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Ein Souvenir

Sie postiert ihre kleine Tochter vor dem Tor, zückt die Kamera und prüft im Display den Ausschnitt. Der Photograph in ihrem Rücken nutzt die Gelegenheit und drückt ab. Sein Objektiv blickt auch durch das andere Objektiv. Das Photo zeigt das Mädchen vor der Tür und im Kameraauge seiner Mutter. Es ist ein Bild vom Bild, […]

Sie postiert ihre kleine Tochter vor dem Tor, zückt die Kamera und prüft im Display den Ausschnitt. Der Photograph in ihrem Rücken nutzt die Gelegenheit und drückt ab. Sein Objektiv blickt auch durch das andere Objektiv. Das Photo zeigt das Mädchen vor der Tür und im Kameraauge seiner Mutter. Es ist ein Bild vom Bild, aber zugleich ist es ein Bild vom Akt der Abbildung. Als Bild zweiter Ordnung bietet es die Darstellung einer Darstellung. Es sagt, was gerade der Fall ist, und es sagt, wie das, was der Fall ist, zum Fall wurde.

Die Konstellation steigert den Missmut des portraitierten Modells. Dem Kind ist jede Unbefangenheit abhanden gekommen: kein Anflug von Stolz ob der ungewohnten Aufmerksamkeit, nicht die geringste Lust am Spiel der Selbstdarstellung. Streng wird es von zwei Objektiven fixiert. Starr, verlegen und ernst blickt es den gläsernen Augen entgegen, die Hände streben zueinander, um Halt zu finden. Vor Minuten lief das Kind noch nichts ahnend neben seiner Mutter her. Und nun richten sich alle Augen der Welt auf das Mädchen.

Die Mutter hat Sinn für farbliche Harmonie. Das hellgrüne Türkis ihres Kameez ist perfekt auf das Dunkelgrün des Hintergrunds abgestimmt. Das pinkfarbene T-Shirt der Kleinen zitiert den grellen Klebestreifen, mit dem das Tor versiegelt wurde. Man könnte denken, sie habe das Outfit nach den Farben der Umgebung gewählt.

Nur der blaue Jeansrock des Mädchens will sich nicht dem Spiel der Kontraste fügen. Die Inszenierung fürs Familienalbum ist alles andere als zufällig. Absichtlich ist sie zum Tatort geeilt und hat den Polizisten, der das Tor mit einer Maschinenpistole bewacht, gebeten, für einen Augenblick zur Seite zu treten. Vielleicht ist sie eine Ärztin aus der nahen Klinik oder die Tochter eines stadtbekannten Generals. Doch lebt sie vermutlich gar nicht in dem Garnisonsstädtchen, sondern ist aus der Metropole angereist. Sie trägt keinen Schleier und keine Dupatta über dem Kopf. Das offene lange Haar muss für die Anwohner aus der Nachbarschaft wie eine Provokation wirken. Ihre Haltung spricht vom Stolz der Emanzipation, von der Freiheit in der grossen Stadt.

Den Reportern, die sich vor dem Anwesen versammelt haben, bietet ihr Auftritt eine willkommene Abwechslung. Seit Tagen warten sie vor dem verschlossenen Tor. An dem Türwächter kommt niemand vorbei. Aus Verlegenheit und Langeweile photographieren sie Schulkinder, die gerade vorübereilen, oder neugierige Zaungäste, die ihrerseits das verriegelte Tor ablichten. Damit lässt sich die Weltöffentlichkeit ungern abspeisen. Sie erwartet das eine Bild, das die Regierung zurückhält. Nur unscharfe Standbilder einer Videokamera sind im globalen Umlauf und gefälschte Photos des Toten. Spontane Freudentänze hatte die Nachricht ausgelöst, wütende Proteststürme, Bombenanschläge und – im friedvollen Europa – mancherlei Bedenken, ob hinter der Mauer alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Doch das Tor bleibt verschlossen.
Die Zuschauer lungern herum und warten – auf nichts. Aber sie wollen da gewesen sein, wollen Glanz und Geruch des Tatorts in sich aufnehmen. Unerhörtes ist hier geschehen, eine Begebenheit von welthistorischer Bedeutung. Über zehn Jahre wurde der Kriegsherr und Terrorfürst gesucht, und jetzt ist er tot.

Das Photo vor dem Anwesen Usama bin Ladins in Abbottabad erscheint auf den ersten Blick höchst banal. Ein Erinnerungsbild fürs digitale Familienalbum will die Amateurphotographin erhaschen, einen Schnappschuss für den persönlichen Rückblick. Was ferne Beobachter aufs höchste erregt, ist für sie lediglich eine freudig wahrgenommene Gelegenheit. Das Portrait fügt das weltgeschichtliche Vorkommnis in den Bildkosmos der Familienbiographie ein, es privatisiert das Geschehnis. An ihrem Leben ändert sich nichts. Der Alltag überdauert die historische Episode.

Dem steht die Welt der Politik und des medialen Spektakels gegenüber. Diese Welt kennt nur kurze Rhythmen, in denen die Erregung rasch anschwillt und alsbald wieder verschwindet. Der private Schnappschuss behält bleibende Bedeutung. Nach Jahrzehnten noch wird die Grossmutter ihren Enkeln jenes Bild zeigen, wie sie als kleines Mädchen vor dem verschlossenen Tor stand. Das private
Gedächtnis umfasst längere Zeiten als die Wechselfälle der Politik. Die Begebenheit wird längst vergessen, die Bilder der Reporter
werden verblasst sein, doch das Portrait am Tatort bleibt ein Merkbild der Lebensgeschichte. Das Bild vom Bild indes kann daran
erinnern, dass Weltgeschichten hinter verschlossener Tür zuletzt nur als Kulisse für persönliche Souvenirs taugen.

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