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Einigkeit und Recht und Freiheit

Sein Interesse beginnt dort, wo andere nicht weiterbohren wollen. Seine Quellenarbeit erschüttert weitverbreitete Geschichtsbilder – und damit gleichzeitig unseren Blick auf die Gegenwart. Der deutsche Historiker Götz Aly im Gespräch über Gleichheit, Neid und Rassenhass. Oder kürzer: über nationalen Sozialismus.

Einigkeit und Recht und Freiheit

Herr Aly, Sie erhalten dieses Jahr den Ludwig-Börne-Preis – einen Preis für den Mut, unliebsame Meinungen öffentlich zu äussern. Wenn aber diejenigen, die von ihrer Meinungsfreiheit wirklich ­Gebrauch machen, mit viel Brimborium in der Frankfurter Paulskirche dafür ausgezeichnet werden müssen, kann es nicht besonders gut um die Meinungsfreiheit stehen…

Wie in jedem angeblich liberalen Land sind wir von Tabus umstellt, auch von Denktabus. Schauen Sie sich den deutschen Medien­betrieb an: Die meisten Redakteure laufen den ganzen Tag auf­gescheucht herum und überlegen, was man alles nicht sagen und nicht denken darf. Die meisten deutschen Historiker verhalten sich als Gesinnungswarte; sie wollen nicht hören, dass die deutsche Krankenversicherung für Rentner oder das Kindergeld von Hitler eingeführt worden sind und dass wir von ihm unsere schönsten Naturschutzgesetze haben. Solche Tabus verhindern Erkenntnis. Sie verhindern halbwegs realistische Antworten auf die Frage, warum der Nationalsozialismus für so viele Deutsche ­attraktiv war.

Was heisst, man darf nicht? Die Frage ist doch: Warum spricht man nicht darüber? Debatten sind etwas Spannendes.

Und etwas Anstrengendes! Das sozialdemokratische Weltbild hat sich insgesamt erfolgreich durchgesetzt. Wer unliebsame Wahrheiten ausspricht oder etablierte Ansichten zur Disposition stellt, macht sich unbeliebt. Und der Mensch ist eben ein bequemes ­Wesen. Das gilt gerade für die Deutung der deutschen Geschichte – egal ob das Thema nun der Nationalsozialismus oder die 68er
Bewegung ist. Die historischen Themen sind in ihre Schubladen einsortiert. Auch Universitäten, die Institutionen also, in denen die Geschichte diskutiert und erforscht werden sollte, sind heute im wesentlichen durchsozialdemokratisiert. Man glaubt, die Forschung habe sich in diese oder jene Richtung zu entwickeln, und wacht mit Argusaugen darüber. Wer davon abweicht, ist suspekt.

Konkreter?

Die Sprecher der vorherrschenden Meinung deklarieren die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands als «Sonderfall», der historisch einmalig und nur durch «blinden Rassenhass» ­erklärbar sei. Das stimmt aber nicht. Man kann die Entstehung des Nationalsozialismus historisch herleiten, die Voraussetzungen mit den normalen Mitteln der Historiographie beschreiben. Wenn man sich natürlich einzig die deutschen Verbrechen nach 1933 ansehen möchte und dann sagt: «Ich will nicht, dass diese zu unserer Geschichte gehören», dann verstehe ich das. Ebenso verstehe ich, dass, wenn jemand ein Kind totgefahren hat, der Fahrer und seine Familie nicht wollen, dass den ganzen Tag darüber gesprochen wird. Aber Historiker haben nun mal die Aufgabe, sich mit diesen unangenehmen Dingen zu beschäftigen.

Das ist auch eine Frage der Methode. Ihr Ziel ist es, dass sich die Leute in die historischen Szenarien mehr hineindenken, statt sich bloss rückblickend zu schämen.

Es gibt eine verständliche menschliche Tendenz, den National­sozialismus aus der deutschen Geschichte auszugliedern. Dagegen arbeite ich mit meinen bescheidenen Mitteln an. Meine Bücher funktionieren anders als der Schulunterricht und auch anders als die monatlich wiederkehrenden NS-Stories im «Spiegel»: Sie sind quellenbezogen, rücken die Geschehnisse in ihren historischen Kontext und beugen so dem NS-Abwehrreflex des Lesers vor, der sich unbedingt auf der besseren Seite sehen möchte.

Ihre Arbeit hat Ihnen aber nicht nur Lorbeeren für die freie Rede eingebracht. Wer sich wie Sie in Deutschland mit dem tradierten Geschichtsbild anlegt, sieht sich Verharmlosungsvorwürfen ausgesetzt. Wie stehen Sie dazu?

Diese Vorwürfe sind haltlos. Meine Methode führt einfach nicht zu jenem populären Geschichtsbild von den vielen Opfern einerseits, mit denen man sich heute leicht identifizieren kann, und den verhältnismässig wenigen Mördern andererseits, die zu verabscheuen sind. Ich spreche immer wieder von den vielen Millionen Deutschen dazwischen. Sie schufen die politischen Voraussetzungen, bildeten den Boden für alle diese Verbrechen, die heute – das ist ein grosser Fortschritt – nicht mehr strittig sind.

Dann holen wir also einmal tief Luft und begeben uns zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Die traditionelle deutsche Geschichtsschreibung sagt: Adolf Hitler konnte nur darum an die Macht ­kommen, weil die Arbeiterbewegung sich gespalten hat und damit kein politischer Gegenpol zur NSDAP mehr existierte.

Das stimmt so nicht! Wesentlicher ist, dass es in der Weimarer ­Republik kein liberales politisches Ideenzentrum gab. Auf die Frage, warum die demokratischen Parteien – abgesehen von der sozialdemokratischen – Hitlers Ermächtigungsgesetze im Frühjahr 1933 im Parlament durchgewinkt haben, gibt es nur eine Antwort: Diese Parteien und die Mehrheit der deutschen Bevölkerung teilten mit Hitler die Überzeugung, dass die «vom Ausland her ­liberalistisch beeinflusste Misswirtschaft» der Weimarer Zeit endlich überwunden werden müsste. Gemeint waren damit: der freie Handel und der grassierende «Kulturbolschewismus», also populärkulturelle Phänomene wie Jazz, aber auch expressionistische Kunst usw. Um all das – kulturelle Vielfalt, Differenz, Meinungsstreit, Freiheitslust – zu überwinden, bedurfte es 1933 nach Ansicht einer gesellschaftlichen Mehrheit in Deutschland einer entschlossenen nationalen Führung, einer Politik der «starken Hand». Der Begriff «Liberalismus» war in Deutschland seit den späten Tagen Bismarcks zum Schimpfwort geworden, und zwar für alle Parteien.

Ähnliche Ressentiments finden wir heute hinter den Stigmabegriffen «Neoliberalismus» und «Multikulti» wieder. Aber bleiben wir beim Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Das Land ging ­anders aus ihm hervor, als es hineinging: als grosser europäischer Verlierer. Und wichtiger: als ein Land, das sich vor materieller, ­politischer und kultureller Enteignung fürchtete.

Das ist ein wichtiger Punkt. Fakt ist, dass sich etwa 60 Millionen Menschen eingeschlossen wie in einer Festung fühlten, immer weniger Nahrung hatten und auch in einem bis dahin unbekannten Masse als Familien unter den Kriegsfolgen litten – viele waren tot oder schwer verletzt. Im Ersten Weltkrieg und in den Krisenjahren danach fand deshalb ein Umschmieden sozialdemokratischer Postulate in einen sozial-nationalen Kollektivismus statt – massenhaft und aus situativ nachvollziehbaren Gründen. Es lag doch nahe, dass man sich in einer solchen Zeit sagte: «Wir müssen als Nation zusammenhalten, und es muss für soziale Gerechtigkeit gesorgt werden.» Das war Deutschlands neuer national-sozialer Pakt, den die Deutschen während des Ersten Weltkriegs und dann dauerhaft, also für die Zeit nach dem angepeilten Sieg, beschlossen und besiegelten. Metaphorisch gesprochen: Der neue, aggressive und kollektivistische Freiheitsbegriff, die «Freiheit des deutschen Volkes», wurde so zur Rinde des deutschen «Eichenbaums», zum Schutz gegen aussen. Und das Ideal der Gleichheit, verstanden nicht als Chancengleichheit, sondern als Gleichheit der materiellen Lebensbedingungen, wurde so weit getrieben, dass jeder Deutsche sich als Zelle dieses Baumes verstehen sollte. Diese Zelle bildet keinen eigenen, freien, für sich selbst verantwortlichen ­Organismus, vielmehr steht und fällt sie mit dem gesamten Baum, bleibt individuell ohnmächtig an die Schicksalsgemeinschaft des Baumes gekettet. «Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen», so heisst es auf einem Hamburger Denkmal für die ­Gefallenen des Ersten Weltkrieges.

Sie vertreten in Ihrem neusten Buch «Warum die Deutschen? ­Warum die Juden?» die These, dass die Kombination aus spezifisch deutschem Freiheits- und Gleichheitsbegriff den Boden für den Nationalsozialismus bereitete. Dazu kommt eine spezielle Form des kollektiven Neids, den der totale deutsche Staat instrumentalisierte. Beginnen wir mit der Klärung des Freiheitsbegriffs…

Gestatten Sie mir, mit der Vorgeschichte ein bisschen auszuholen?

Nur zu.

Bis 1918 bestand Deutschland aus unterschiedlichen Staaten und Territorialherrschaften, die miteinander wenig gemein hatten. Erst seit 1934 steht in deutschen Pässen als Nationalität «deutsch», vorher stand dort «preussisch», «sächsisch» oder «bayerisch». Die Deutschen hatten weder ein geeintes Land noch ein nationales Selbstbewusstsein. Es fehlten das bürgerliche Bewusstsein und der bürgerliche Stolz. Ein Franzose um 1880 brauchte sich nicht zu fragen, was «französisch» sei – und vor allem hatte er kein kulturell verwurzeltes Unterlegenheitsgefühl gegenüber seinen Nachbarn. In Frankreich gab es schon damals einen starken und selbstverständlichen Nationalismus. Die Deutschen dagegen litten unter Phantomschmerzen, mussten sich ständig fragen, wer sie denn seien. Aus eigener Kraft hatten die Deutschen keine Nation zuwege gebracht. Eben deshalb bewahrten sie sich ihren knechtischen Sinn.

Einen knechtischen Sinn? Was hat das mit dem Freiheitsbegriff der Deutschen zu tun?

Den deutschen Nationalrevolutionären des frühen 19. Jahrhunderts ging es niemals um individuelle Freiheit. Davor hatten sie Angst. Geduckt, unfrei und erniedrigt, verlangten sie nach Gleichheit. Das bezeichne ich als «knechtischen Sinn». Thomas Mann nannte die damaligen nationaldemokratischen Wort­führer wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, den berühmten Turnvater, schlicht «Rüpeldemokraten». Heinrich Heine verabscheute diese «volkstümelnden Championen der ­Nationalität», weil sie den «rohen Pöbel» mit Wörtern wie «Vaterland, Deutschland, Glauben der Väter» elektrisierten und Begriffe wie «Menschheit, Weltbürgerthum, Vernunft, Wahrheit» verachteten. Die Deutschen waren auf der Suche nach einer ­nationalen Identität, aber sie waren keine Nationalisten. Da sie materiell und territorial keine Anhaltspunkte für eine Einheit finden konnten, behalfen sie sich anderweitig. Sie konnten sich nicht auf ein geschlossenes, seit vielen Jahrhunderten geformtes Territorium berufen, wie das in Frankreich der Fall war. Stattdessen wichen sie in ihren romantischen  Sprach- und Kulturnationalismus aus, nach dem Motto «So weit die deutsche Zunge reicht». Bei der Vielfalt der ober- und niederdeutschen Dialekte mussten die Ergebnisse willkürlicher Natur sein. Mit demselben Recht, mit dem man Flensburger und Konstanzer zusammenspannte, hätte man auch sagen können: «Wir bilden eine Nation zwischen Kopenhagen und Antwerpen, denn die Kopenhagener sprechen ähnlich wie die Antwerpener.»

Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen: Wenn man keine Gemeinsamkeiten im Inneren hat, so muss man die Gemeinsamkeiten in der Abgrenzung nach aussen konstruieren.

Genau. Die deutschen Nationalisten um 1800, Johann Gottlieb Fichte beispielsweise, schauten über den Zaun nach Frankreich und mochten die Französische Revolution. Die sahen sich ihre Prinzipien – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – an, übernahmen sie, fanden sie prima. Aber: den zentralen Begriff der «Freiheit» importierten sie als einen nach aussen gerichteten Begriff. Sie bezogen ihn schon nach wenigen Jahren nicht mehr auf das Individuum und seine Möglichkeiten, sondern bloss auf die Nation. So machten sie aus einem individualistischen ein kollektivistisches Ideal – praktisch schon vom zweiten Tag an. «Freiheit» wurde zu einem Kampfbegriff gegen alles Nichtdeutsche. Deshalb nannten sie die Antinapoleonischen Kriege «Freiheitskriege». Genau dieselbe Rolle spielt der Begriff auch im Dritten Reich. Den Zweiten Weltkrieg nannten die Deutschen «Grossdeutschen Freiheitskampf».

Welche Rolle spielt in dieser «Befreiungslogik» die Gleichheit?

Den Begriff «Gleichheit» importierten die Deutschen ebenfalls aus Frankreich und massen ihm von Anfang an eine wichtigere Rolle bei, eben weil sie auf ihrer am Ende glücklosen Suche nach Einheit, nach einem gesellschaftlich verbindenden Element waren. Nun führte der «Parallelimport» beider Begriffe zwecks Nationsbildung in ein Dilemma: Freiheit und Gleichheit stehen in einem nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis, sie verhalten sich wie widerstreitende Gottheiten, die im Idealfall ewig um Ausgleich ringen müssen. In Deutschland hat es diesen Idealfall nie gegeben.

Es kommt darauf an, was man unter «Gleichheit» versteht. Der Begriff ist höchst interpretationsbedürftig und wurde von ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Seite in Anspruch genommen…

…Gleichheit meint ideengeschichtlich die Gleichstellung vor dem Gesetz und die Chancengleichheit. Völlig verdreht wurde diese Idee durch die Integration in die Gerechtigkeits- und Soziallehre der materiellen Umverteilung, die in Deutschland mit Bismarck Einzug hielt. Die Bismarckschen Sozialreformen, auf die wir bis heute stolz sind, institutionalisierten Ende des 19. Jahrhunderts erstmals die staatliche Durchsetzung von «sozialer Gerechtigkeit» in allen deutschen Ländern – sie war eine mächtige, jedoch protektionistische staatliche Antwort auf die gesellschaftlichen Missstände, die mit dem späten, dann aber extrem schnellen kapitalistischen Aufschwung in Deutschland einhergingen.

Bismarck mag die Absicht gehabt haben, die Deutschen zu will­fährigen Mitgliedern des deutschen Nationalstaats zu machen. Der Impuls für die Reformen kam aber von der Sozialdemokratie, die es – ganz pragmatisch – leid war, immer im Kleinen auf die Rechte der Arbeiter zu pochen.

Das stimmt. Ich werfe der deutschen Sozialdemokratie nicht vor, dass sie seinerzeit propagierte: «Wir sind nur als Kollektiv stark, nur der Massenstreik bringt’s. Wir fordern den 8-Stunden-Tag, das Ende der Kinderarbeit, bessere Bildung für alle!» Aus der Zeit heraus betrachtet waren das hochvernünftige Parolen, dagegen ist nichts einzuwenden. Doch muss man sich klarmachen, dass aus dem historisch Richtigen, dem in einer bestimmten Zeit Guten, eben auch das Böse, sogar das abgrundtief Böse entstehen kann. Die Politik der Sozialdemokratie war notwendig antiliberal. Die SPD schwächte also ­indirekt den ohnehin nur schwach entwickelten Freisinn weiter. Sie sah ­darin den Hauptfeind. Das ist das eine; der andere ­Aspekt ist schlimmer, auch das nicht im Sinne von Schuld, sondern einfach im Sinne historischer Faktizität: Das historische Subjekt der sozialdemokratischen Mühen war ursprünglich das Proletariat, aber im Ersten Weltkrieg trat an diese Stelle unmerklich und unter extremem äusserem Druck das Volk. So wurde der Sozialismus zum nationalen Sozialismus, zum Kriegssozialismus in der belagerten Festung. Infolge der Niederlage, des ersichtlich ungerechten Versailler Friedens und der ­anschliessenden Hyperinflation verfestigte sich dieser Zustand nach 1918.

Das ist eine steile These: Der Bismarcksche Sozialstaat als Steig­bügelhalter der Nationalsozialisten?

Die nationalen Sozialisten bemächtigten sich der sozialstaat­lichen Instrumente, weil sie um deren integrative Wirkung wussten. In Deutschland fand sich ein idealer Nährboden für eine Koppelung von ausgrenzendem Freiheitsbegriff und inkludierendem Gleichheitspostulat. Hier verbanden sich zwei Gleichheitsideen zu einem sehr virulenten Gemisch: der soziale und der nationale Egalitarismus. Ich meine das nicht denunziatorisch – weder gegen Nationalisten noch gegen Sozialisten. Es geht um historische Gemengelagen und um die Frage, wie aus für sich genommen harmlosen, jedenfalls nur mässig gefährlichen Grundelementen eine giftige und explosive Mixtur entstehen kann.

Jetzt sind wir auf unserer Zeitreise an der Jahrhundertwende ­angelangt. Hier endet das «liberale 19. Jahrhundert», wie der deutsche Schriftsteller Stefan Zweig es nannte. Was besiegelt dieses Ende?

Bismarck verabschiedet sich ab 1875 schrittweise vom politischen Liberalismus. Die Bismarcksche Reaktion auf die 1873 eingetretene Wirtschaftskrise war die: mehr nationalstaatlicher Protektionismus, weniger freies Spiel der Marktkräfte, soziale Befriedung statt Freiheit. Deshalb nahm sich Bismarck vor, die Nationalliberale Partei zu zerstören – eine Partei, auf die er sich bis dahin ­gestützt und mit deren Hilfe er eine Fülle liberaler Reformen durchgesetzt hatte.

Wie tat er das?

Eine wichtige Position in diesem Streit nahm der berühmte und wortgewandte Historiker Heinrich von Treitschke ein. Er war von 1871 bis 1884 Mitglied des Deutschen Reichstags – bis 1879 als ­Angehöriger der Nationalliberalen Partei. Er spaltete die Partei und zog die Mehrheit auf die Seite Bismarcks. Das ist der politische, oft übersehene Hintergrund seines berühmten antijüdischen Artikels «Unsere Ansichten», mit dem er im Herbst 1879 den Berliner Antisemitismusstreit auslöste. Die Reste der National­liberalen Partei gingen dann in den folgenden Reichstagswahlen unter. Anders als in der Schweiz wurde damit auch das schöne deutsche Wort für Liberalismus, nämlich Freisinn, in Deutschland aus dem allgemeinen Wortschatz getilgt. Eine Partei, die unter Friedrich Naumann später das Wort Liberalismus usurpierte, hatte die freisinnigen Prinzipien von Anfang an verraten: Naumann ­öffnete den deutschen Liberalismus einerseits zum gewalttätigen Flotten-, Kriegs- und Kolonialimperialismus, andererseits hin zur Sozialdemokratie in Gestalt eines fürsorglich-protektionistischen Nationalsozialismus. Kurz gesagt, lautete der Kern dieses Programms, das Naumann 1897 unter dem Titel «national-sozialer Katechismus» veröffentlichte: «Wir müssen unsere materielle ­Basis erweitern, erfolgreiche Seekriege führen und günstige Friedensschlüsse machen, der Ertrag soll aber dem einfachen Deutschen zugute kommen, denn dessen Lebensverhältnisse müssen verbessert werden.» Sowohl in ihrer imperialen wie in ihrer sozialen Tendenz wurde Naumanns Kombination des Nationalen, Imperialen und Sozialen für die spätere NSDAP anschlussfähig.

Um aber ein ganzes Volk hinter sich zu versammeln, so behaupten Sie in Ihrem neuen Buch, benötigte Hitler mehr als umgedeutete Begriffe und nationalistische Rhetorik: Er bediente sich einer menschlichen Untugend.

Er bediente sich des Neids.

Zunächst: Um welche Regung handelt es sich, anthropologisch ­gesehen, beim Neid eigentlich?

Neid ist ganz zu Recht eine der sieben Todsünden, aber eben die einzige, die keinen Spass macht, während die anderen alle Freude machen. Wollust, Völlerei, Habgier – sie haben alle ihre schönen Seiten. Aber Neid – der macht bloss hässlich. Es ist dieser scheeläugige Blick auf den tatsächlich oder vermeintlich erfolgreicheren Arbeitskollegen oder Nachbarn. Neid findet hauptsächlich in der sozialen Nähe statt: Der Neider möchte nicht unbedingt so werden wie der Beneidete. Er unterstellt dem Beneideten, dieser arbeite mit unredlichen Mitteln, um im selben Atemzug zu behaupten, dass er, der Neider, solche Mittel selbst niemals gebrauchen würde. Eng verwandt mit dem Neid ist auch der Begriff der ­Schadenfreude. Beides sind Gefühle, die man nicht offen zeigen kann, die hinter herabsetzenden, angeblich objek­tiven Behauptungen versteckt werden müssen. Auf dieser Basis konnte dann die wissenschaftlich eingekleidete Ras­sentheorie ihre Wirkung entfalten. Sie besagt doch nur eines: Als Individuen mögen wir den erfolgreichen, geistesgegenwärtigen und weltgewandten Juden unterlegen sein, aber als Angehörige der edelrassigen Germanodeutschen, als Kollektiv, sind wir ihnen an Tiefsinn, Ehrlichkeit, arbeitsfroher Beharrlichkeit, stiller Gläubigkeit turmhoch über­legen.

Einverstanden. Aber emphatisch überhöhte Trugschlüsse müssen nicht zwangsweise zu offener Aggression führen!

Aus dem Neid, der immer auch Ausdruck eigener Schwäche, eigenen Versagens ist, entsprang dieser typische deutsche Antisemitismus: eigentümlich verklemmt, ressentimentgeladen, aber geduckt, äusserlich passiv, innerlich hinterhältig. Ich fürchte auch, dass solche Tendenzen in Deutschland nicht der Vergangenheit angehören. Wenn morgen der Bankenplatz Zürich zusammen­bräche, dann würden womöglich viele Deutsche halblaut und schadenfroh flüstern: «Ach na ja, jetzt erleben die das auch mal. Geschieht es ihnen nicht recht? Haben sich die eingebildeten Schweizer Banker nicht immer etwas zu viel herausgenommen? Gut, wenn sie einmal einen Dämpfer bekommen!» In dieser Tonlage darf man sich das verhaltene öffentliche Echo auf die Entrechtung der Juden im Jahr 1933 vorstellen: Der Neider reagierte damals genauso wie heute, nur unter historisch anderen Vorzeichen. Er macht aus seinen Schwächen Tugenden, was ihn natürlich noch unleidlicher werden lässt und sein Selbstwertgefühl weiter unterhöhlt.

Was meinen Sie konkret?

Der deutsche Neider um 1900 sagte immer wieder den einen, in hunderten antisemitischen Schriften dokumentierten Satz: «Ich bin zwar nicht so schlau wie ein Jude, aber dafür bin ich besonders tiefsinnig.» Ein derart eingestimmter Mehrheitsdeutscher verwandte keine grosse Mühe darauf, seine Intelligenz und sein ­Geschick zu trainieren, sondern begnügte sich mit seiner als «deutschem» Tiefsinn getarnten Langsamkeit. Nehmen wir zur ­Illustration Preussen, das weitaus grösste unter den ansonsten sehr zersplitterten deutschen Ländern: Die Juden machten dort um 1812 ein knappes Prozent der Bevölkerung aus und wurden im selben Jahr weitgehend emanzipiert – deutlich früher als in der Schweiz. Das Gros der preussischen Bevölkerung war damals noch analphabetisch und bäuerisch, ausserdem hatten die Napoleo­nischen Kriege das Land verheert und zum Tod einer ganzen ­Männergeneration geführt. Ein geordnetes Elementarschulwesen fehlte, aber dank der Humboldtschen Reformen verfügte Preussen über wunderbare Gymnasien und Universitäten. Die in Deutschland lebenden Juden konnten dieses Angebot nutzen, weil sie ­alphabetisiert waren, weil Lesen, Schreiben, Diskutieren und Streiten zur Praxis der jüdischen Religion gehört. Um 1800 fingen die Juden an, in den jüdischen Schulen Deutsch zur Unterrichtssprache zu machen, in den Synagogen Deutsch in die Liturgie einzubauen.

Das war das Resultat der deutschen Aufklärung. Sie ermöglichte es den Juden dank neuer, liberaler Gesetze, sich zu emanzipieren und sozial aufzusteigen.

Richtig. Die Juden erfreuten sich der neuen Freiheiten und stürmten nach vorne, während die meisten christlichen Deutschen der guten alten Zeit nachtrauerten, die Freiheit und die damit verbundenen Risiken fürchteten. Die Juden nutzten ihren Bildungs- und Wissensvor­sprung gerade in Deutschland sehr aktiv, während die meisten Deutschen bis 1870 gewissermassen schliefen, dann in den Strudeln eines ungemein heftigen nachholenden Indus­trialismus desorientiert erwachten und sahen, wie sich die meisten Juden in aller Selbstverständlichkeit und auch mit Freude in der neuen Zeit bewegten.

Lässt sich ihr Aufstieg beziffern?

Jüdische Familien in Deutschland überwanden die Klippen des sozialen Aufstiegs drei- bis viermal so schnell wie die deutschen Normalbürger. Jüdische Schüler machten um 1900 zehnmal häufiger Abitur als christliche, die Mädchen besuchten zwölfmal häufiger höhere Töchterschulen. Der enorme Bildungsvorsprung führte natürlich zu höheren Einkommen, zumal den Juden weithin die Beamten- und Militärlaufbahn bis 1918 versperrt blieb. Aber in der freien Wirtschaft, als Selbständiger, als Unternehmer, verdient man besser. So kam es, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg eine durchschnittliche jüdische Familie fünfmal mehr Geld verdiente als eine durchschnittliche christliche. Das sind auch die Themen der  antisemitischen Agitation.

Wie präsentierte sich die Situation in anderen Ländern Europas?

In den östlichen Ländern Europas wurden die Juden konsequent unterdrückt und verfolgt, während sie in Preussen Rechtssicherheit, körperliche Unversehrtheit und Gewerbefreiheit genossen. Ostjüdische Familien, die mit nichts ankamen, acht Kinder hatten und in einem einzigen Zimmer wohnten, drehten in Preussen zu Beginn nachts noch von Hand Zigaretten. Die Kinder verkauften diese Zigaretten dann auf der Strasse. Aber schon diese Kinder gingen bald darauf aufs Gymnasium und wurden gestandene Bürger, die Kinder der nächsten Generation gingen dann auf die Hochschule und leiteten Grossunternehmen – das ging so weiter bis in die Zeit der Weimarer Republik! Die Juden, so kann man sagen, lebten in Deutschland bis dahin sehr sicher. Ihre körperliche ­Unversehrtheit war flächendeckend garantiert.

Was ist mit Frankreich und England?

Von England und Frankreich unterscheidet sich Deutschland in vielerlei Hinsicht. In beiden Ländern war die Nation eine Selbstverständlichkeit, sie musste nicht eigens betont und der innere Frieden nicht mit Hilfe von Fremdenfeindlichkeit hergestellt werden. Die wirtschaftliche, politische und rechtliche Entwicklung verlief in den wichtigsten westeuropäischen Staaten sehr viel gleichmässiger, im übrigen lebten in England und Frankreich deutlich weniger Juden als in den deutschen Ländern. Zwar verlief die bürgerliche Gleichstellung der Juden während der Französischen Revolution und in der napoleonischen Zeit etwas holprig, aber seit 1815 genossen die Juden Frankreichs alle Rechte. Sie stellten Minister, Beamte, Richter, Offiziere und Generäle. Das war ein riesiger Unterschied zu Deutschland. In England dauerte es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, bis Juden und Katholiken mit anglikanischen Briten rechtlich gleichgestellt wurden. Aber nach langem parlamentarischem Hin und Her war dann ein dauerhafter gesellschaftlicher Konsens gefunden, der nicht mehr in Frage ­gestellt wurde. Anders in Deutschland: Hier wurden die Emanzipationsgesetze von oben, von aufgeklärten Fürsten und Staatsmännern verordnet, vom Volk nicht gewollt und dann infolge des Drucks von unten auf der Ebene der Verwaltungen kalt unter­laufen. Natürlich gab es auch im Westen Antisemitismus, aber in einer anderen,
weniger verbreiteten, weniger gefährlichen und ­zähen Form. Die gesellschaftlichen Kräfte, die in Frankreich und England im Zweifelsfall gegen den Antisemitismus aufgeboten werden konnten, waren stark und von nationalem Selbstbewusstsein getragen. In Deutschland schritt nicht die Nachbarschaft ­gegen gewalttätige Judenfeinde ein, sondern die Polizei. Als dort offenbar wurde, dass die Juden aufgrund ihrer Tüchtigkeit sozial viel rascher aufstiegen als ihre trägen Landsleute, begannen die Deutschen, ihren Unmut auf die erfolgreiche Minderheit hin zu kanalisieren.

Verallgemeinern Sie hier nicht einzelne jüdische Erfolgsgeschichten?

Nein. Die Juden waren fleissig und wirklich sehr erfolgreich. Ich lese und höre von Zeitzeugen diesbezüglich immer die gleiche ­Geschichte: «Meine Grossmutter hat erzählt, in unserem Dorf ­hätten damals vier Juden gelebt. Und der eine Jude hat das erste Auto gehabt.» Oder: «Meine Grossmutter erzählte, die hätten sich immer ein bisschen viel herausgenommen.» Die Deutschen hatten einfach ein schlechtes Gefühl, weil sie ihr Leben nicht so erfolgreich vorantrieben wie der eine Jude im Dorf.

Das klingt aber bis dato bloss spiessbürgerlich.

Ich glaube, diese verhaltene Missgunst ist die eigentliche Grundlage für Auschwitz. Sie haben aber recht: Problematisch wird diese Konstellation erst, wenn man den Neid politisch bewirtschaftet. Der Neider verlangt nach Protektion. Er sucht Wege, seine Schwächen zu kaschieren. Er will dann etwa sicher sein, dass keine ­ausländischen Arbeitskräfte oder Waren ins Land kommen, die genauso gut oder besser sind als die eigenen. Er will, dass Sonderrechte für ihn gelten. Das Erfüllen dieses kollektiven Wunsches war schon das Geheimnis der erfolgreichen Bismarckschen Innenpolitik: Ab 1876 betrieb er eine Politik der Protektion.

Wie sieht die aus?

Zum Beispiel bekamen Juden seither immer seltener Staatsämter, obwohl ihnen diese rechtlich zustanden. Die bekamen ganz bevorzugt die Nichtjuden. Diese waren stolz darauf, wenn der Handwerkersohn beamteter Oberschaffner bei der Bahn oder Inspektor bei der Post wurde. Aber: jede Form von Protektion zerstört das angeknackste Selbstbewusstsein ein wenig mehr – und damit auch die Möglichkeit, aus dieser protektiven Abhängigkeit herauszukommen.

Und die Nationalsozialisten binden in der Folge das Soziale ans Nationale und schliessen damit die Juden nicht mehr nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich noch konsequenter aus.

Hitler hatte seine schlagende Idee schon 1923: Er begriff, dass die Ideen des Sozialen und Nationalen zusammengehören – und dass der Internationalismus in der Sozialdemokratie im Grunde ein aufgesetzter, niemals massenwirksamer politischer Gedanke war. In der Weimarer Republik konnten das Nationale und Soziale leicht fusionieren, weil das Gefühl, die Deutschen seien von Feinden umstellt und von fremden Mächten politisch, wirtschaftlich und kulturell bedroht, angesichts des Versailler Vertrags und der unzähligen Folgevereinbarungen und -interventionen ständig neu geschürt wurde, übrigens von allen Parteien, von ganz rechts bis ganz links. Hitler sagte klar: Der Grossteil der deutschen Arbeiterschaft ist auf dem falschen Weg, und wir müssen diese Leute für unsere Idee gewinnen. Die Sozialisten müssen national werden, und die Nationalisten müssen sozial werden! Das ist das politische Kampfziel.

Wächst da ideologisch zusammen, was zusammengehört?

Von links wird das gern bestritten, aber das Soziale war ein ganz starkes Element, das den innenpolitischen Erfolg der NSDAP begründete – erst recht im Zeichen der Weltwirtschaftskrise. 80 Prozent der deutschen Bevölkerung lebten damals am Existenzminimum. Die Leute mussten jeden Pfennig umdrehen, sie hatten Angst, aus der Mietwohnung zu fliegen. Was war dann das erste wichtige, wirklich populäre Gesetz, das die nationalsozialistische Regierung verfügte? Sämtliche rechtskräftigen Titel, um säumige Mieter aus ihren Wohnungen zu werfen oder deren Möbel zu pfänden, wurden gestoppt. Sie durften von den Gerichtsvollziehern nicht mehr vollstreckt werden. Hermann Göring sagte, die Aufgabe des Gerichtsvollziehers sei nicht der Schutz des Gläubigers, sondern der Schutz des Schuldners. Solche Dinge werden in der heute üblichen Geschichtsrezeption vollständig verdrängt.

Hitler kaufte die Zustimmung der deutschen Bürger mitunter mit sozialstaatlichen Wohltaten?

Vollkommen richtig. Die nationalsozialistische Steuerreform von 1934 schuf die Grundlagen unseres heutigen Steuersystems vom Ehegattensplitting über Kinderfreibeträge bis zu den Steuerklassen. Dasselbe gilt für den Mieter- und Kündigungsschutz. Ende 1941 hat Hitler auf einen Schlag die Rente um 15 Prozent erhöht, ohne die aktiven Arbeitnehmer mit höheren Beiträgen zu belasten. Während die Steuern für die Masse der Arbeitenden niemals in diesen zwölf Jahren erhöht wurden, stiegen die Steuern für ­Reiche und für Unternehmer drastisch. All das geschah auf Grundlage von Schuldenmacherei und Raub.

Damit sind wir fast am Ende unserer Reise. Was aber lernen wir aus der Historie über unsere Gegenwart?

Beängstigend bleibt doch, dass es auf dieser Grundlage möglich war, Millionen Nichtnazis mit dem Regime halbwegs zu versöhnen, Massenloyalität und ein weit verbreitetes Stillhalten buchstäblich zu erkaufen – mit uns heute geläufigen sozialpolitischen Mitteln. Kann nicht auch heute noch eine korrupte, gewissenlose Regierung ihre Majorität mit Hilfe sozialer Wohltaten sichern? Wir müssen uns selbstkritisch die Frage stellen, wie wir heute ­reagieren, wenn man uns politische Geschenke auf Kosten anderer macht. Wir brauchen mehr individuelle Freiheit, mehr Selbstverantwortung. Das verhindern in Deutschland unsere starken sozial­demokratischen,
paternalistischen und staatsgläubigen Traditionen. Deren Anhänger gehen bis heute davon aus, dass die Leute zwar Fernreisen in die Dominikanische Republik selbst organisieren und buchen können, aber nicht in der Lage sein sollen, eine Arztrechnung zu prüfen, zu bezahlen und dann bei der Krankenkasse ganz oder teilweise refundieren zu lassen. Dieses Denken zerstört die bürgerliche Moral, befördert den dumpfen Kollektivismus und das ewige Gerede davon, irgendetwas sei ungerecht und im übrigen der Staat an den Missgeschicken des einzelnen schuldig. Mehr individuelle Freiheit, weniger Gleichheit, weniger Fürsorgestaat und die Rückkehr des noch immer exilierten Freisinns nach Deutschland – das ist die vielleicht wichtigste Konsequenz, die ich aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ziehe.

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