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Nachgefragt: Schengen,
Cybersicherheit, Neutralität

Die grossen geopolitischen Herausforderungen Europas und der Schweiz.

Herr Chipman, vor welchen grossen geopolitischen Herausforderungen steht Europa heute?
Der Schengenraum wird in den nächsten ein bis zwei Jahren unter grossen Druck geraten. Ihn aufrechtzuerhalten wird die grösste Herausforderung sein, selbst wenn die engere Kooperation bei der Grenzsicherung und bei den Marineeinheiten im Mittelmeer etwas von diesem Druck wegnimmt. Der Rückzug des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wird die Debatte über die EU-Verteidigung noch verstärken. Aber immerhin wird es dann von Seiten des Vereinigten Königreichs keine Einwände mehr geben gegen eine stärkere europäische Verteidigungsidentität.

Welche Rolle werden in diesem Kontext die Nato und die USA spielen?
Wir wissen noch nicht, ob es der Trump-Administration gelingt, einen Modus vivendi mit Russland zu entwickeln. Solange unklar ist, wie sich die amerikanisch-russischen Beziehungen tatsächlich entwickeln, wächst in Europa ein natürliches strategisches Unbehagen. In Europa wird man deshalb nicht umhinkommen, besser verstehen zu lernen, wie Russland heute denkt. Es müssen Strategien entwickelt werden, um mit den neuen Herausforderungen für die europäische Sicherheit und Integrität umzugehen, die von Russland ausgehen.

Konkret?
Wir beobachten momentan, dass Russland versucht, seine eigene Machtposition zu stärken. Die Annexion der Krim war eine solche Demonstration, aber auch die Cyberattacken und geheimdienstliche Versuche, Einfluss jenseits des eigenen Territoriums auszuüben. Dagegen muss man sich wappnen – und das tut man nicht, indem man sich als Europäer ausschliesslich auf die USA verlässt. Jedes Land muss selbst tätig werden.

Donald Trump hat Wahlkampf damit gemacht, dass die europäischen Länder künftig mehr für ihre Sicherheit werden bezahlen müssen.
Die Debatte über die Lastenteilung zwischen den USA und den europäischen Mitgliedstaaten ist schon seit mindestens dreissig Jahren ein Thema in der Nato. Noch nie gab es einen US-Präsidenten oder einen US-Verteidigungsminister, der nicht glaubte, die Europäer sollten mehr zahlen. Trump hat diese historische Klage lediglich dramatisiert. Sein Verteidigungsminister James Mattis hat jedoch an verschiedenen Anlässen – erst kürzlich anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz wieder – bekräftigt, dass das Nato-Engagement der USA unanfechtbar sei, inklusive Artikel 5 des Abkommens. Aber ja: der Druck auf die europäischen Staaten, mehr für ihre Verteidigung zu tun, wird wachsen.

Damit sind dann vor allem Länder wie Frankreich und Deutschland angesprochen.
Ja. Deutschland ist in einer besonders schwierigen Lage, weil es ein relativ hohes Verteidigungsbudget hat, der Anteil am BIP – 1,1 Prozent in 2016 – aber vergleichsweise niedrig ist. Deutschland hat vor einigen Jahren auf dem Nato-Gipfel in Cardiff die Verpflichtung unterschrieben, dass dieses Budget auf 2 Prozent aufgestockt werden soll. Damit würde Deutschland ungefähr 30 Milliarden Euro pro Jahr mehr ausgeben – was Hoffnungen weckt, innerhalb dieser Frist aber unmöglich zu realisieren ist. Die Vereinigten Staaten werden diese Entwicklung aufmerksam verfolgen, vor allem nach den Wahlen im September dieses Jahres.

Wie gelingt es, die europäischen Anstrengungen mit jenen der Nato zu koordinieren?
Man war schon immer darauf bedacht, eine Doppelarbeit zu vermeiden. Zu hoffen ist, dass kostengünstige command arrangements getroffen werden können, die den Europäern militärische Operationen unter europäischem Namen und ohne Nato-Referenz durchzuführen erlauben.

In Europa haben bisher aber nur das Vereinigte Königreich und Frankreich ausreichende Fähigkeiten, ihre Kräfte im Ausland einzusetzen. Deutschland ist aus historischen Gründen zu Recht zurückhaltend.
Deutschland war in Afghanistan involviert und hat Einsätze auch in anderen Gebieten unterstützt. Das ist wertvoll, auch im Hinblick auf die erhöhte Instabilität in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Aneignung dieser Fähigkeiten wird auch für Deutschland in den nächsten Jahren enorm wichtig sein.

Wer gewinnt die deutschen Wahlen im September?
Meine Vermutung ist, dass Angela Merkel auch die nächste Regierung bilden wird. Sie bleibt eine wesentliche politische Führungskraft in Europa und der Welt, denn nur sie hat in Deutschland gegenwärtig den globalen Status, der von einer Mehrheit unterstützt wird. Eine interessante Position für die Deutschen, denn es ist eigentlich die Position, in der sich normalerweise nur die Amerikaner wiederfinden: Die meisten Amerikaner haben zwar keinen Reisepass und denken nicht international, aber dennoch herrscht ein Bewusstsein dafür, dass die gewählte Person nicht nur national eine wichtige Führungsperson ist, sondern für die ganze westliche Welt. In Europa nehmen wir deshalb alle an jeder amerikanischen Wahl Anteil, obwohl wir gar nicht mitwählen – wir haben ein eigenes Interesse daran, wer Präsident der Vereinigten Staaten wird. Jetzt haben Europäer und sogar Nordamerikaner ein eigenes Interesse daran, wer Kanzlerin Deutschlands ist.

Unter den Wählern herrscht, in Europa wie in den USA, eine neue, fundamentale Ungewissheit, was Globalisierung, Freihandel und Migration angeht. Es feiern Parteien Erfolge, die in Wirtschaftsfragen protektionistisch oder nationalistisch agieren und in Gesellschaftsfragen reaktionär. Man denke an Ungarn oder Polen.
Die Unterstützung von populistischen Politikern, die sich explizit antiliberal gebärden, hat tatsächlich zugenommen. Es ist eine Art Schocktherapie für konventionelle politische Parteien, die sich in den letzten Jahrzehnten von den Sorgen vieler Bürger entfernt haben. Ich glaube jedoch nicht, dass sich dieser Trend fortsetzt. In Europa wird der Brexit den Reformdruck auf die Europäische Union erhöhen. Die Art und Weise, wie die EU bislang mit der öffentlichen Meinung in allen Gliedstaaten umgegangen ist, wird sich fundamental verändern. Sie wird sich wieder vermehrt an den Anliegen der gewöhnlichen Bürger orientieren, was auch die Staatsoberhäupter aller EU-Länder in die Pflicht nimmt.

Das bedeutet aber dem Vernehmen nach wenig Gutes für den freien Handel.
Vorerst scheint es so, dass freier Markt und Freihandel einen Schritt zurücktreten. Die Vereinigten Staaten erzielten bereits ein Eigentor, als sie sich aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) zurückzogen. Diese Vereinbarung hätte eine beträchtliche Zahl von asiatischen und vor allem südostasiatischen Ländern auf die bisherige geoökonomische Bahn der USA gebracht. Der Rückzug gibt nun China freiere Hand, um ökonomische Bande mit Ländern anderer Regionen zu entwickeln, die nicht mit dem liberalen Handelssystem übereinstimmen, das die Vereinigten Staaten traditionellerweise verfechten. Zum Beispiel mit dem indischen Bundesstaat Assam.

Wenden wir uns der Schweiz zu, die ja keine klassische Aussenpolitik betreibt und geopolitisch wie wirtschaftlich vor allem auf geschickte Kooperation angewiesen ist. Welche Rolle kann sie angesichts der kommenden Herausforderungen spielen?
In Europa befinden wir uns momentan in der Situation, dass aufgrund von Migrationsbewegungen die Innenpolitik eines anderen Landes zum Teil der eigenen Innenpolitik wird. In Deutschland wurde jüngst etwa darüber diskutiert, ob es für dort lebende Türken erlaubt sein soll, für die Todesstrafe zu stimmen. Eine öffentliche Debatte gab es darüber auch in der Schweiz. Ein solch klarer, eigentlich innenpolitischer Positionsbezug wie in Deutschland kann die Aussenbeziehung des Landes mit der Türkei beeinträchtigen. Die Türkei sieht mittlerweile schon die Erlaubnis einer prokurdischen Demonstration in der Schweiz als Eingriff in die inneren Angelegenheiten der Türkei an! Was Innenpolitik war, kann nun gleichzeitig Aussenpolitik bedeuten. Es ist also auch und vor allem für die Schweiz, mit ihrer gepflegten Neutralität, im Blick zu behalten, wie man die Prinzipien der freien Meinungsäusserung aufrechterhält und zugleich Kohärenz in der Aussenbeziehung sichert.

Was ist Ihr Rat für die Schweiz für die nächsten fünf Jahre: was sollte sie in der Beziehung zur EU vermeiden?
Generell sollte sie mehr von dem tun, was sie die letzten zwei Jahrzehnte ausgezeichnet hat: institutionell unabhängig bleiben, offen sein, sich dem Wettbewerb stellen. Es ergeben sich aber auch neue Herausforderungen: Erstens kann die Schweiz nicht länger von den Friedensdividenden des beendeten Kalten Krieges profitieren. Sie muss in ihre Streitkräfte investieren und sie vor allem modernisieren. Dazu gehört primär der Aufbau einer eigenen Cyberabwehr, um sicherzustellen, dass sie gegenüber Angriffen anderer Länder oder organisierter krimineller Gruppen weniger anfällig ist. Zweitens wird die Schweiz die Brexit-Diskussionen aufmerksam verfolgen müssen: Es besteht die Möglichkeit, dass eine «EU+1»-Partnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich dabei herauskommt. Damit wären wohl auch neue Möglichkeiten für die Schweiz geschaffen, sich zu beiderseitigem Vorteil an flexiblere EU-Regelungen anzudocken, ohne Mitglied zu sein.

Und die Schweizer Wirtschaft?
Die Schweiz muss geschäftstüchtig bleiben. Dazu sollten sich mehr Schweizer Unternehmen international aufstellen, was bedeutet, dass sie mehr Wert auf das Verständnis von Geopolitik legen müssen als bis anhin. Schweizer Unternehmen waren bisher recht gut darin, für sich selbst eine Marke zu schaffen, die nicht einzig mit dem Schweizer Staat verknüpft ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Trend bei grossen Marken, etwa für Pharmaunternehmen, für Nestlé und für viele andere ausbezahlt. Kleinere Unternehmen setzen vielfach einfach auf «Swissness», verkennen dabei aber, dass sie damit gar keine eigene qualitative Markenbotschaft haben, die sie international hervorhebt. Viele Unternehmer glauben bis heute, sie müssten apolitisch und neutral sein, um international operieren zu können. Unternehmen sind aber heute viel wichtigere Akteure als früher. Sie werden sich künftig im Wettbewerb mit anderen diplomatischen Kräften messen müssen.

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Fit für die neue Welt(un)ordnung?

«Die liberale Weltordnung steht an einem Wendepunkt. Mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht, der technologischen Revolution und neuen Formen asymmetrischer Bedrohungen müssen wir uns auf einen längeren Zeitraum aussergewöhnlicher Unsicherheit einstellen – und als Schweiz (wieder) lernen, unsere eigenen Stärken im internationalen Wettbewerb zur Geltung zu bringen.» Andreas R. Kirchschläger Delegierter des Stiftungsrates, Max Schmidheiny Stiftung […]

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