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Hans Jost Frey 1/2

Man soll von dem reden, worüber man nicht sprechen kann

Was heisst es, einen literarischen Text beim Wort zu nehmen? Nimmt man jemanden beim Wort, so behaftet man ihn bei seinen Aussagen. Man achtet auf die Bedeutung seiner Worte und weniger oder gar nicht auf die Art und Weise, wie diese Worte verwendet werden. Literatur beim Wort nehmen, heisst jedoch, auf beide Dimensionen zu achten, sowohl auf die Bedeutung des Gesagten wie auf die Sprachlichkeit des Sagens. Zwischen dem Sagen und dem Gesagten spannt sich ein literarischer Text auf. Keiner der beiden Bereiche kann sich verselbstständigen; denn, um gesagt zu werden, muss jede Bedeutung vermittelt werden durch eine bestimmte Weise des Sagens, die ihrerseits etwas sagen will. Keine dritte Instanz, kein abgelöstes begriffliches Denken vermag diese Spannung von aussen aufzulösen. Für Hans Jost Frey ist es Aufgabe des Lesers, das Sinnpotential, das sich in dieser Spannung verbirgt, in allen seinen Möglichkeiten zu entfalten.

2007 publizierte Hans Jost Frey ein Buch, das er Maurice Blanchot, dem 2003 verstorbenen französischen Dichter und Literaturtheoretiker widmete.* Es trägt den Untertitel «Das Ende der Sprache schreiben». Blanchots Interesse gehörte unter anderem der Frage nach dem Tod, dem Vergessen, dem Schweigen und der Abwesenheit in Verbindung zur Sprache. Anhand der Texte Blanchots denkt Hans Jost Frey vor allem über die Beziehung von Tod, Reden und Schreiben nach. Zuerst stellt er eine innere Widersprüchlichkeit des Todes fest. Gibt der Tod, als das Ende eines Lebens, einerseits die Möglichkeit, dieses ganz zu überblicken und ihm einen endgültigen Sinn zu verleihen, so stellt er anderseits durch seinen Eintritt ins Leben gerade das Ende dieser Möglichkeit dar. Dieser einfache Grundsatz vermag eine Obsession für die Endlosigkeit des Lebens auszulösen; denn der Tod kann für den Sterbenden nie Gegenwart sein. Er ist nie jetzt. Er kann nur repräsentiert werden. Man kann wohl über den eigenen Tod als bevorstehendes Ereignis reden. Aber dieses Sprechen über das Ende bleibt in sich endlos, weil das Ende des Sprechens nicht gesagt werden kann. Für dieses endlose Reden interessiert sich Blanchot. Frey kommentiert zwei seiner Erzählungen – «Le dernier homme» und «Celui qui ne m’accompagnait pas» –, in denen er versucht, die Bedingungen der Möglichkeit für eine solche endlich-unendliche Rede zu erkunden. Sie ist eine unpersönliche Rede, die den Redenden als lebendige Person überlebt. Ihr Raum zu geben, sieht Blanchot als Aufgabe der Literatur an, denn sie steht mit dem Augenblick des Todes, der nie Gegenwart sein kann, in enger Verwandtschaft.

Sprache findet in einem ähnlichen Dilemma statt. Sie versucht, sich die Dinge verfügbar zu machen, sie in die Sprache hineinzuholen, indem sie jene benennt und über sie spricht. Aber als sprachlich repräsentierte gehen die Dinge ihrer Gegenwärtigkeit gerade verlustig. So bellt ein Hund im Satz «Der Hund bellt» eben nicht. Das einzig Gegenwärtige der Sprache ist ihr Vollzugscharakter, ihre Materialität, das Erklingen einer Rede oder die Bildhaftigkeit der Schrift. Indem die Sprache geschieht, kann sie als Vollziehende nie selber Gegenstand ihrer Rede sein. Sie kann nie gesagt werden, weil eben jedes Gesagte zuerst gesagt werden muss. Sie ist somit der aussersprachliche Rest in der Sprache selbst. Gemäss Blanchot besteht die paradoxe Aufgabe der Literatur gerade darin, diesen Rest sprechend zu erreichen. Oder wie Frey sagt: «Die Literatur ist immer auf das hin unterwegs, von dem sie sich gleichzeitig dadurch entfernt, dass sie stattfindet». Und: «Die Literatur ist auf die Präsenz hin unterwegs, deren Entzug ihre Voraussetzung ist». Literatur geschieht als der unablässige Entzug von Gegenwart und ist daher geeignet, der endlosen Rede vom Ende der Rede Gestalt zu verleihen.

Es erscheint daher beinahe als eine Konsequenz aus dem bisher Gesagten, dass Hans Jost Frey sich in seinem nächsten Buch Dante und seine berühmte fiktive Reise ins Jenseits vornimmt.** Wie um gleich von Anfang an klarzustellen, dass es sich nicht um eine weitere, hochspezialisierte Dantestudie handelt, fügt Hans Jost Frey im Untertitel hinzu, was in Form von 25 Kapiteln vorliege, seien «fünfundzwanzig Lesespäne». Diese Metapher verweist einerseits auf die Intensität der Lektüre und anderseits auf eine gewisse Unbekümmertheit in der Anordnung der einzelnen Kapitel, die es dem Leser erlaubt, irgendwo einzusteigen. Dadurch erhält die Lektüre dieses Buches etwas Spielerisches und Lustvolles, was durchaus dem sprachlichen Duktus der «Divina Commedia» entspricht. Dass Hans Jost Frey praktisch keine Sekundärliteratur zitiert, bedeutet nicht etwa deren Geringschätzung, sondern ist wohl eher als der Versuch eines interessierten und aufmerksamen Lesers zu deuten, einen eigenen Weg durch das Dickicht der dantischen Verse zu bahnen. Bei einem Werk, bei dem jedes auch noch so kleine Detail von Hunderten gelehrter Kommentare belegt und teilweise auch besetzt ist, braucht es Mut, sich vor allem auf die eigene Leseerfahrung abzustützen.

Die diskontinuierliche Anordnung der einzelnen Lesespäne durchbricht jeweils den linear fortschreitenden Reisebericht Dantes. Sie gibt Gelegenheit, quer zu diesem Bezüge zwischen den einzelnen Gesängen sowie zu den andern Schriften Dantes herzustellen. Scheinbar weit entlegene Textstellen können gegenüber nahe liegenden bevorzugt werden. Dadurch hat der Leser das Gefühl, immer gleich nahe am Versuch Dantes zu sein, die überirdischen, zum Teil monströsen, zum Teil unsinnlichen Begebenheiten in eine sinnliche und höchst verfeinerte Kunstsprache zu übertragen. Dieses Gefühl hält den Leser wach. Er lernt, sich in einem Meer unzähliger Bezüge zu orientieren, sei es nach Klängen, sei es nach sprachlichen Bildern oder inhaltlichen Verweisen. Obwohl das Dantebuch Freys keine Einführung in das wohl berühmteste literarische Werk des Mittelalters sein will, erhält man als Leser trotzdem den Eindruck, Wesentliches darüber zu erfahren. Das über die «Göttliche Komödie» erworbene Wissen wird immer

nahe am Text, anhand von Verständnisproblemen entwickelt. Auf diese Weise entsteht ein lebendiger Bezug zu diesem gut 700 Jahre alten Text, in dem Fragestellungen deutlich werden, die uns noch heute beschäftigen.

Als Beispiel möchte ich die Frage der möglichen Existenz einer allen Menschen gemeinsamen Universalsprache anführen, ein höchst aktuelles Problem in der Zeit der Globalisierung mit Englisch als Universalsprache. Die Frage der Beziehung von Mehrsprachigkeit und Universalsprache tritt auf im 31. Gesang der Hölle. Es geht um einen Schacht, der den achten vom neunten Kreis der Hölle trennt. In ihm stehen ringsum Riesen, die Dante fälschlicherweise zuerst als Türme sieht. Diese Verwechslung auf der Ebene der Sinneswahrnehmung nimmt Hans Jost Frey zum Anlass, über das Verhältnis der Sprachen untereinander nachzudenken. In dieser Verwechslung liegt eine Mehrdeutigkeit vor. Für Dante kann das, was vor seinen Augen erscheint, sowohl ein Riese wie auch ein Turm sein. Dieselbe Erscheinung kann Verschiedenes bedeuten, was wir in der Sprache als Phänomen der Mehrdeutigkeit bezeichnen. Ein Wortlaut kann verschiedene Sinne haben, wobei das Wort Sinn gerade so einen Wortlaut darstellt. «Sinn» kann sich sowohl auf die sinnlich wahrnehmbare Komponente eines Wortes, wie auch auf seine abstrakte Bedeutung beziehen. Indem aber ein Klang mehrere Bedeutungen haben kann, lockert sich die Beziehung zwischen Lautkörper und Bedeutung. Ein ähnliches Phänomen findet zwischen den Sprachen statt, indem eine Bedeutung, etwa «Riese» durch verschiedene Klänge – «Riese», «gigante», «géant» usw. – wiedergegeben wird. In der Vielsprachigkeit können verschiedene Klänge dieselbe Bedeutung tragen. Mehrdeutigkeit und Vielsprachigkeit entsprechen sich somit spiegelbildlich. Der Beziehung mehrerer Bedeutungen und eines Klangs steht diejenige mehrerer Klänge und einer Bedeutung gegenüber. Spiegelachse ist die Vorstellung einer Universalsprache, in der einer Bedeutung genau ein Klang entspricht und umgekehrt.

Der Zusammenhang dieser Überlegungen mit der erwähnten Stelle in der «Göttlichen Komödie» besteht darin, dass einer der Riesen Nimrod ist, der massgeblich am Turmbau zu Babel beteiligt war (Gen. 10,8–10) und der folglich für die Sprachverwirrung und damit für den Übergang von einer Ursprache in eine Vielheit von Sprachen verantwortlich zeichnet. Wichtig ist nun, dass Dante und mit ihm Hans Jost Frey diesen Übergang nicht als einen Nachteil für die Menschheit, sondern als eine Chance sieht, die, vor allem von der Literatur, seit ihrem Bestehen wahrgenommen wird. Es handelt sich um eine produktive Vorstellung von Mehrdeutigkeit und Mehrsprachigkeit, die entgegen der Behauptung, zwecks eines besseren Verständnisses unter den Menschen könne und dürfe es nur eine Sprache geben, als eine Möglichkeit zur Erkenntniserweiterung verstanden wird. Aber «diese poetische Möglichkeit des Umschlagens des Verlusts in Gewinn ist an ein Verweilen bei der Sprache gebunden». Es ist dann «nicht mehr möglich, das Gesagte einer Rede von der Art ihres Gesagtwerdens abzulösen und die Sprache auf das hin zu verlassen, was durch sie vermittelt wird».

Solche Überlegungen zum Erkenntniswert der Poesie erinnern an einen anderen wichtigen, von Dante in Lateinisch verfassten Text, «De vulgari eloquentia», auf welchen Hans Jost Frey ebenfalls eingeht. In ihm versucht Dante, nach dem Vorbild der Stabilität des Lateinischen, eine aus verschiedenen Dialekten des damaligen Italien zusammengesetzte literarische Hochsprache, somit eine mehrsprachige Einheitssprache, zu bilden, in der die «Göttliche Komödie» verfasst ist und aus der sich immerhin das heutige Italienisch entwickelt hat. Dieser produktive Umgang mit der Mehrsprachigkeit verweist darauf, wie sehr Dante die Sprachlichkeit der durch Sprache vermittelten Inhalte ernst nimmt, jene Doppelgesichtigkeit der Sprache, die weder nur ganz Gesagtes noch ganz Sagen sein kann, sondern die beides, obwohl sie sich gegenseitig ausschliessen, gleichzeitig in sich birgt – ein geheimnisvoller Tatbestand, der letztlich den Menschen in seinem Denken und Fühlen ausmacht und dem die Literatur auf ihre Weise gerecht zu werden versucht.

* Hans Jost Frey: «Maurice Blanchot. Das Ende der Sprache schreiben». Basel/Weil am Rhein: Urs Engeler Editor, 2007.

** Hans Jost Frey: «Dante. Fünfundzwanzig Lesespäne». Basel/Weil am Rhein: Urs Engeler Editor, 2008.

Marco Baschera, geboren 1952, ist Mittelschullehrer und Titularprofessor für moderne französische und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.

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