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Editorial

«Die düstere Bewertung des Zustands unserer Welt ist falsch. Und zwar nicht nur ein wenig falsch, sondern falsch, falsch, die-Erde-ist-eine-Scheibe-falsch, es-könnte-nicht-falscher-sein-falsch.» Steven Pinker: «Enlightenment Now»1 «Wie kannst du nur ein Kind in diese Welt setzen?» Die Frage meines langjährigen Kollegen traf mich unvorbereitet. Und er legte gleich nach: Das grenze doch an Unverantwortlichkeit. Überall würden […]

«Die düstere Bewertung des Zustands unserer Welt ist falsch. Und zwar nicht nur ein wenig falsch, sondern falsch, falsch, die-Erde-ist-eine-Scheibe-falsch, es-könnte-nicht-falscher-sein-falsch.» Steven Pinker: «Enlightenment Now»1

«Wie kannst du nur ein Kind in diese Welt setzen?» Die Frage meines langjährigen Kollegen traf mich unvorbereitet. Und er legte gleich nach: Das grenze doch an Unverantwortlichkeit. Überall würden Freiheiten eingeschränkt, Kriege angezettelt, Mensch und Natur ausgebeutet und geplündert… Die Episode ist vier Jahre alt. Wüsste ich nicht, dass besagter Kollege in der gebeutelten Schweizer Medienbranche arbeitet, für die schlechte Nachrichten – je länger, desto mehr – gute Nachrichten sind, so hätte ich Probleme, diese Aussage und die dahinterstehende Haltung treffend einzuordnen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger moderner Wohlfahrtsstaaten scheinen, ungeachtet ihrer politischen Heimat, überzeugt davon, dass es um Gegenwart und Zukunft unserer Spezies und unseres Planeten schlecht bestellt sei: Miserabilismus hat Konjunktur, medial, politisch, auch in intellektuellen Zirkeln. Sogar das ehemals fortschrittsoptimistische liberale Lager ergeht sich dauernd in ökonomischen und sozialen Untergangsphantasien.

In den vergangenen Monaten wurde nun inflationär darauf hingewiesen, dass die Ähnlichkeiten unserer Tage mit der Zwischenkriegszeit auffallend seien: schleppendes Wachstum, schwelende Identitätskonflikte, erstarkender politischer Extremismus, drohende Katastrophen. Aber die sozialen und wirtschaftlichen Verflechtungen unserer Tage sind breiter und tiefer, das Bildungs- und Wohlstandsniveau unendlich viel höher, die Verteilung egalitärer. Ähnlich ist nur das liturgische Wiederholen pessimistisch-identitärer Narrative quer durch die Bevölkerungsschichten, die sich politisch und wirtschaftlich dann allzu einfach ausschlachten lassen. Selbst wer keine Kinder hat oder will, sollte sich vom katastrophistischen Groupthink nicht anstecken lassen, sondern mit guten Gründen und nüchterner Empirie dagegenhalten. Wer gebündelte Argumente sucht, wird in Steven Pinkers neuem, oben zitiertem Buch fündig. Der bekannte Kognitionswissenschafter gehört nicht von ungefähr zu den Lieblingsautoren der Redaktion, versteht sich der «Monat» doch als publizistische Heimat für jene, die Probleme nicht nur benennen, sondern auch Lösungen anbieten – und dabei nicht immer gleich die Politik bemühen. Allein in dieser Ausgabe plädieren unsere Autorinnen und Autoren u.a. für einen aufgeklärteren Umgang mit dem Gegenüber («Politische Korrektheit»), einen neuen Innovationsbegriff (zum Text hier lang) und mehr Ehrlichkeit im Vorfeld der anstehenden Zinswende (zur Übersicht).

Für mich steht fest: Die Erosion der Zuversicht, die aus persönlichem Fatalismus und naivem Vertrauen in die Politik resultiert, ist am Ende genau so antiaufklärerisch wie die Annahme, das Kinderkriegen sei deshalb einzustellen, weil nicht alles läuft wie im Schlaraffenland. Nein, das Kinderkriegen ist eben deshalb genau nicht einzustellen.


Michael Wiederstein 
 ist Chefredaktor dieser Zeitschrift.


1 Steven Pinker: Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress. New York: Viking, 2018. Deutscher Erscheinungstermin: September 2018.

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