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Einwurf #1: 99 Prozent der Gesellschaft

Wenn das liberale Lager so gross ist, wie es sich in der Öffentlichkeit darstellt, muss es endlich politische Erfolge erzielen.

Gibt es hierzulande noch Menschen, die sich nicht für liberal halten? Andrea Stauffacher vom Revolutionären Aufbau Schweiz dürfte zu nennen sein oder vielleicht Vitus Huonder, der Bischof von Chur – bekennende Nichtliberale sind auf eine kleine Randgruppe geschrumpft. Leute, die sich für liberal halten, bevölkern dagegen heute die Juso, die Auns, die CVP, die SVP. Nicht nur Walter Wobmann von der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» steht seinem Smartspider gemäss klar für eine liberale Wirtschaftspolitik ein (und ein bisschen auch für eine liberale Gesellschaft). Auch sein Co-Initiant Ulrich Schlüer, Verleger der vermeintlich erzkonservativen «Schweizerzeit», vertritt wirtschaftsliberale Positionen. Auf der anderen Seite gibt es unzählige Gesellschaftsliberale, die das Übel der Welt von wirtschaftsliberaler Seite ausgehen sehen. Doch auch sie sind gespalten in Sozialisten, die eine Überwindung der Marktwirtschaft anstreben, und in Sozialdemokraten, die ihre Ziele innerhalb der Marktwirtschaft erreichen wollen.

Von zentraler Bedeutung ist für alle Liberalen der Freiheitsbegriff. Ist es also sinnvoller, eine klarere Trennung zwischen negativen und positiven Freiheitsbildern vorzunehmen, wie sie Isaiah Berlin 1958 in «Two Concepts of Liberty» vorgeschlagen hat? Erinnern wir uns: die Advokaten negativer Freiheiten verlangen vom Staat, sich aus fast allem herauszuhalten: er soll lediglich Polizei, Justiz und Armee regeln und grundsätzliche Rahmenbedingungen aufstellen, so dass frei gehandelt werden kann. Advokaten positiver Freiheiten dagegen fordern einen aktiv gestaltenden Staat: er soll unterschiedliche Startbedingungen seiner in- und ausländischen Bürger ausgleichen und ihnen allen gleiche Chancen ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen. Liberale Grundlagen wie Eigenverantwortung und Individualität werden von ihnen nicht als gegeben angesehen, sondern als eine Befähigung, die nur mit staatlichen Eingriffen erreicht werden kann. Mit dieser Argumentation lässt sich jede Subvention rechtfertigen. Folglich sind ganze Industriezweige gewachsen, die auf Kosten des Steuerzahlers versuchen, Nachteile in Chancen zu verwandeln.

Dass sich heute fast alle als Menschen sehen, die für liberale Werte einstehen, ist ein erfreulicher Erfolg. Das heisst aber auch, dass der Begriff kaum mehr tauglich ist, politische Haltungen zu differenzieren. Wie links und rechts, progressiv und konservativ kann auch liberal – je nach Standpunkt und Blickrichtung – alles Mögliche bedeuten: die «liberals» und «conservatives» lassen aus den USA grüssen. Also bleibt nur, die eigene Haltung zu betonen: Je nach Akzentuierung steht es Liberalen offen, sich Freisinnige oder Freiheitler zu nennen, Marktwirtschaftler, Staatsrückbauer, Subventionsabbauer, Kapitalisten, Libertäre, Deregulierer, Unabhängige, Selbständige, Eigenverantwortliche oder auch als Freidenker, Freigeister, Antiautoritäre, Anarchisten, Libertins, Bohémiens, Nonkonformisten, Chancenermöglicher.

Sollte das liberale Lager tatsächlich so gross sein, wie es sich in der Öffentlichkeit darstellt, dann müssen endlich politische Erfolge her. Die anderen Liberalen als die «falschen» Liberalen zu brandmarken, ist kontraproduktiv – Freiheit gilt, oder sie gilt nicht. Angestrebt werden muss vielmehr die punktuelle Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen freiheitlichen Lagern. Sie gelingt mit der offenen Kommunikation der liberalen Gegenüber und mit dem Respekt für unterschiedliche Weltanschauungen und Identitäten – ob einer Krawatte oder Turnschuhe trägt, ist keine wichtige Frage. Die wichtige Frage lautet: Wenn angeblich gerade mal 1 Prozent der Bürger nicht liberal sind und diese am Rande der Gesellschaft stehen – wieso erreichen dann die 99 Prozent, die sich als liberal verstehen, ihre Ziele nicht? Dem kritischen, von grossen Selbstbeschreibungen und Grundwertdebatten unbeeindruckten Beobachter bleibt nur, genau hinzuschauen, wie die Leute handeln. Auch bekennende Liberale, manchmal gerade sie, schränken die Handlungsfreiheit der Bürger ein: Sie stimmen neuen Verboten und Regulierungen zu, greifen in die Privatsphäre ein, beschneiden freiheitliche Grundrechte, gehen freigiebig mit erarbeitetem Geld um. An ihren Taten sind sie zu erkennen.

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So nonkonform dann aber auch nicht: «Mohawks», photographiert 1998 in Rotterdam von Ari Versluis & Ellie Uyttenbroek. Aus der Reihe «Exactitudes», Nr. 18.
Anarchy in the CH!

Wie die Liberalen in der Schweiz 1848 den Liberalismus abschafften, und warum die Besinnung auf anarchistische Wurzeln ihnen auch 2017 gut täte.

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