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Postfaktisch

«Postfaktisches Zeitalter im #Nationalrat. Entgegen Wissenschaften & Innovation wieder ein #GentechMoratorium.»
FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen am 6. Dezember 2016 auf Twitter

Manche Modewörter sind wie Sternschnuppen. In dem Moment, in dem sie aufkommen, sind sie blitzartig erhellend, weil sie einen Aspekt der Wirklichkeit auf den Punkt bringen. Doch im Nu ist
es mit dieser Wirkung wieder vorbei. Das Licht verglüht in dem Masse, wie das Wort überfrachtet und inflationär gebraucht wird. Wie das Wasserfallen-Zitat zeigt, ergeht es dem Terminus «postfaktisch» so, dem Wort des Jahres 2016. Derart gestelzt, dass sich sein Benutzer damit selber ein wenig auf den Arm nimmt, soll der Begriff nicht jeglichen Wahrheitsanspruch stützen, sondern die trotz allem ernste Sorge zum Ausdruck bringen, in Politik und politischem Diskurs sei eine verhängnisvolle Ära des Betrugs angebrochen. Und anders als früher schere sich keiner darum – warum auch immer.

Das Wort ist eine Übertragung aus dem Englischen («Post-truth»). Der Dramatiker Steve Tesich hat den Ausdruck vor 25 Jahren in -seinem bitteren Essay «A Government of Lies» für «The Nation» -geprägt, in dem er seinen amerikanischen Landsleuten eine pathologische Angst vor der Wahrheit diagnostizierte. Er machte dafür vor allem Präsident Richard Nixon verantwortlich. Was Anfang der 1970er Jahre in der Watergate-Affäre zutage getreten sei, habe gerade nach dem Vietnam-Krieg einen solchen Schock bedeutet, dass es vielen Bürgern den Appetit nicht nur auf die Politik, sondern auf jegliche Fakten verdorben habe. Totalitäre Figuren könnten sich freuen: «Auf sehr fundamentale Weise haben wir, als ein freies Volk, frei entschieden, dass wir in einer postfaktischen Welt leben wollen.»

Ein Vierteljahrhundert später brachten Brexit-Freunde Phantasiezahlen über die EU-Überweisungen Grossbritanniens unter das Volk; Donald Trump verbreitete die Mär, Barack Obama sei gar kein Amerikaner. Dass man sie faustdick belog, tat der Begeisterung der Leute keinen Abbruch. Das ist selbst dann noch fatal, wenn die Lüge ihnen nicht per se egal war, sondern nur nicht den Ausschlag gab gegenüber dem, was sie in anderen Punkten erhofften. Wenn Betrug vor dem «Gerichtshof der öffentlichen Meinung» (Walter Lippmann) keine Folgen hat, ist die Aussicht auf verantwortliches Regierungshandeln düster. Diese Gefahr gilt es zu benennen und mit Aufklärung zu bekämpfen.


 

Karen Horn
ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, freie Autorin sowie Chefredaktorin und Mitherausgeberin der Zeitschrift «Perspektiven der Wirtschaftspolitik».

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