wird hier standardmässig ausgeschenkt.»

An jenem Abend hatte sie zum ersten Mal Charver-Gin gekostet, während sie einem vorbeischippernden Ausflugsboot zuwinkten.

«Jetzt, da ich reich bin», hatte sie zu Joe gesagt, «trinke ich keinen anderen Gin mehr.»

In der Altstadt taumelten sie unter Lichterketten in die Taverne, die irgendwer empfohlen hatte. Sie wurden begrüsst wie Filmstars. Rotes Kerzenwachs war Joe auf die Schuhe getropft; sie tanzten an seinen Füssen, bildeten Schemen aus purer Freude.

Schweissnass und völlig ineinander vernarrt kehrten sie ins Hotel zurück. Sie küssten sich im Aufzug und rissen sich im Zimmer die Kleider vom Leib. In dieser Nacht schlief er nackt, lag wie erschossen auf dem Bett. Sie liess ihn, schlief selbst jedoch nicht. Auf dem Hotelbriefpapier skizzierte sie Designs für Arclid.

Gegen drei Uhr wachte er auf, als wäre er gerade vom Meeresgrund an die Oberfläche getaucht.

«Komm ins Bett», sagte er.

«Gleich», sagte sie.

«Jetzt», sagte er. «Bitte.»

Er wirkte verängstigt. Sie betrachtete ihre Skizze. Der Arclid© Sem04®. Schon damals, als Zeichnung auf dem Papier, war er das. Sie arbeitete gerade am Türmechanismus; wie der heruntergeladene Artikel hervorzuholen war.

«Hast du schlecht geträumt?», fragte sie.

«Nein», sagte er. «Im Gegenteil. Komm doch bitte ins Bett.»

«Gleich», sagte sie. «Ich muss nur noch…»

«Wir hatten ein Kind», sagte er. «Aber es war komisch. Ich war ganz überrascht, dass du mich liebst. Und dann warst du schwanger und wolltest mit mir schlafen. Und dann hatten wir ein Kind. Du warst auch irgendwie nicht wirklich du. Ganz anders.»

«Sehr komisch.» Sie hatte sich wieder der Zeichnung zugewandt.

Er stand auf und trank ein Glas Wasser. Schaute auf das Papier. Sie fertige Skizzen an, sah nicht auf.

«Schlaf ein bisschen, Süsse», sagte er. «Bitte.»

«Gleich», sagte sie. «Gleich. Versprochen.»

Rouths Gerät blinkte. Eine Nachricht von Menahs Assistentin. Nach Zürich, so schnell wie möglich. Die Verhandlungen gingen in eine weitere Runde. In der Nachricht wurde Menahs Enttäuschung zum Ausdruck gebracht. Routh lachte. Er drückte auf das Bedienfeld, und der Hafen kam wieder zum Vorschein, drückte erneut darauf und sah ihn verschwinden. Er war schon einmal in Zürich gewesen, und das war nicht gut gelaufen. Die Gefängnisse waren hart. Er war sich ausserdem sicher, dass er irgendwem dort Geld schuldete.

Er setzte sich auf das Bett. Blieb eine Weile dort sitzen. Er rührte das Bedienfeld nicht an. Er dachte an seinen Traum, und er dachte an Menah allein in Zürich.

Das Telefon klingelte, sein Handy; sie war die Einzige, die ihn darauf anrief.

«Hallo», sagte er. «Ich habe deine Nachricht bekommen. Mache mich sofort auf den Weg.»

«Nein», sagte sie. «Bleib da. Morgen früh bin ich bei dir. Kleine Männer, die mir vorschreiben wollen, was ich zu tun habe! Ich hasse Zürich. Ich hasse die Stadt so sehr, und ich werde da nicht hinfliegen, niemals. Die können ruhig zu mir kommen. Die wissen wohl nicht, mit wem sie es zu tun haben.»

Er stand auf und berührte das Bedienfeld. Der Hafen.

«Ich glaube, jetzt haben sie eine ganz gute Vorstellung», erwiderte er.

Routh wollte das Bedienfeld gerade erneut berühren. Sie unterbrach ihn.

«Was siehst du?», fragte sie.

«Jetzt gerade?»

«Ja, jetzt gerade.»

«Ich sehe den Hafen. Ein paar Yachten und Fischerboote, Kuppeln und Telefonmasten.»

Er betätigte das Bedienfeld. Langsam verdunkelte sich alles.

«Ich habe ein Geschenk für dich», sagte Menah. «Eine Überraschung. Die beste bisher.»

Routh schaute zum Bett. Yellow Kid Weil behauptete, jedes seiner Opfer sei im Herzen ein Dieb gewesen.

«Ach, Menah», sagte er. «Ich habe auch eine Überraschung für dich.»


Stuart Evers
ist britischer Schriftsteller. Von ihm zuletzt erschienen: «Ten Stories about Smoking» (Picador, 2011) und «If This Is Home» (Picador, 2012).


Anna-Christin Kramer
ist literarische Übersetzerin und lebt in Annapolis.


Johan Keslassy
ist Illustrator und lebt in Rouen, Frankreich.

 

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