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Immer schön von unten links nach oben rechts

Während die Zeitungen im Wirtschaftsteil zu verstehen versuchen, wer die Finanzkrise angerichtet hat, liefert die Lausanner Schriftstellerin und Filmemacherin Marie-Jeanne Urech eine grandios schräge Vision des Börsensturzes. Ihr Roman «Mein sehr lieber Herr Schönengel» – auf Französisch schon 2006 vor der Finanzkrise erschienen – schildert eine vordergründig absurde Welt, in der sich stilistisch Kafka und […]

Während die Zeitungen im Wirtschaftsteil zu verstehen versuchen, wer die Finanzkrise angerichtet hat, liefert die Lausanner Schriftstellerin und Filmemacherin Marie-Jeanne Urech eine grandios schräge Vision des Börsensturzes. Ihr Roman «Mein sehr lieber Herr Schönengel» – auf Französisch schon 2006 vor der Finanzkrise erschienen – schildert eine vordergründig absurde Welt, in der sich stilistisch Kafka und Orwell begegnen. Arthur Schönengel tritt in den Dienst der BUDE, eines gewaltigen Firmenkomplexes, der alle Menschen zu nichtssagenden Rädchen mit dem Namen «Weisslich» stempelt. Einzig die Anrede signalisiert unterschiedliche Hierarchiestufen. Zuoberst regiert «Unser Brillanter Pantheonischer Durchlauchtigster … Sehr Lieber Herr Weisslich».

Drunten im Keller dagegen hocken die kleinen Arbeitstiere in einer sterilen Koje und verrichten stumpfsinnige Dinge. Auch Arthur Schönengel zeichnet den lieben, langen Tag nur ansteigende Striche, von links unten nach rechts oben. Die hat er im Blut. Im Unterschied zu seinen Kollegen erlaubt er sich aber einen Rest Renitenz, indem er seinen richtigen Namen nicht vergisst und sich am Sonntag frei nimmt. Derlei wird nicht bestraft; denn die BUDE ist keine Diktatur, sondern bloss eine gehorsam akzeptierte Tretmühle. «Nichts zwang ihn, in der Tat, aber alles trieb ihn dazu.» Schönengels Tun ist dennoch von spezieller Wichtigkeit. Der Firmenerfolg, erfährt er, hänge ganz von seinen Strichen ab. Je akkurater und kühner sie ansteigen, umso besser.

Kann das Börsenwesen boshafter, komischer dargestellt werden? Im Jahr 2010 liest sich dieser Roman als freche Paraphrase auf den ökonomischen Selbstlauf, der von unverständlichen Finanzinstrumenten angetrieben wird. Urech hat dafür eine wunderbar schlichte, präzise Sprache gefunden – von Claudia Steinitz trefflich übersetzt –, die die Parabel lächelnd zum Leuchten bringt. Trotz dem geschilderten Leerlauf bleibt das Romangeschehen behutsam in Gang und hält so die Spannung. Schliesslich bricht die Krise exakt in dem Moment aus, wo die Diskrepanz zwischen den akkuraten Strichen und dem Geschäft offenkundig wird. Vielleicht liegt es daran, dass Schönengel – um der Anmut willen – nur noch Bäume zeichnet, die Striche schön nach oben gerichtet. Die Firmenköpfe purzeln einer um den andern und werden als leuchtende Kugeln an den Weihnachtsbaum gehängt.

Marie-Jeanne Urech: «Mein sehr lieber Herr Schönengel». Zürich: Bilger, 2009

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