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Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

14 Bücher, vorgestellt in der sechsundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 Francesco reist nach Verbania

Eigenartig, es gibt Bücher, die wollen nicht zu dir, und wenn sie mal bei dir sind, wollen sie nicht bleiben. Für meine Kleinstbesprechung hatte ich das Buch «Die nackten Inseln» von David Signer bestellt. Bis das Buch zu mir kam, hatte es schon eine kleine Odyssee hinter sich. Von einem Bürotisch zum anderen, von einem Briefkasten zum nächsten. Als ich es erfreut in meinen Koffer packte, weil ich ein Reisender in Sachen Kleinstbesprechungen für die «Schweizer Monatshefte» bin, ahnte ich nicht, was sich ereignen würde. Zuerst aber soll den Monatsheften ein Dank für ihre Unterstützung der Schweizer Literatur (Deutschschweizer wäre angebrachter) ausgesprochen werden. Im Zug nach Verbania – ich sollte dort Freunde besuchen – wollte ich mit der Lektüre beginnen. Das Umschlagbild schien sich zu bewegen… oder besser, die barbusige Frau, deren Gesicht etwas Maskenhaftes hat. Leicht irritiert las ich die Buchrückseite: «Virtuos auf mehreren Ebenen… NZZ», hiess es da. Ich wollte das Umschlagbild unbedingt vermeiden und machte mich ans Inhaltsverzeichnis. Als ich zu den letzten Titeln der Kapitel kam: «Hier kann man gut untertauchen», «Sie ist sicher dort, wo man sich gut verstecken kann», «Der Preis», «Die Nacht der geteilten Leidenschaft», «Der Privatstrand», «Das Ende», und ich auf Seite 13 mit Lesen beginnen wollte: «Was zum Teufel heisst gorjigen?», klopfte mir jemand auf die Schultern und sagte «Ei, che diavolo! Non ti fai più sentire!» Rico, ein Schauspieler, mit dem ich vor Jahren im ProTheater Solothurn gespielt hatte, stand vor mir und wollte in den Speisewagen. «Kommst du mit?» Und schon zog er mich durch die Gänge. Nach einem pendolinomässigen Essen und einem Bier kehrten wir zurück. Ich wollte weiterlesen. Das Buch war nicht mehr da. Auch nicht im Koffer. Ich schaute unter die Sitze, ich schaute auf den Ablagen, ich schaute die Mitfahrenden genau an. Nichts zu machen. «Die Erfahrung lehrt doch wirklich, dass ein Buch nicht verschwindet», sagt Wittgenstein. Bitte melden, wenn Sie eine andere Erfahrung gemacht haben.

vorgestellt von Francesco Micieli, Schriftsteller & Dozent, Bern

David Signer: «Die nackten Inseln». Zürich: Salis, 2010

2 Vita brevis, libri perennes

Jede Liebhaberei trägt für Aussenstehende den Stempel einer gewissen Skurrilität. Dass der Umgang mit Büchern aber geradeswegs zum Wahnsinn führe, wie Erasmus von Rotterdam andeutete, ficht wahre Bücherfreunde nicht an. Sie beschäftigen sich mit alten Graphiken, Handschriften, seltenen Frühdrucken, Inkunabeln, Holzschnittbüchern, Kupferstichwerken, Faksimiledrucken, Logbüchern, Kladden oder Flugblättern und beweisen aller Welt, dass das Büchersammeln eine überaus spannende Passion ist, selbst wo es zum leicht Manischen neigt. Die nationale Elite, rund 470 bekennende Hardcorebibliophile, versammelt sich in der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft. Nirgendwo kann man inspirierter über buchpflegerische Finessen diskutieren, sich über bibliophobes Teufelswerk der grässlichsten Art ereifern, über Eselsohren, Fettflecken, Schimmelbefall, Tintenfrass und gewelltes Pergament.

Die 1921 ins Leben gerufene Gesellschaft gibt die international renommierte Zeitschrift «Librarium» heraus, die seit 1958 dreimal im Jahr erscheint und nun also im 53. Jahr steht. Das Titelblatt atmet die Zeitlosigkeit des Grabsteins, und auch das sonstige Erscheinungsbild weist nur zurückhaltend darauf hin, dass man nicht mehr das Jahr 1921 schreibt. Auch thematisch hält sich «Librarium» von der Tagesaktualität verzeihlicherweise fern. Zweispaltig gibt es Einblick in die verschiedensten und farbigsten Bereiche des Bücherwesens und zeigt auf jeder Seite, dass das Buch nicht nur Geisteswerk ist und intellektuelles Medium, sondern auch sinnliches Vergnügen schenkt. Als historisches Objekt repräsentiert es die Aura versunkener Epochen und dokumentiert buchkünstlerische Leistungen der Vergangenheit und Gegenwart in stupender Vielfalt.

Die aktuelle Ausgabe 1/2010 vom April enthält einen Beitrag von Jean-Pierrre Meylan über den Plan einer «Weltbibliothek» des Literaturnobelpreisträgers Romain Rolland und seines Schweizer Verlegers und Mäzens Emil Roninger. Sabine Knopf berichtet über Einflüsse des Westens auf die Kinderliteratur Nordeuropas. Heidi Eisenhut schreibt über Barbarei in der Buchrestaurierung als kulturhistorisches Zeugnis. Ausserdem wird der in der Zürcher Zentralbibliothek gehütete Künstlernachlass von Otto Baumberger vorgestellt, dessen Lebenswerk mehrere Kunstgattungen umschliesst.

Solche Zeitschriften leben von dem Qualitätsbewusstsein ihrer mit Graphiker und Drucker eng zusammenwirkenden Redaktoren. Als nach dreizehnjähriger Tätigkeit Martin Bircher im Jahr 2006 verstarb, übernahm Rainer Diederichs, Vorstand schon seit 1976, das Amt des Redaktors − das er nun wegen unterschiedlicher Auffassungen in Kompetenzfragen bereits wieder aus den Händen gibt. Dies gibt die Einleitung zu wissen; dass dabei aber Diederichs’ eigenes Wort zum Stabwechsel unterdrückt wurde, zeugt von wenig Souveränität.

Noch immer ist, wer das Buch aus Papier totgesagt hat, im Sterben jedenfalls vorangegangen. Aber auch wenn keine solchen Werke mehr geschaffen würden, könnten die Bibliophilen weiterhin zusammenkommen; es bliebe ja immer noch, was es unerschöpflich schon gibt. So ist dem «Librarium» ein langes Leben gewiss.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Rechtsanwalt, Zürich

Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft (Hrsg.): «Librarium». Ausgabe April 2010

3 Warten auf Jo

Unsicherheit nagt an ihm, aber der Starrsinn siegt. Er will vieles, aber er kann nur eines. Deshalb wird er warten. Weiter warten. Floyd hat so lange gewartet, warum sollte er das jetzt ändern: «Wie ein Wild, das nicht weiter kann, vor ihm eine Klippe, hinten die Flinten im Anschlag.» Vor vielen Jahren ist der englische Fotograf geflohen, erst vor seinem geregelten Leben als Ehemann und Vater einer Tochter ins wilde Berlin, dann vor den Mitmenschen weiter in die Einsamkeit der Brandenburger Kiefernwälder. Ein halbverfallenes Haus, ein ehemaliger russischer Bunker, das ist Floyds Refugium. Hier wartet er. Weihnachten kommt, Jo kommt. Seine Tochter Jo, mit dem Engelsgesicht, den grossen Augen. Sie soll ihn erlösen aus der Einsamkeit, Brücken zurück ins geordnete Leben soll sie ihm bauen. Doch sie hängt nur am Handy, tippt SMS nach Hause und findet alles blöd. Am Heiligen Abend haut sie ab, einfach hinein in die Wälder.

In ihrem zweiten Roman, «Das letzte Bild», jagt die Schaffhauserin Ulrike Fricker, derzeit in Berlin zu Hause, ihre Hauptfigur Floyd immer weiter in eine innere Leere, eine bleierne Antriebsschwäche. Floyd müsste handeln, klagen, weinen und vor allem Jo suchen, doch emotional hat er sich derart verpuppt, dass er seine Ängste und Abwehrreflexe nicht abschütteln kann. Floyd wartet. Barth, der Dorfpolizist, kommt. Emma, seine Exfrau, kommt. Beide gehen wieder, vermutlich in den «Dorfkrug». Zusammen auf ein Zimmer. Neujahr kommt und geht. Floyd wartet, auf Jo, auf die Erlösung. Er spürt, dass die anderen Leute ihm die Geschichte von Jos Flucht nicht glauben und ihn holen werden. Sein Zaudern treibt ihn in die Enge, macht ihn verdächtig – der ältere, nicht sehr gepflegte Sonderling, die Einsamkeit, das junge Mädchen…

Der Frühling kommt, Taucher kommen, doch im aufgetauten kleinen See im Wald finden sie nichts und niemand. Keine Spuren, keine Jo. Floyd wartet. Wladimir kommt. Nicht aus Becketts «Godot», sondern aus Kasachstan. Ein Illegaler, der einen anderen Illegalen getötet haben soll. Plötzlich ist er da, geht nicht mehr weg. Der Traum vom reichen Westen ist geplatzt, wo soll er noch hinlaufen? Er wartet mit, erwartet nichts. Ein Alter Ego für Floyd, dessen Lebenstraum von grosser Fotokunst schon vor langer Zeit gescheitert ist und der keinen neuen Traum finden kann. Sie warten.

Fricker ist ein punktgenauer, humorloser Roman ohne das Flitterwerk alberner, abschweifender Nebenhandlungen gelungen. Ihre gestochen scharfen Naturbilder spiegeln die Hoffnungslosigkeit Floyds in der umgebenden Landschaft, in der Tristesse einer bleichen, trockenen Ebene nahe der polnischen Grenze. Dort, wo ein Mensch nichts zu erwarten hat. Wo Floyd das einzige macht, was er kann: warten auf Jo.

vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifelbauer, Schalkenbach

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

Ursula Fricker:

«Das letzte Bild». Zürich: Rotpunkt, 2009

4 Immer schön von unten links nach oben rechts

Während die Zeitungen im Wirtschaftsteil zu verstehen versuchen, wer die Finanzkrise angerichtet hat, liefert die Lausanner Schriftstellerin und Filmemacherin Marie-Jeanne Urech eine grandios schräge Vision des Börsensturzes. Ihr Roman «Mein sehr lieber Herr Schönengel» – auf Französisch schon 2006 vor der Finanzkrise erschienen – schildert eine vordergründig absurde Welt, in der sich stilistisch Kafka und Orwell begegnen. Arthur Schönengel tritt in den Dienst der BUDE, eines gewaltigen Firmenkomplexes, der alle Menschen zu nichtssagenden Rädchen mit dem Namen «Weisslich» stempelt. Einzig die Anrede signalisiert unterschiedliche Hierarchiestufen. Zuoberst regiert «Unser Brillanter Pantheonischer Durchlauchtigster … Sehr Lieber Herr Weisslich».

Drunten im Keller dagegen hocken die kleinen Arbeitstiere in einer sterilen Koje und verrichten stumpfsinnige Dinge. Auch Arthur Schönengel zeichnet den lieben, langen Tag nur ansteigende Striche, von links unten nach rechts oben. Die hat er im Blut. Im Unterschied zu seinen Kollegen erlaubt er sich aber einen Rest Renitenz, indem er seinen richtigen Namen nicht vergisst und sich am Sonntag frei nimmt. Derlei wird nicht bestraft; denn die BUDE ist keine Diktatur, sondern bloss eine gehorsam akzeptierte Tretmühle. «Nichts zwang ihn, in der Tat, aber alles trieb ihn dazu.» Schönengels Tun ist dennoch von spezieller Wichtigkeit. Der Firmenerfolg, erfährt er, hänge ganz von seinen Strichen ab. Je akkurater und kühner sie ansteigen, umso besser.

Kann das Börsenwesen boshafter, komischer dargestellt werden? Im Jahr 2010 liest sich dieser Roman als freche Paraphrase auf den ökonomischen Selbstlauf, der von unverständlichen Finanzinstrumenten angetrieben wird. Urech hat dafür eine wunderbar schlichte, präzise Sprache gefunden – von Claudia Steinitz trefflich übersetzt –, die die Parabel lächelnd zum Leuchten bringt. Trotz dem geschilderten Leerlauf bleibt das Romangeschehen behutsam in Gang und hält so die Spannung. Schliesslich bricht die Krise exakt in dem Moment aus, wo die Diskrepanz zwischen den akkuraten Strichen und dem Geschäft offenkundig wird. Vielleicht liegt es daran, dass Schönengel – um der Anmut willen – nur noch Bäume zeichnet, die Striche schön nach oben gerichtet. Die Firmenköpfe purzeln einer um den andern und werden als leuchtende Kugeln an den Weihnachtsbaum gehängt.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Literaturnetzwerker, Luzern

Marie-Jeanne Urech: «Mein sehr lieber

Herr Schönengel». Zürich: Bilger, 2009

galerie Vincent Kohler

«Hibou», Styropor, Kunstharz, Motor, elektronisch, 195 x 55 x 40 cm, 2006

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

5 Hinglish, Spanglish, Globish – Rubbish?

Vor einigen Jahren fand auf Ischia ein internationaler Hegelkongress statt. Eine Spielregel lautete: Jeder spricht, ausser in den Beiträgen, in der Sprache, die er am zweitbesten beherrscht. So stellte jemand nach einer Intervention in englischer Sprache auf Deutsch eine Frage, worauf der Vortragende auf Französisch antwortete und eine Entgegnung auf Italienisch provozierte. – Ganz anders der gemeine Menschenverstand. Ginge es nach ihm, so spräche die Welt zukünftig am besten in einer Sprache. Wie schön, wie einfach das doch wäre, praktisch und ökonomisch zugleich! Nichts als Vorteile, so heisst es, und die Welt der globalisierten Wirtschaftsbeziehungen, der Menschen- und Warenströme und der technisch-wissenschaftlichen Rationalität scheint dieser Vision zuzuarbeiten. Vielerorts und in mancherlei Hinsicht kommt man tatsächlich auch durch mit Globish. Es ist, als ob die Beschwörung einer solchen lingua franca als säkularisiertes Pfingstwunder Babel endgültig vergessen machen sollte.

Welches die sprachphilosophischen Implikationen und die vielfältigen Konsequenzen einer solchen Sicht sind, zeigt der von Marco Baschera herausgegebene neue Figurationen-Band zum Thema «Mehrsprachiges Denken» auf eindrückliche Art und Weise auf. Die durchwegs sehr lesenswerten Beiträge, von denen einzelne auf die Zürcher Tagung mit dem programmatischen Titel «Wider die Einfalt» zurückgehen, versammeln sich – bei aller Verschiedenheit – in dem Anliegen, die Aporien einer solchen Sicht aufzuzeigen und deren Preis in Erinnerung zu rufen. Dabei gilt es nicht nur die Skylla der eingangs skizzierten Monokultur zu meiden, wie sie sowohl die kommunikative Alltagspraxis wie auch weite Teile der analytischen Philosophie beherrscht. Ebenso gefährlich ist die Charybdis eines «ontologischen Naturalismus». Es gibt keine Sprache – nicht Griechisch und nicht Deutsch, wie etwa Heidegger meinte –, die den Zugang zur Welt auf privilegierte Art und Weise erschliessen würde. Auszugehen ist von der einfachen Einsicht: wenn das Denken immer schon sprachlich strukturiert ist, also nicht vorsprachlich gefasste mentale Einsichten in wahlweise zur Disposition stehendeSprachen übersetzt werden, dann ist das vermeintliche «kommunikative Paradies die kognitive Hölle» (Trabant), das heisst, der Verlust an sprachlicher Vielfalt führt zwangsläufig zu einer Einschränkung unseres Weltverständnisses und damit des Verständnisses unserer selbst.

Die Ahnherren einer solchen Sensibilität für die Erfahrung irreduzibler Mehrsprachigkeit sind, wie Barbara Cassin in ihrem Beitrag aufzeigt, Herder, Humboldt und Novalis. Von ihr herausgegeben, ist seit einigen Jahren auch greifbar das sogenannte «Vocabulaire européen des philosophies» (2004). Dieser «Dictionaire des intraduisibles» führt nur Begriffe auf, die der Übersetzung besonderen Widerstand leisten. Nicht dass sie unübersetzbar wären – die widersinnige Rede von der Unübersetzbarkeit setzt ja gerade voraus, was sie dementiert; aber es sind Begriffe, die durch ihren Widerstand das Problem des Übersetzens immer wieder ins Bewusstsein bringen. Ein solcher Begriff ist etwa das deutschte Wort Geist. Es meint – um eine ebenso spannende wie komplexe Geschichte auf einen Aspekt zu reduzieren – so Unterschiedliches wie englisch spirit, mind und ghost. Was bedeutet es für das Verständnis von Hegels Phänomenologie des Geistes, wenn schon die Übersetzung des Titels in unüberwindbare Schwierigkeiten führt? Was bedeutet es, in verschiedenen Sprachen darüber zu reden? Der Kongress auf Ischia hat darauf eine praktische Antwort gefunden: die gelebte Polyphonie der Mehrsprachigkeit.

Dass sich unter den Autoren des äusserst sorgfältig und ansprechend edierten Bandes neben Philosophen, Sprachwissenschaftern und Linguisten auch Schriftsteller (Valère Novarina, Franz Czernin) und Künstler (Hans Danuser, Patrice Hamel) befinden, macht deutlich, wie sehr die Thematik der Mehrsprachigkeit über die Sprachlichkeit hinausreicht in grundsätzliche Fragen der ästhetischen Praxis und künstlerischen Inszenierung.

vorgestellt von Jürg Berthold, Privatdozent für Philosophie, Zürich

Marco Baschera (Hrsg.): «Mehrsprachiges Denken. Penser en langues. Thinking in language.» Köln, Wien, Weimar: Böhlau,

2009

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Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

6 Er will packen mit der Gewalt des Affects

«Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien» lautet der Untertitel der erstmals 1888 erschienenen Studie «Renaissance und Barock», eines kunsthistorischen Klassikers aus der Feder des 1864 in Winterthur geborenen Heinrich Wölfflin. Der 1945 verstorbene Schüler Jacob Burckhardts lässt allerdings kaum einen Renaissancepalast, kaum eine Barockkirche ausserhalb der Hauptstadt als stilgeschichtlich bedeutsam gelten. Italien ist für ihn Rom – und sonst fast gar nichts. Mit seiner frühen Habilitationsschrift wollte der rasch berühmt gewordene Gelehrte, der seit 1893 die wichtigsten Lehrstühle seines Faches bekleidete – Basel, Berlin, München und Zürich –, einen Beitrag zur Stilgeschichte liefern, nicht, wie er mehrfach betont, zur Künstlergeschichte. Und bis heute gilt: Wer in Sachen Architektur ernsthaft von «Renaissance» oder «Barock» spricht, kommt um die Lektüre nicht herum. Wer Rom gut kennt, dem fällt sie leichter.

Wölfflin geht es nicht ums Detail. Am Beispiel der Werke von Bramante, Raffael, Peruzzi, Sangallo, Vignola, Giacomo della Porta, Carlo Maderna und immer wieder Michelangelo zeigt er «Formentwicklungen» auf. Er möchte, in einer Zusammenschau von Kulturgeschichte, Kunstpsychologie und ästhetischer Interpretation, das «bestimmende künstlerische Gesetz» der Epoche in Worte fassen. Wölfflin erläutert den Übergang von der formstrengen Architektur der Renaissancezeit zum «Freien und Malerischen» der Barockbauten, wobei er sich auf die erste, für ihn bis ins Jahr 1630 reichende Periode des römischen Barocks beschränkt.

Für Wölfflin ist die Renaissancekunst eine solche des «schönen ruhigen Seins», während der Barock ganz anders wirke: «Er will packen mit der Gewalt des Affects, unmittelbar, überwältigend.» Nicht Sein also, sondern Geschehen, nicht harte und eckige, sondern weiche und runde Formen, und bei den Kirchenfassaden nicht mehr «das vollkommene Gleichgewicht von Füllung und einschliessender Form», sondern ungegliederte, nach oben drängende, aus jeglichem Rahmen quellende stoffliche Masse. Die einstige «Harmonie der Proportionen» wird abgelöst durch ein «auf das Unendliche gerichtetes Raumgefühl».

Warum aber dieser Wandel? Stil sei immer «Ausdruck seiner Zeit», und die Baukunst versuche auszudrücken, «was der Mensch sein möchte». Niemals schaffe die Technik allein einen Stil – der «Formgeschmack» einer bestimmten Zeit, ein Ideal von Körperlichkeit ginge ihr immer voraus. Im Rom des 16. Jahrhunderts mit seiner neuentfachten Religiosität des Jesuitismus habe man nach dem Unendlichen, Überwältigenden und Berauschenden verlangt. Sozialgeschichte der Kunst ist das noch nicht. Ein Ansatz vielleicht? Dass Wölfflin den Nationalsozialisten als Wegbereiter einer völkischen Kunstgeschichte erschien, kann man heute jedenfalls weit weniger einsehen als manche Kritik von Kollegen wie Arnold Hauser oder Erwin Panofsky, die ihm vorwarfen, die Vielfalt der Stile und die Bedeutung der Künstlerpersönlichkeiten nicht gebührend zu würdigen.

Wölfflins seit je umstrittene Kategorien sind als kunstgeschichtliche Grundbegriffe überholt. Dies mindert jedoch die Faszination der Lektüre seiner kraftvollen, klaren und für einen jungen Mann ganz erstaunlich selbstsicheren Schrift nicht im geringsten. Schön, dass sie als preiswertes Taschenbuch vorliegt. Weniger schön, dass sie gänzlich unkommentiert bleibt. Mehr als 120 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen sollte vieles einzelne näher erläutert werden, und vor allem müsste man Wölfflin und seinen frühen Klassiker in die seitherige Entwicklung der Kunstwissenschaft einordnen. Ohne Kommentar muss sich auch der Kenner alleingelassen fühlen. Schade.

vorgestellt von Klaus Hübner, Germanist & Redaktor, München

Heinrich Wölfflin: «Renaissance

und Barock.

Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung

des Barockstils in Italien». Basel: Schwabe, 2009

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

7 Von Hunden, Nachthemden und den fünfziger Jahren

Da wird die ganze Zeit einfach so dahingeplappert. Eine Kinderstimme. Ein kleines Mädchen, das vieles von dem, was um sie herum passiert, zwar noch nicht verstehen kann und es dennoch mit grossen Ohren und offenen Augen wahrnimmt. Langsam ändern sich die Zeiten. Das Mädchen wird älter, spürt zuweilen schon ein «gutes Gefühl» zwischen den zusammengepressten Beinen und bekennt darum bei der nächsten Beichte: «Ich habe Unkeusches angerührt», worauf der Pfarrer durchs Gitter flüstert: «Du musst sagen, ich habe beim Berühren unkeusche Gedanken gehabt.» Das Mädchen korrigiert ihren Beichtvater: «Das habe ich aber nicht, es hat mir einfach gefallen…»

Gisela Rudolfs Roman «Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen» spielt, leicht erkennbar, ohne dass eine Jahreszahl genannt werden müsste, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch die mehr oder minder grossen Ereignisse der Zeitgeschichte, der Ungarnaufstand, die Fussballweltmeisterschaft in der Schweiz, der Mord an der Frankfurter Prostituierten Nitribitt, der Weltallausflug des russischen Hundes Laika, werden allenfalls beiläufig gestreift. Viel wichtiger erscheint dem Kind die Anschaffung eines eigenen Hundes, der Kauf eines neuen Autos, das schicke Kleid der Mutter.

Gisela Rudolf erzählt vom Leben einer Zahnarztfamilie mit drei Kindern, häufig wechselnden Dienstmädchen, oft sehr ansehnlichen Sprechstundenhilfen und einer teils unausstehlichen Verwandtschaft. Sie berichtet über kantonale Tennisturniere, an denen die Mutter erfolgreich teilnimmt. Und das alles in epischer Breite.

Es ist bekanntlich schwierig, eine solche kindliche Perspektive über längere Strecken durchzuhalten. Gisela Rudolf gelingt es weitgehend. Doch schon nach wenigen Seiten spürt man, dass sich unter dem oberflächlichen Geplapper eine mächtige Unterströmung entwickelt. Durch den Alltag hindurch, die Stoffmassen, die hier ausgebreitet werden, durch die Sinnlichkeit der Beschreibung, scheint etwas anderes auf: Zeitgeschichte. Ja mehr noch: in diese Familiengeschichte eingeschrieben ist die Geschichte des letzten Jahrhunderts, der Abschied vom 19. Jahrhundert, der endgültige Durchbruch der Moderne. Noch gelten die Tabus. Noch herrschen schier unglaubliche Glaubensvorstellungen. Noch orientieren sich die Leute an den Normen, Werten, Verhaltensmustern einer anderen Zeit. Doch immer mehr Risse werden sichtbar.

«Die Risse in der Mauer» hatte der schwedische Erzähler Lars Gustafsson seinen Zyklus von Romanen genannt, in dem er genau diesen Prozess, mit ungleich grösserem Aufwand, zu beschreiben versuchte. Gisela Rudolf gelingt es wie nebenher. Sie erzählt uns von Hunden und Nachthemden, Kindergeburtstagen und Krankheiten, von privaten Affären, über die man «nicht spricht», von Lachgas und Lustmolchen, von Liebe und Tod – und zeigt uns dabei, dass die sechziger Jahre vor der Tür stehen. Das heisst, eine völlig andere Welt. Ein kleiner Roman. Und doch ein grosses Buch.

vorgestellt von Martin Lüdke, Literaturkritiker, Frankfurt a.M.

Gisela Rudolf:

«Das Leben

der Eltern ist das Buch, in dem

die Kinder lesen». Frankfurt a.M.: Weissbooks, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

8 / 9 Tibet – Schweiz, nicht retour

Wollte man unter der Flut von deutschsprachigen Büchern über das Schicksal des chinesisch besetzten Tibet und seiner Menschen nur ein einziges auswählen, um auf umfassende Weise zu erfahren, was am Himalaja geschehen ist und noch geschieht, so müsste es «Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht» sein. Auf die Initiative einer Tibet-Schweizerin hin entstanden, enthält der äusserlich schlicht und monochrom gestaltete Band die Lebensberichte von zwölf Zeitzeugen des alten, freien Tibet. Als Kinder oder junge Menschen erlebten sie die Invasion des kommunistischen China und die Folgen seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, die sie zu Flüchtlingen machten und schliesslich zu dankbaren Bürgern der Schweiz werden liessen. Durch eine Hommage an die Freiheit Tibets und einen historischen Abriss wird der Leser zu Anfang des Buches erinnert, wie um den 10. März 1959 der verzweifelte Aufstand in Lhasa durch den Massenmord an 87’000 Menschen niedergeschlagen wurde, der Dalai Lama nach Indien fliehen musste und Zehntausende von Tibetern ihm folgten, derer Unzählige auf der Flucht an Erschöpfung starben oder gefangen, inhaftiert oder erschossen wurden. Eine auf Videoaufnahmen basierende Schilderung von bis in die heutige Zeit reichenden Verfolgungen der Flüchtenden und ein kleines Epitaph für 18 Kinder und Jugendliche, die 2006 auf der Flucht verschwanden, zeigen die Aktualität des Geschehens auf.

Zunächst sind es die Photos von Manuel Bauer, die dazu einladen, dieses Buch zu lesen. Menschen in ihrer häuslichen, schweizerischen Umgebung. Menschen, die in Gestik und Mimik die Erzählung ihres Lebens begleiten, dabei ernst sind, traurig, aufgeregt oder ruhig, die lachen und weinen. Sie erzählen davon, wie ihnen das Leben in der Heimat unmöglich gemacht wurde, wie sie Demütigungen und Verfolgungen erleiden mussten. Sie berichten vom Verlust nächster Menschen, von unvorstellbar langen Haftstrafen unter entsetzlichen Bedingungen, von den Gefahren der Flucht.

Es sind auch zwölf Geschichten über Dankbarkeit für die Integration in die neue Heimat Schweiz. Hier ist Bewusstsein für die Hilfe und das Entgegenkommen des Gastlandes erkennbar. Gleichzeitig wird klar, wie die Tibeter ihr Eigenstes nicht vergessen, sondern für uns alle zu wichtigen Vermittlern der tibetischen Kultur werden. Ganz nebenbei ist es auch ein Buch zum Selbstverständnis der Schweiz, jenes Landes, das übelwollender Markierung als kaltschnäuzigen Bankenlands zum Trotz doch nun schon seit einem dreiviertel Jahrhundert Fluchtpunkt und Hoffnung für Verfolgte vieler Nationen ist. Der mehrfach geäusserte Wunsch des Dalai Lama, dass Tibet ein freies, neutrales Land nach schweizerischem Vorbild werden könne, ist verständlich.

Manuel Bauers gleichzeitig erschienenes Buch «Flucht aus Tibet» mit 89 unkommentierten Photoseiten gehört unbedingt zu «Exil Schweiz» dazu. In «Tibet. Der lange Weg», der Ausgabe der Zeitschrift «Du» vom Juli 1995, die noch antiquarisch erhältlich ist, war Manuel Bauers Reportage über die Flucht der sechsjährigen Yangdol und ihres Vaters zuerst erschienen, die der Winterthurer Photograph über den Himalaja begleitet hatte. In Buchform wirken die teilweise gleichen Aufnahmen entrückter und kunstvoller, was ihren exemplarischen Wert zu verstärken scheint. Die Verlorenheit der beiden fliehenden Tibeter auf der weiten Fläche des Nangpa-Passes auf der Flucht nach Nepal und Indien, aus der Ferne kaum grösser als Kieselsteine und doch immer als Menschen erkennbar, ist die Verlorenheit aller Heimatlosen. Die persönlichen Aufzeichnungen Manuel Bauers am Ende des Bandes zeigen, wie Menschenschicksale sich trotz aller Fremdheit und Bedrohung durch gemeinsames Erleben wie von selbst verbinden und die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen durch Mitgefühl sichtbar wird.

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Germanistin, Erlangen

Christian Schmidt & Manuel Bauer:

«Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht. 12 Lebensgeschichten». Zürich: Limmat, 2009

Manuel Bauer: «Flucht aus Tibet». Zürich: Limmat, 2009

10 Eggheads vs. Gum-shoes

Zwei Namen sind jedermann geläufig, die repräsentativ nicht nur für die Schweizer Kriminalliteratur stehen, sondern im gesamten deutschen Sprachraum Klassikerstatus geniessen, nämlich Friedrich Glauser (1896–1938) und Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). Beiden ist gemeinsam, dass sie sich dem Genre auch aus pekuniären Gründen zuwandten. Der zeitlebens unglückliche Ex-Dadaist Glauser schrieb seinen ersten Krimi «Der Tee der drei alten Damen» 1932, um vom Boom der damals in Zeitschriften florierenden Fortsetzungsromane zu profitieren. Und der Dramatiker Dürrenmatt liess sich nur durch eine Verdoppelung des Honorars dazu überreden, nach «Der Richter und sein Henker» (1952) seinen Kommissär Bärlach in «Der Verdacht» (1953) ein weiteres Mal ermitteln zu lassen. Dass die beiden Autoren dennoch einen solitären Beitrag zur deutschsprachigen Kriminalliteratur geleistet haben, ist unbestritten, und so wundert es nicht, dass die Sommerakademie Schweizer Literatur, als sie sich dem Thema «Kriminalroman» widmete, das doch recht guterforschte Werk der zwei Friedrichs wieder einmal zum Gegenstand germanistischer Exerzitien werden liess. Man untersuchte, inwieweit Glausers eigene Psychiatrieerfahrungen in seinen «Irrenhaus-Roman» «Matto regiert» eingeflossen seien, warf einen kritischen Blick auf alte und neue «Wachtmeister-Studer»-Verfilmungen und deutete Dürrenmatts Krimis als «Schlüsselwerke» im «Hinblick auf [dessen] Ästhetik». Als Vertreter der Gegenwartsliteratur diente Hansjörg Schneider, dessen Hunkeler-Romane eindeutig in der von Glauser und Dürrenmatt geprägten (und damit in der von Simenons Kommissar Maigret begründeten) Tradition stehen, während sich gleich drei Vorträge Romanen von Patricia Highsmith zuwandten, die offenbar, seit der Zürcher Diogenes-Verlag die Weltrechte an ihrem Werk besitzt, der Schweizer Literatur zugerechnet wird.

Unter all diesen Texten, die nun, beinahe vier Jahre nach der Tagung, in einer hübschen Klappbroschur versammelt sind, findet sich mancherlei von Interesse. Wenn Jochen Vogt der Frage nachgeht, warum die Amerikanerin Patricia Highsmith in Europa erfolgreicher war als in ihrem Heimatland, oder Elizabeth Bronfen die kulturgeschichtlichen Dimensionen von «Der talentierte Mr. Ripley» auslotet, kann der Freund der Kriminalliteratur etwas lernen. Ärgerlich findet er allerdings, dass andere Beiträge wieder einmal all jene Klischees vom sogenannten «traditionellen» Detektivroman aufwärmen, die in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genre seit Jahrzehnten kolportiert werden. Da schreibt ein Germanistikprofessor unter Berufung auf einen Text Helmut Heissenbüttels aus dem Jahre 1964 (!) tatsächlich vom «Schema der englischen detective story», von dem sich der «literarische Kriminalroman» unter anderem durch den Verzicht auf ein «triviale[s] Happy End» unterscheide. Und die Herausgeber erkennen ein besonderes Verdienst Dürrenmatts darin, «das Rätselspiel Kriminalroman in ein Denkspiel [verwandelt zu haben], das insofern neue Spielmöglichkeiten erprobt, als es die Setzung der Regeln selbst als Spiel inszeniert». Dass solch ein Kunststückchen bereits der oft belächelten Agatha Christie gelang («The Body in the Library», 1942), ganz zu schweigen von einem talentierten literarischen Spieler wie dem Meister des selbstironischen Detektivromans Edmund Crispin (1921–1978), wird jene Literaturwissenschafter, bei denen sich Lesefaulheit und Ignoranz trefflich ergänzen, wohl nicht interessieren.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Lehrer & Redaktor, Recklinghausen

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

Peter Gasser, Elio Pellin & Ulrich Weber: «Es gibt kein grösseres Verbrechen als die Unschuld». Zürich: Chronos, 2009

11 Poesie, durch das Schlimmste hindurch eine Festung

«Notizen»: Aufzeichnungen, Gedanken und Beobachtungen, lyrische Passagen, Überlegungen, die Verbindung von Erlebtem und angelesenem Wissen, gelegentlich in loser, skizzenhafter Form, und doch sehr dicht. Texte, die eigene, weiterführende Gedanken des Lesenden zulassen und anregen.

Der erste Teil der «Notizen aus der Tiefe» von Philippe Jaccottet trägt den Titel «Israel, blaues Heft». Kritisch und wohltuend unangepasst, sich nach keinem Muster und keiner politischen Haltung richtend, betrachtet der Autor die heutige Lage in Israel, wo sich inmitten von säkularen und orthodoxen Juden, Palästinensern und anderen Völkern auch die Wiege des Christentums befindet. Jaccottet erstarrt keinesfalls in Ehrfurcht, auch nicht vor Heiligtümern wie der Grabeskirche. Vielmehr erschüttert ihn der menschliche Aberglaube, das götzenhafte Verehren, das kitschige Vereinnahmen. Er verbindet einzelne, wie zufällig gefallene Wissenssplitter mit persönlichen Assoziationen und beschreibt in einer aufrüttelnden, provokativen und doch sehr menschlichen Art «Knoten der Finsternis».

Im zweiten Teil, demjenigen mit der titelgebenden Überschrift «Notizen aus der Tiefe», finden sich Gedanken nach dem Tod eines Freundes. Da stehen Sätze aus einem Traum: «In jedem Augenblick ist auf dieser Welt einer damit beschäftigt zu weinen; und manchmal durch unsere Schuld» oder aufmunternd Lyrisches wie «Das Lachen eines Kindes, wie eine Traube roter Johannisbeeren».

Im dritten Teil «Das Wort ‹Russland›» nähert sich Jaccottet über die Literatur dem Kulturkreis Russland. Es ist nicht das gastfreundliche, kulturell vielgestaltige Russland, sondern das der düsteren russischen Schriftsteller: «In Gedanken immer wieder an diese Schicksale, die wie mit Eisenketten zusammengeschmiedet waren, sah ich im Geist Dantes Inferno vor mir. Auch dort, in den Tiefen der Hölle, ist das ‹traurige Loch› kein Ort der Flammen, sondern der Auslöschung der Wärme und des Lichtes, die absolute Kälte, der gefrorene See in der Nacht, der See hart wie der Fels…» Schliesslich sei es die Poesie, die half, das Unmenschliche zu überleben. Der Straflagerrückkehrer Schalamow «überlebt, allem zum Trotz; er überlebt nicht nur, sondern kehrt ins Leben zurück mit einem unbeschädigten Glauben an dieses Wort der Poesie, von der er versichert, dass sie, durch das Schlimmste hindurch, seine ‹Festung› geblieben sei. Wie sollte man einem solchen Zeugen nicht Glauben schenken?»

Auf poetische und zugleich kritische Art hat Philippe Jaccottet, seit diesem Jahr auch Träger des Grossen Preises der Schillerstiftung, in diesem Buch Politisches, Persönliches und Literarisches verarbeitet. Poetisch oft im Ausdruck und in der mehrdeutigen, bildlichen Umschreibung, während die Inhalte Allzumenschliches bis Unmenschliches erfassen.

vorgestellt von Katka Räber-Schneider, Psychologin, Basel

Philippe Jaccottet: «Notizen aus der Tiefe». Übersetzt von E. Edl, W. Matz & F. Kemp. München: Hanser, 2009

galerie Vincent Kohler

«Hibou», Styropor, Kunstharz, Motor, elektronisch, 195 x 55 x 40 cm, 2006

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

12 Gutschweizerisch in Milchkübeln

Am 16. April 1942 wird Arthur Bloch in einen Hinterhalt gelockt, niedergeschlagen, erschossen und in Teile zersägt, die in Milchkübeln im Neuenburgersee versenkt werden. Nur die Füsse ragen als «elende Notsignale» einer grausamen Tat aus dem Wasser heraus.

Der von einer Gruppe Nazi-Sympathisanten in Payerne begangene Mord am Berner Viehhändler Arthur Bloch ist historisch umfassend aufgearbeitet – genannt seien nur «Der Judenmord von Payerne» von Hans Stutz (2000) oder «Le Crime nazi de Payerne» von Jacques Pilet (1977). Dass der 1934 in ebendiesem Städtchen geborene und zur Zeit des Mordes achtjährige Jacques Chessex darüber noch einen Roman geschrieben hat – er hatte die Geschichte bereits 1967 in «Un crime en 1942» literarisch verarbeitet –, erschien letztes Jahr, als die französische Originalversion herauskam, vielen Einwohnern unangebracht. Sie teilen damit die Meinung der Figuren des Romans, die dem Jungen, der sich nach Bloch erkundigt, antworten: «Arthur Bloch, das war früher. Eine alte Geschichte. Schnee von gestern.»

Doch es war vor allem eine schmutzige Geschichte, und das ist sie noch heute. Noch immer stellt sie die Frage, wie Jacques Pilet sie formuliert hat: Wären wir in der Schweiz zu Kollaborateuren der Nazis geworden? Auch Chessex’ Roman stellt sie wieder, doch indirekt, mit literarischen Mitteln, die einen Mehrwert gegenüber den obenerwähnten historischen Studien schaffen. Mit drückenden Bildern eines von Schweinefleisch und Unzufriedenheit strotzenden Städtchens schafft Chessex von der ersten Seite an eine Atmosphäre, die die nationalsozialistisch motivierte Tat als unvermeidlich erscheinen lässt. Zwischen Schweinshaxen und Schweinsohren wird Bloch, der sprachlich zum «dreckigen Schwein» erniedrigt wird, «geschlachtet». Jedes Wort spottet hier der jüdischen Reinheitsgesetze, die den Genuss von Schweinefleisch verbieten.

Als konsequent erscheint vor diesem Hintergrund, dass Chessex sein Zugehörigsein zu dieser «Stadt der Schlächter und Metzger» und die Frage nach der Mitschuld reflektiert. Er tut dies weniger als Einwohner von Payerne, der mit der Tochter eines der Mörder die Schulbank teilte, sondern als Autor, als Erzähler: «Ich schäme mich, Äusserungen, Worte, einen Tonfall, Handlungen wiederzugeben, die nicht die meinen sind, es aber durch das Schreiben unfreiwillig werden.» Zwar verurteilt er an einer Stelle die Payernois als «protestantische Schweine-fresser», die «hinter vorgehaltener Hand» die Taten Deutschlands gutheissen, und bezeichnet die Mörder als eine «Bande heimatbesessener Irrer»; gleichzeitig schlüpft er jedoch in ihre Köpfe und gibt, ohne die Urheber zu kennzeichnen, Sätze wieder wie: «Das jüdische Geschmeiss. Das jüdische Gewimmel. Der listige Jude, der seine Fühler ausstreckt, nach unserer ganzen Wirtschaft greift, der sich in die Politik einschleicht, sogar in die Anwaltschaft, sogar in die Armee. Schaut doch, wie das Judenpack in unserer Kavallerie gedeiht.» Der Leser findet sich in der unkomfortablen Lage wieder, dass sich ihm solche Phrasen aufdrängen und er sich ihnen stellen muss. Auch wenn es nur eine «alte Geschichte» ist.

vorgestellt von Claudia Keller, Germanistikstudentin, Zürich

Jacques Chessex: «Ein Jude als Exempel». Aus dem Französischen von Gret Osterwald. Zürich: Nagel & Kimche, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

13 Kult und Frucht

Mit seiner Liebeserklärung an die Olive befindet sich Ralph Dutli in bester Gesellschaft. Schon Homer, Ovid und Vergil rühmten die Fruchtbarkeit und Langlebigkeit des Baumes, der den Griechen als heilig galt. Sein Holz war ausschliess-lich der Herstellung von Götterstatuen und dem Tempelbau vorbehalten, und wer gedankenlos einen Olivenbaum abholzte, konnte mit Exil oder gar dem Tod bestraft werden. Tatsächlich steht die Olive, der Mythologie nach ein Geschenk der Göttin Athene, am Beginn der Kultur des Mittelmeerraums, die ohne die Verbreitung und Kultivierung der Olive undenkbar ist. Von Kreta, dem Ursprungsort der Olivenwirtschaft, reichte ein weitgesponnenes Handelsnetz bis Ägypten, an die Krim und die französische Mittelmeerküste. Auch die Römer förderten den Ölbaumanbau in ihren Provinzen; doch bildete der Lebensraum der Olive eine natürliche Grenze für die Expansion des römischen Imperiums. Nach Dutli wäre kein richtiger Römer auf die Idee gekommen, sich in einem Land niederzulassen, in dem Rebe und Olive, Inbegriffe des guten Lebens, nicht gediehen. Zugleich mag die Sehnsucht nach einem guten Leben der geheime Grund dafür sein, dass das Lob der Olive in der europäischen Dichtung bis heute seinen festen Platz hat. Ob Rilke, García Lorca oder René Char – ihnen allen war die Olive ein Symbol des Glücks und der Lebensfülle. Die Franzosen haben dafür sogar eine eigene Redewendung: avoir l’olivier bedeutet schlicht Glückhaben oder ein Glückskind sein. Eine der schönsten Anekdoten zur Wertschätzung der Olive ist die vom Tod des englischen Schriftstellers Somerset Maugham, der mit einer Olive in der Hand im Sessel gestorben sein soll, sich hinüberträumend in ein mediterranes Paradies.

Ralph Dutli ist allerdings Realist genug, diese Geschichte dem Reich der Legende zuzuschlagen, und verwahrt sich auch sonst gegen jede Form von Olivenkitsch. Dafür sorgt allein schon ein ernüchternder Exkurs zu den Produktionsmethoden der Ölindustrie, die der Olive mit Beizmitteln, chemischen Zusatzstoffen und synthetischen Raffinierungsverfahren zu Leibe rückt und dem Ergebnis ihrer Panscherei obendrein noch den Stempel extra vergine aufdrückt. Wundern darf man sich darüber nicht. Mit einem Erntevolumen von jährlich zehn Millionen Tonnen ist die Olive kein ökologisches Nischenprodukt, sondern ein höchst profitabler Industriezweig.

Der alte Zauber der Olive ist noch am ehesten im klangvollen Alphabet ihrer Namen aufgehoben, von der spanischen Arbequina bis zur französischen Blanquette und der griechischen Koroneiki. Die kann man sich, ganz ohne schädliche Nebenwirkungen, auf der Zunge zergehen lassen.

vorgestellt von Georg Deggerich, Übersetzer, Krefeld

Ralph Dutli:

«Liebe Olive. Eine kleine Kultur-geschichte». Zürich: Ammann, 2009

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVI

14 Schwierige Literatur mundgerecht gemacht

Können so viele Leser irren? Wenn ein literaturwissenschaftliches Kompendium vier Auflagen erzielt, dann ist dies zunächst einmal alles andere als selbstverständlich. Man wird also davon ausgehen dürfen, dass darin Antworten auf tatsächlich gestellte Fragen gegeben werden. Offenkundig holt der Verfasser, wie man so sagt, seine Leser dort ab, wo sie gern abgeholt werden möchten. Es herrsche, behauptet er dementsprechend, eine profunde Ratlosigkeit angesichts der meist schwerzugänglichen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser Ratlosigkeit wolle er durch sein Handbuch abhelfen. Und so finden sich darin nicht nur zwölf umfassend konzipierte, zentrale Themen und Gattungen ausleuchtende Kapitel, sondern auch zahlreiche Tabellen, in denen die Aussagen prägnant zugespitzt werden, weiterführende Arbeitsaufträge und ein umfangreiches Glossar relevanter Begriffe. Soweit, so nützlich. Dennoch aber bleibt zu fragen, welche Seite hier eigentlich unbedarfter an das Problem der Hermeneutik von Texten herangeht, deren Autoren sich aus unterschiedlichsten Motiven ebendieser Hermeneutik verweigern – die angesprochene Leserschaft oder der Autor selbst.

Können ganze Heerscharen von Germanistikstudenten wirklich so naiv sein zu glauben, per Taschenbuchhandreichung irgendeinen Aufschluss über Hermetiker vom Schlage eines Paul Celan erlangen zu können? Ihnen möchte man raten, mit den Texten schlicht selbst umzugehen, intensiv zu lesen, nachzudenken, kurzum: die Annäherung an ungeheuer fremdartig wirkende Texte als hochkomplexe Herausforderung persönlich anzunehmen. Der Autor hingegen verfolgt ein didaktisches Programm und sieht sich selbst als dessen Vermittler. Zweifellos ist sein Anliegen, die strukturalistische Literatur-interpretation exemplarisch und systematisch darzustellen, ehrenwert, jedoch nicht besonders innovativ. Unter den zahlreichen Möglichkeiten, Literatur zu lesen und zu verstehen, gehört sie lange schon zu den etablierten. Hochgradig ärgerlich sind freilich die von ihm mit diesem Ansatz verknüpften Wertungen. Der übelste aller Feinde scheint dabei die «traditionelle Literatur» zu sein, ist sie doch symptomatisch für das in diesem Band unentwegt implizit als reaktionär befundene bürgerliche Weltbild. Solch arg verengte Tunnelsicht spiegelt sich auch im Urteil über Autoren und deren Werke: Thomas Mann fällt gesinnungsbedingt durchs Raster, und der «Chandos-Brief» Hugo von Hofmannsthals, ein Kerntext der sprachkritischen Moderne, muss von der Brecht-zentrierten Warte des Verfassers her notwendig relativiert werden. Hofmanns-thals subtile «Wendung ins Soziale» will eben so gar nicht in das hier propagierte Schwarzweisschema passen. Im Schlusskapitel werden, überflüssig genug, zehn Kriterien «guter literarischer Texte» definiert. Mit anderen Worten: das Buch endet mit einem reichlich angestaubten Literatur-Katechismus der 68er-Generation: wirklich «gute» Literatur wäre danach allein diejenige, die zur «Gesellschaftskritik» führt. Welch absurde Vorstellung!

vorgestellt von Anett Lütteken, Germanistin, Bern

Mario Andreotti: «Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik». 4., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Bern, Stuttgart,

Wien: Haupt, 2009

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