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Reset statt Reform!

Seit Jahren wird über wichtige Reformen der EU nachgedacht und gesprochen – passiert ist stets zu wenig. Es ist deshalb Zeit, auf einen Neuanfang zu setzen. Eine Antwort auf Michael Wohlgemuths Vorschlag zum «Europa der Zukunft».

Die Freunde einer «immer engeren» Europäischen Union haben wieder Rückenwind. Nach dem Brexit-Schock im letzten Sommer konnten sich in Österreich, den Niederlanden und schliesslich in Frankreich EU-freundliche Kandidaten bei wichtigen Wahlen durchsetzen. Angesichts der Bedrohung durch «den Populismus» im Inneren, aber auch durch aussenpolitische Unsicherheiten – Stichwort: Trump, aber auch Putin oder Erdoğan – scharen sich gerade in Deutschland Politik und Meinungsbildner ums blaue Sternenbanner, von dem sie sich Sicherheit und Stabilität versprechen.

Mit ihrem unbestechlichen Machtinstinkt greift die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Stimmungslage auf: «Die Europäer müssen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen», verkündete sie Ende Mai in einem bayerischen Bierzelt. Was sie damit meint, scheint halbwegs klar: Die europäische Integration muss – unter deutscher Führung und nach deutschen Regeln, versteht sich – forciert werden. Die alte Leier «Mehr EU» scheint die «neue» deutsche Antwort auf die allgemeine Verunsicherung zu sein.

Ob «die Europäer» – hier verstanden als die Bürger der 28 EU-Mitgliedsstaaten – gefragt werden, inwiefern sie sich das auch wünschen, darf angesichts der bisherigen Geschichte des europäischen Einigungsprozesses bezweifelt werden. Dieser verlief schon immer strikt von oben nach unten. Dabei ist auf dem Kontinent die Skepsis gegenüber der EU nicht merklich kleiner geworden, nur weil Le Pen, Wilders und Hofer weniger Wählerstimmen als befürchtet auf sich vereinigen konnten. Die politischen, kulturellen und ökonomischen Konflikte, die ihren Aufstieg begünstigt haben, verschärfen sich eher noch.

Die Handlungsunfähigkeit der Union während der sogenannten Flüchtlingskrise hat für viel böses Blut zwischen den europäischen Ländern gesorgt. Auch die Eurokrise ist noch nicht ausgestanden: Griechenland liegt wirtschaftlich am Boden, Italien ist lange noch nicht über den Berg und viele weitere Staaten insbesondere in Süd- und Südosteuropa leiden unter hoher Arbeitslosigkeit, erdrückenden Staatsschulden und niedrigem Wachstum.

Europa à la carte
Eigentlich sollte klar sein, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Unter dem Titel «Ein Europa der Zukunft» analysierte der Ökonom und Leiter der Denkfabrik Open Europe Berlin, Michael Wohlgemuth, für den «Schweizer Monat» jüngst diesen prekären Zustand der EU, setzte sich kritisch mit einer Reihe verschiedener Entwicklungsoptionen für die Union auseinander und entwickelte anschliessend seinen Reformvorschlag eines sich vorwiegend selbst regulierenden «Europas der Clubs».

Vorweg: Wohlgemuths Kritik der gegenwärtigen EU trifft viele wichtige Punkte. Er kritisiert die Intransparenz der Entscheidungsstrukturen, die es nationalen Regierungen ermöglicht, unter Umgehung einer funktionierenden öffentlichen Kontrolle mächtige Interessengruppen zu bedienen. Er kritisiert die Tendenz zu faulen Kompromissen auf europäischer Ebene, die nicht vernünftigen Abwägungen, sondern vielmehr einer «Logik des Stimmentauschs» nationaler Sonderinteressen unterliegen. Die fundamentale Krise der Währungsunion wird thematisiert – ebenso wie die problematische Vergesellschaftung von Schulden auf europäischer Ebene.

Völlig zu Recht stellt Wohlgemuth das Ziel der «immer engeren und immer weiteren Union» in Frage. Den Politikwissenschafter Peter Graf Kielmansegg zitierend, sieht er die «Legitimitätsressourcen und Solidaritätsressourcen» der EU ernsthaft beschädigt. Deshalb, so Wohlgemuth, sollten Kompetenzen von der europäischen auf die nationale Ebene zurückverlagert werden.

Als mittel- bis langfristige Reform zur Rettung des EU-Projekts schwebt ihm ein «Europa der Clubs» vor. Auf nicht mehr als fünf Punkte eines «Kern-Akquis» müssten sich alle Mitglieder bindend einigen: 1. Die Grundfreiheiten des Marktes, 2. Währungswettbewerb, 3. Wettbewerbsschutz, 4. Umweltpolitik, 5. Verteidigung und Terrorismus. Darüber hinaus solle es aber jedem der einzelnen Mitgliedsstaaten freigestellt werden, in welchen Politikfeldern sie sich mit anderen Mitgliedsstaaten in Clubs zusammenschliessen, um dort Kompetenzen zu bündeln. So könnten sich Staaten, die an einer gemeinsamen Währung interessiert sind, etwa im Euro-Club zusammenschliessen, Staaten, die an einer gemeinsamen Sozialpolitik interessiert sind, in einem ebensolchen Club usw.

Europäisches Demokratiedefizit
Innerhalb des Kontinuums der klassischen EU-Reformdebatte sind Wohlgemuths Vorschläge klar der vernünftigeren Seite zuzuschlagen: Wer am Fortbestand der EU interessiert ist, sollte nicht, wie aktuell die deutsche Bundeskanzlerin, darüber nachdenken, wie die Kompetenzen der EU erweitert, sondern wie sie zurückgebaut werden können. Wohlgemuth hat recht: Andernfalls droht das Scheitern durch «Überdehnung». Aber: ist die EU überhaupt noch in einem vernünftigen Sinne reformierbar? Und: wäre ihr Scheitern tatsächlich eine schlimme Sache? Die Antwort lautet zweimal Nein. Warum?

Die EU hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte als ein System herausgestellt, das jeden noch so gut gemeinten Reformvorschlag (und es gab wahrlich nicht wenige davon) absorbiert und in einer entstellten technokratischen Form wieder ausspuckt – am Ende wurde noch immer der bürgerferne Apparat gestärkt. Angesichts der EU-Strukturen und der Mentalität des europäischen Führungspersonals besteht keinerlei Grund zu Optimismus, dass sich an diesem Zustand mittelfristig etwas ändert. Ein Untergang der Europäischen Union in ihrer bisherigen Form wäre deshalb kein Weltuntergang, es wäre eine Chance für den Kontinent.

Ausgerechnet einer der entscheidendsten Kritikpunkte an der EU, nämlich ihr undemokratischer Charakter, bleibt in Wohlgemuths Text leider unterbelichtet. Zwar weist er an mehreren Stellen darauf hin, dass ein Plan D (D wie Demokratie) für Europa fehle und «eine konsistente liberale Vision für die Zukunft der EU» diesen Umstand klarer berücksichtigen müsse. Aber wie die Ideale von Demokratie und Freiheit unter dem Dach der EU zu verwirklichen seien, erfahren wir nicht.

Dabei ist es ein bestimmendes Wesensmerkmal des sogenannten europäischen Einigungsprozesses seit den 1950er Jahren, die Menschen regelrecht fern von der Politik zu halten. Das immer komplexer werdende Wechselspiel zwischen nationaler Politik, Partikularinteressen, vertreten durch Wirtschaftslobbyisten oder NGO-Aktivisten, und supranationalen EU-Strukturen verschleiert politische Macht und entzieht diese einer vernünftigen öffentlichen Kontrolle. Im Dickicht der unklaren Verantwortlichkeiten bleibt die demokratische Öffentlichkeit bei der Entscheidungsfindung aussen vor. Die repräsentative Demokratie als Herrschaftsform lebt aber gerade von der Zurechenbarkeit politischer Verantwortung: Entscheidungsträger müssen unmittelbar durch eine lebendige Öffentlichkeit kontrolliert werden, die frei und offen darüber debattiert, welchen Weg das Gemeinwesen in Zukunft einschlagen soll. Damit der demokratische Willensbildungsprozess funktioniert und die Bürger überhaupt die Chance haben, sich mit ihrer Urteilskraft und ihren Interessen in diesen einzubringen, bedarf es zuvorderst klar einsichtiger, einfacher und vernünftiger Strukturen, die man auch als Nichtexperte begreifen kann. Der in Europa unter dem Namen EU entstandene, feudalistisch anmutende Wirrwarr der Institutionen hat mit diesem Anspruch nichts mehr zu tun.

Populismus und Demokratie
Weil Wohlgemuth der Demokratiefrage zum Teil ausweicht, verkennt er auch den demokratischen Impuls hinter dem Brexit-Votum. Nicht «die Gegner der Offenheit» gaben den Ausschlag. Hinter dem Brexit-Votum steckt vielmehr der nachvollziehbare Wunsch vieler einfacher britischer Bürger, dass politische Fragen, die sie betreffen, von Menschen getroffen werden, die sie zur Verantwortung ziehen können («Take back control!»).

In seinem kürzlich erschienenen Buch «The Road to Somewhere» analysiert der britische Journalist David Goodhart den Aufstieg des Populismus. Er macht in der westlichen Welt einen Kampf zwischen der Bevölkerungsgruppe mit kosmopolitischem Selbstverständnis (den «Anywheres»), die die Globalisierung als Chance begreift und meint, überall leben zu können, und den «Somewheres», Menschen, die an einem Ort verwurzelt und deutlich weniger mobil und weniger gut ausgebildet sind, aus. Die Interessen der zweiten Gruppe, so Goodhart, wurden in den letzten Jahren von der Politik zu wenig thematisiert. Der Autor widerspricht also der These, wonach sich im Populismus vor allem rückständiges Denken ausdrücke. Den Brexit bezeichnet er deshalb als einen Fall von «decent populism» (anständigem Populismus) – also als eine von der Bevölkerungsmehrheit getragene Gegenposition, die im wesentlichen nicht von fremdenfeindlichen, nationalistischen oder protektionistischen Ideologien bestimmt wird, sondern eher von einfachen Werten der «Somewheres», die bis vor wenigen Jahren den Common Sense in vielen europäischen Ländern prägten: ehrliche Arbeit, Familie, Heimatverbundenheit, Selbstbestimmung, Streben nach materiellem Wohlstand und Gemeinschaftssinn.

In diesem Sinn zeigt sich im Aufkommen populistischer Strömungen nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Zu offensichtlich ist das fehlende Interesse vieler Eurokraten an demokratischer Legitimation: Wenn der EU Ergebnisse von Referenden nicht passen, werden diese einfach mehr oder weniger ignoriert (wie die Voten in Frankreich und den Niederlanden über die EU-Verfassung im Jahr 2005) – oder es werden Länder wie Irland (im Jahr 2009) gedrängt, einfach weiter abzustimmen, bis das Ergebnis «passt».

Spannung statt Frieden
In den letzten Jahren hat sich auch die Behauptung, die EU sei ein «Friedensprojekt», als Mythos herausgestellt. Die EU ist nicht die aufgeklärte Antwort auf den Nationalismus, im Gegenteil: Durch ihre Unfähigkeit zur konstruktiven Problemlösung unter Achtung der demokratischen Selbstbestimmung der europäischen Völker erzeugt sie überall auf dem Kontinent Spannungen – und schürt letztlich Ressentiments und Chauvinismen. Ein Beispiel lieferte jüngst der französische Wahlkampf: Kein Kandidat, nicht einmal der Pro-EU-Kandidat Macron, kam darum herum, mit antideutschen Stimmungen zu hantieren, denn französische und deutsche Vorstellungen von Wirtschafts- und Sozialpolitik unter dem Mantel der EU sind kaum zu vereinbaren. Weitere Beispiele sind die in Deutschland auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise geschürten Vorurteile über «faule Südeuropäer», vice versa über «rücksichtslose Deutsche» in Griechenland und anderen Ländern, weil nicht kompatible Volkswirtschaften unter das Dach einer gemeinsamen europäischen Währung gepresst wurden. Es ist deshalb wahrscheinlicher, dass die EU in naher Zukunft unter dem Druck ihrer inneren Widersprüche implodieren, als dass sich der EU-Apparat auf den von Michael Wohlgemuth skizzierten Reformversuch durch Rückbau seiner eigenen Kompetenzen einlassen wird. Auch Wohlgemuth hält ein Scheitern der EU nicht für ausgeschlossen. Man darf ergänzen: Der Untergang dieser EU wäre nicht einmal ein Grund zu trauern. Europa ist nicht die EU. Der fundamentale europäische Wert – vom antiken Griechenland über die Französische Revolution bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989 – ist das Streben nach politischer Freiheit. Europa ist der Kontinent der Demokratie; die EU aber ist zutiefst antidemokratisch.

Selbstverständlich wäre ein Scheitern der EU mit einer Phase relativer Unsicherheit verbunden. Diese böte aber auch die Chance für sinnvolle Entwicklungen und das Ausloten neuer Innovationspotenziale. Unerwartetes, Positives könnte entstehen. Man denke etwa an die spontane Welle zivilgesellschaftlichen Engagements während der überraschenden Flüchtlingskrise oder die Revitalisierung der politischen Debattenkultur vor und nach dem Brexit in Grossbritannien. Das Ende der EU muss auch keineswegs zum Wiederaufleben von kleingeistigem Nationalismus und Abschottung in Europa führen, ebenso wenig wie die Brexit-Entscheidung das weltoffene Grossbritannien in ein fremdenfeindliches Land verwandelt hat. Auch ohne die EU teilen die Menschen in Europa ein gemeinsames kulturelles Erbe, gemeinsame politische Werte und den Willen zu Kooperation über nationalstaatliche Grenzen hinweg.

Vielleicht würden die Europäer sogar einen erneuten Anlauf wagen, überkommene nationalstaatliche Grenzen zu überwinden und sich in grösseren Zusammenhängen zusammenzuschliessen. Warum nicht? Vielleicht würde sich dann auch Michael Wohlgemuths liberale Vision eines «Europa der Clubs» durchsetzen. Eines aber ist klar: Die Entscheidung muss auf europäische Art und Weise, also demokratisch, getroffen werden. Und dazu bietet die gegenwärtige Struktur der EU leider keine Möglichkeiten.


Johannes Richardt
ist Chefredakteur der Zeitschrift «Novo» und Gründungsmitglied des humanistischen Think Tanks Freiblickinstitut e.V. Er lebt in Berlin. Web: www.novo-argumente.com

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