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Kunst und Künstler zwischen Kommerz und Vergänglichkeit

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Köln: Dumont, 2011.

Die Dialektik von (Ab-)Bild und (abgebildeter) Wirklichkeit, die Frage nach der Repräsentation und der Wahrheit in der Kunst – das ist es, was das Nachdenken über Kunst seit den alten Griechen beschäftigt. Soll die Kunst das Allgemeingültige abbilden, oder das Besondere, Anekdotische? Wie finden in der Kunst Revolutionen statt, werden neue Regeln geschaffen? Und schliesslich: Ist Kunst nicht, wie alles Irdische, vergänglich?

Houellebecqs «Karte und Gebiet», zuerst einmal ein Künstlerroman und einer über Kunst, nimmt diese Fragen subtil auf und gibt verschiedene Antworten. Einmal ist etwa, allgemein-erkenntnistheoretisches wie individuell-künstlerisches Programm, «die Karte (Abbild) wichtiger als das Gebiet (Wirklichkeit)», ein andermal soll die Kunst «eine objektive Beschreibung der Welt liefern».

Hauptfigur ist Jed Martin: ein Mann mit sehr wenigen Eigenschaften, ein Chamäleon, über das wir sehr wenig wissen, der über Fremddarstellungen (nicht zuletzt durch ein Katalogvorwort eines literarisch-fiktiven Houellebecq) definiert wird. Er ist aber eine gerade in seiner Unbestimmtheit und Vagheit interessante Person: Beziehungen, soweit man von solchen sprechen kann, beendet er wie Schaffensperioden (und vice versa) abrupt und unwiderruflich. Zeitungen liest er nicht, Meinungen hat er fast keine (meistens nickt er stumm zu), und sein emotionales Ich wird nur an ganz wenigen Stellen sichtbar: so etwa latent, wenn erwähnter Houellebecq einen Château Ausone 1986 (man beachte das Augenzwinkern an Ausonius) nicht korrekt zu trinken weiss, oder manifest, wenn Jed im Zustand höchster Erregung eine Angestellte von Dignitas niederschlägt. Und im Besonderen, wenn er gegenüber dem Polizeikommissar aus der Tiefe seiner Wertvorstellungen artikuliert, dass das Böse bestraft werden müsse.

Jed ist aber ein verdammt guter und fleissiger Künstler, technisch sehr begabt und immer der Richtige im richtigen Zeitgeist. Sein Gesellenstück sind Photographien von Gebrauchsgegenständen, seine ersten Erfolge die der in einem bestimmten Winkel photographierten und mit viel Raffinesse veränderten Michelin-Regionalkarten im Massstab 1:150’000. In seiner Hauptschaffenszeit werden ihm Malereien zu den Métiers Weltruhm einbringen: eine siebenjährige Serie einfacher Berufe mit 42 Bildern, dann die eineinhalb Jahre «geradezu frenetisch-schöpferische» Phase der 22 Unternehmenskompositionen, die Jed in einer eindrücklichen Eigenbildzerstörung von «Damien Hirst und Jeff Koons teilen sich den Kunstmarkt auf» beendet. Schliesslich kehrt er mit einem letzten Bild zu den Berufen zurück, mit dem rein als Geschenk, als Zugabe gedachten Portrait «Michel Houellebecq, Schriftsteller», von dem noch die Rede sein wird.

Der Autor Houellebecq beherrscht souverän als Grundgeräusch eine angenehm einlullende und doch irgendwie falsche Schreibe der Werbeprospekte, der Gebrauchsanleitungen und der Wikipedia. Also eine gewollt anonym schmucklose Alltagssprache, die aber immer Raum bietet für ironische Verfremdung: Der Autor hat gewissermassen einen Schieberegler, den er virtuos und mit sichtlichem Genuss betätigt. Es darf dann geschmunzelt, ja gelacht werden, sei es über einen kurzen Dialog oder über wunderbare Parodien auf mehreren Seiten, etwa die der Kunstkritik und -philosophie, die Jed zum Thomas von Aquin der Photographie schlagen, oder jenes einfache Gemüt eines Michelin-Managers, der sich, gleichzeitig ungelenk und verschlagen, die Hände über die «Win-win-Strategie» von Kunst und Kommerz reibt, oder über den Exkurs zur Verwertbarkeit von «Heizkörpern in der Kunst».

Grosse Kunst ist, wenn in solch gehobene Unterhaltung – «alles Plauderei», sagte dazu Fontane – elegant der Tiefsinn eingewoben wird. Dies gelingt Houellebecq in genialen und abgrundtiefen Bildern und Gedankengängen, die zu fesseln vermögen, etwa wenn Jed träumt, sich in einem Buch wie in einem Raum zu bewegen, oder in Reflexionen und Dialogen über den Tod (vor allem einem sehr eindrücklichen zwischen Vater und Sohn, der unentschieden bleibt). Houellebecqs Roman ist also fein elaborierte Fiktion und Reflexion, etwas für geneigte, sich zurücklehnende Geniesser; tolpatschige Kritiker, die ob einer fiktiven Person mit gleichem Namen schnurstracks in die Autobiographiefalle treten, sollten besser gleich vom Buch lassen.

Es gehört gewissermassen zum kompositorischen Programm von «Karte und Gebiet», dass die Romanorte wie das zentrale Pariser 13. Arrondissement peinlich genau, gewissermassen kartographisch erfasst sind. Und in der Gegend der Grossmutter Jeds um Châtelus-le-Marcheix, wohin sich dieser schliesslich zurückzieht, fehlen nur die GPS-Angaben, und wir würden uns darin in der Fortbewegung mit einem bequemen und teuren Wagen der Oberklasse, mit welchem man in diesem Roman fährt, perfekt zurechtfinden. Ja, selbst in Zürich stimmt alles (mit Ausnahme des «Widders», der im französischen Original am See liegt). Dieses Prinzip wird im Dorf Souppes-sur-Loing subtil durchbrochen, wo der fiktive Houellebecq seine letzten Lebensjahre verbringt: Zwar existiert es tatsächlich (Postleitzahl: 77460), doch ist es im Roman nicht nur «menschenleer – eine friedliche, strukturbedingte Leere», sondern seine Strassen und Plätze tragen in einer wunderbar grotesken Ironie nur Philosophennamen.

Hier in Souppes mutiert das Buch in seinem dritten Teil zu einem roman policier (mehr als einem «Krimi»). Wiederum gelingt es Houellebecq perfekt, artistische, ja fast metaphysische Spannung zu erzeugen zwischen der bedächtigen, aber letztlich fachmännischen Arbeit der Polizeikommissare und dem scheusslichen Verbrechen, das dem fiktiven Houellebecq und seinem Hund Plato widerfährt: Was auf den ersten Blick nach einem Ritualmord oder Mord als Kunst(performance) aussieht, reiht sich schliesslich in die allgemeinen, gewöhnlichen Verbrechen ein. Das dank des Beizugs von Jed als gestohlen erkannte Portrait Houellebecqs ist hier nicht die Wahrheit, zeigt aber, durch seine Abwesenheit, auf die bittere Wahrheit: Verbrechen werden des Geldes wegen begangen. Und ohne Pathos, fast unbemerkt, aber nicht minder illusionslos gibt der Autor uns immer wieder zu verstehen: Ob Kunst Kunst ist, entscheidet sich am Preis, am Geld, am (Kunst-)Markt.

So weit, so sehr gut. Doch Houellebecq setzt noch einen drauf: So wie sich sein fiktiver Namensvetter nach seiner Rückkehr nach Frankreich als durchaus angenehmer Zeitgenosse entpuppt, entwickelt sich dieses Frankreich – von Jed, der sich in den letzten dreissig Jahren kauzig in einem riesigen Anwesen verschanzt, fast zufällig noch entdeckt und uns so mitgeteilt – von einer bäurisch-aggressiven Neidgesellschaft zu einer multikulturellen, altruistisch-hedonistischen Dienstleistungsgesellschaft.

Und: Der fiktive Houellebecq liest nur noch Klassiker, und dass er als grössten Tocqueville auffahren lässt, ist schlichtweg genial, und dazu noch den Tocqueville der «Souvenirs»: Erstens, weil dieses Buch so intim ausgelegt war, dass es keinen Leser haben sollte – was ja gleichzeitig auch den Tod des Buches bedeuten würde. Zweitens, weil dieser radikal ungeschminkte Spiegel seiner selbst und seiner Zeitgenossen, dieses fast onanistische Betrachten der menschlichen Gesellschaft und des Menschen, in all seinen sozialen Tugenden und Lastern auf hohem Niveau scheitern musste.

Am Schluss ist auch Houellebecqs Roman die gelungene Darstellung des Scheiterns: Scheitern der Hauptfigur und der Menschheit überhaupt, die in der Slow Motion der Kunst buchstäblich im Vegetabilen versinkt, aber in einer friedlichen, ja irgendwie sogar heiteren Atmosphäre. Wir, die Menschen, sind «kulturelle Produkte», und am Schluss verschluckt uns das «Gebiet». Das erinnert an Michel Foucaults «Les mots et les choses», wo die kurze Klammer des Menschen wie eine Figur im Sand verschwindet oder, noch treffender wohl, an Dubslav, der nach dem Diktum der Melusine am Schluss im Stechlin-See und -Gebiet untergeht.

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