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Diese Wahrheit kostet den Verstand

Über vermeintliche Verschwörungen, ihre Theoretiker und deren Zielgruppen.

Es ist Frühling und riecht nach Sauerampfer und Kastanienbaumpollen. Das Lichtzentrum «Earth-Fire» in Luzern leiten Trir und Larissa, die ihren Patienten, so erklärt es die Website, mittels neuer medizinischer Ansätze eine Art positive universelle Lebensenergie zurückgeben. Über Aktivitäten wie Trommeln in der Natur, schamanische Feuerzeremonien und Bhajan-Gesang können Interessierte zu einem neuen, inneren Sein im Licht eines «goldenen Zeitalters» gelangen. Klingt esoterisch? Ist es auch: was hier als neuer «medizinischer Ansatz» verkauft wird, ist alles andere als das. Und «Rationalität», das war für viele einerseits schon immer schwierig auszusprechen, es mehren sich aber die Anzeichen dafür, dass es bei der Lebensführung vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger immer seltener eine Rolle spielt. Wer meint, durch das Schlagen eines Gongs an Kraftorten des Vierwaldstättersees liessen sich «Seelenanteile» finden oder «Engel» treffen, ist nicht mehr allein: seit den 1990er Jahren breiten sich esoterische Heilslehren und ihre Versprechen in den Industriegesellschaften rasant aus.

Der Grund für diesen Boom ist simpel und die Anbieter der neuen Industrie werben auch offensiv damit: Heilslehren bieten «Alternativen». Alternativen zum anstrengenden, oft wenig sinnstiftenden Arbeitsalltag und, so wird es empfunden, Alternativen zu den Realitäten einer arbeitsteiligen Gesellschaft, Alternativen zum Kapitalismus. Das «Verzweifeln des Einzelnen» an kapitalistischer Rationalität, so schrieb der Soziologe Wolfgang Pohrt schon 1976 in seiner «Theorie des Gebrauchswerts», lässt «die abergläubische Logik des Wilden» entstehen, «der dem Regengott opfert, um ihn zu versöhnen», der sich «neben den sinnverlassenen Kalkulationen des Wirtschaftswissenschafters als erhabene Vernunft» stellt. Die Esoterik glaubt an eine bessere, weil andere Ordnung, und letztere vermittelt sie über einfach begreifbare, weil vermeintlich eindeutig definierte Gegensatzpaare: Gut und Böse, Ying und Yang. Für Esoteriker gibt es ein Reich des Hellen, hier gleich bei ihnen, und ein Reich der Dunkelheit – überall sonst: Es ist das Reich der Massengesellschaft, der Ausbeuter und dunklen Mächte, die dem guten, einfachen Volk an den Kragen wollen. Dagegen setzen sie die «Alternative», nicht selten gleich ein eigenes Reich, ein (inneres) anderes Land, meist ohne Flagge, dafür aber mit eigenen «sinnvollen» Berufen – z.B. «Alpha Chi Consultant» oder «Erbe der Feuerschamanen» –, mit Reinheitsgeboten, Visionen und Lehren, die stets «richtig», «gut» und vor allem «wahr» sind.

Vom Esoteriker zum König von Deutschland

Von Zentren wie «Earth-Fire» in der Innerschweiz zum «Königreich Deutschland» mit seinem «Lichtzentrum» in Wittenberg, einem ehemaligen, neun Hektar grossen Spitalkomplex mit Umlage, ist es kognitiv nicht weit: In diesem «Königreich» kann mit der Währung «Engel» bezahlt werden, alles dreht sich um eine «Germanische Neue Medizin», während an der Spitze ein Herr Fitzek in der Manier eines Monarchen waltete, Gelder in Höhe von 1,3 Millionen Euro veruntreut haben soll, antisemitische Propaganda von sich gab und in Seminaren «die Gesetzmässigkeiten im Kosmos und die hinter allem stehenden, bisher immer noch un­erkannten naturwissenschaftlichen Wahrheiten» erläuterte. Fitzek sitzt aktuell in Untersuchungshaft, aber auch von dort aus verkündet er sie noch: die «Wahrheit».

Verschwörungstheorien sind semantisch und im Hinblick auf die Wirkung beim nach Transzendenz suchenden Publikum eng verwandt mit Esoterik, nicht selten sind Verschwörungstheoretiker auch Esoteriker. Ihre Worte und Motive also ähneln sich, wenn ihre Gegenstände auch variieren; zweifelhafte Bekanntheit haben längst aber auch Verschwörungstheorien über die eigenen Theoriezirkel hinaus gefunden. Egal, ob es um die Überzeugung geht, der Klimawandel sei eine Lüge, erfunden, um düstere politische oder wirtschaftliche Ziele (wessen ist nicht immer klar) durchzusetzen, oder um das «Wissen», dass Impfungen Autismus herbeiführen oder die Pharmaindustrie, selbst nur Marionette grösserer Mächte, gewillt ist, uns Bürgerinnen und Bürger in gefügige Halbzombies zu verwandeln: glauben wir den Verschwörungstheorien, so sind wir von dunkelsten Mächten nicht nur umgeben, sondern bedroht, wenn nicht längst manipuliert: Passagierflugzeuge waschen unsere Hirne über den Abwurf chemischer Substanzen (Chemtrail-Theorie), Hillary Clinton wurde schon vor Jahren durch einen Klon ersetzt (Illuminaten-Klon-Theorie), Merkel und Obama sind in Wirklichkeit Reptilien aus dem Weltall, die sich von den Energien der Erde und ihrer Bewohner ernähren (Echsenmenschen-Theorie). Egal wie absurd diese «Theorien» klingen: «Beweise» und «Multiplikatoren» dafür finden sich im Netz zuhauf.

Nicht alle Verschwörungstheorien sind politisch klar ein­zuordnen, diskriminierend wie Peter Fitzeks «Königreich», gewaltaffin oder in irgendeiner Form gefährlich. Die zahlreichen Anhänger der Hohlerdetheorie beispielsweise tun niemandem weh und suchen auch keine «Schuldigen» für einen ausgemachten gesellschaftlichen Missstand. Menschen der politischen Linken können für solche Theoriegebäude ebenso offen sein wie Konservative. Ihre immer stärkere Verbreitung liegt einerseits an den einfacheren Vernetzungsmöglichkeiten des digitalen Zeitalters, andererseits am «Anything Goes»-Prinzip des Internets: Öffentliche Aussagen, die ihre Urheber früher auf direktem Wege in profes­sionelle psychologische Behandlung gebracht hätten, sind heute fester Bestandteil des Netzdiskurses und dort Gegenstand nicht minder absurder Diskussionen – mitunter haben sie auch Auswirkungen weit über die digitalen Echokammern hinaus. Im vermeintlich postmodernen Durcheinander haben längst auch Politiker die Anhänger von Verschwörungstheorien als potenzielle Wählergruppen entdeckt, wie das Beispiel Ungarn zeigt: Viktor Orbáns erklärter grösster Feind beim Umbau des eigenen Landes in eine demokratisch legitimierte Autokratie ist der US-amerikanisch-jüdische Investor George Soros. Teil des politischen Tagesgeschäfts in Ungarn ist es deshalb, Ressentiments gegen den Juden Soros zu schüren, mitunter auch unter Rückgriff auf die weitverbreitete antisemitische Theorie einer «jüdischen Weltverschwörung». Das Ziel? Extremistische linke wie rechte Kapitalismuskritiker gleichermassen abzuholen.

Der eigentliche Grund für den diskursiven Aufschwung der Verschwörungstheorien sind aber nicht die Theorien selbst, sondern weitverbreitete, für sich genommen teils harmlose Kontroll- und Übersichtsverlustängste von Menschen und grösseren Menschengruppen, die damit adressiert werden. Wie also funktionieren Verschwörungstheorien – und wer verbreitet sie mit Vorliebe?

Täter und Opfer

Im Spätsommer 2015 veröffentlichte die ehemalige deutsche «Tagesschau»-Sprecherin Eva Herman einen Aufsatz mit dem Titel: «Einwanderungs-Chaos: Was ist der Plan?» Es war die Zeit der ersten grossen Flüchtlingsbewegung aus Syrien, für Herman und viele andere stand Europa damit kurz vor der Überflutung durch die «Orientalen» – und damit am Rande des Untergangs. Was Hermans Positionsbezug so interessant macht, ist, dass die Flüchtlinge für sie offenbar gar nicht das eigentliche Problem waren. Schuld an der «Massenwanderung» und der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung der westlichen Welt sei, so beschreibt sie es, «eine bestimmte Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems». Dass diese «bestimmte» Gruppe in ihrer Publikation weitgehend unbestimmt bleibt, ist ein erstes Indiz für einen verschwörungstheoretischen Ansatz. Weitere finden sich in einem zwar klar ausformulierten, aber bezüglich seiner Motive und Mechanismen völlig unklaren Täter-Opfer-Verhältnis und im willkürlich abgesteckten Maximalrahmen («global») dieses Verhältnisses. Herman bedient hier in einem Satz verschiedene, mit den Begriffen «Macht», «global» und «Finanzsystem» zusammen denkbare Ressentiments der verkürzten Kapitalismus-, Ökonomie- und Kulturkritik und bringt sie, wenn auch diffus, in einen Kontext: Hell gegen Dunkel, Hobbits gegen Mordor, wir gegen die. Ereignisse und Menschen erscheinen als Werkzeuge mysteriöser Gruppen und Kräfte mit unbedingtem Machtwillen, die als Strippenzieher an «für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen» arbeiten, um eines Tages die gesamte Weltkugel (sofern sie denn eine Kugel ist) zu unterwerfen – oder einer grösstmöglichen Gruppe vermeintlicher Gegenspieler grösstmöglichen Schaden zuzufügen.

Das Komplott

Verschwörungstheoretiker sind, wie Eva Herman, überzeugt, einem Komplott auf der Spur zu sein. Sie ordnen alles, was sie in der Welt vorfinden, diesem Ziel unter – oder aus dem diskursiven Weg. Sie sind überzeugt, und alles, was nicht zur Überzeugung passt, ist Teil des Komplotts. Für sie gibt es keine Zufälle, sie sehen nur die perfiden, stets gelingenden Pläne anderer Mächte am Werk. Vertreter von Verschwörungstheorien meinen, die Wahrheit hinter der vermeintlichen Wahrheit entdeckt zu haben, wissen sich selbst in einer Herde von Schafen als die wachen und fidelen, die die gleichgeschalteten Hirne (die «Gleichschaltung» ist eine in Verschwörungstheorien beliebte Metapher) der «Massengesellschaft» und ihre «Marionettenparlamente» anklagen.

Ähnlich verfährt auch der Schweizer Historiker Daniele Ganser. Seit Jahren stellt er die offizielle Version der Anschläge von 9/11 in Frage, er gilt als der momentan erfolgreichste Verschwörungs­theoretiker des deutschsprachigen Raumes, nicht zuletzt, weil er ein so charmanter, fotogener und vergleichsweise junger Mann mit Erfolgsvita ist. Ganser lehrte an der HSG und in Basel, verlor aufgrund seiner Äusserungen beide Stellen. In einem 2006 im «Tages-Anzeiger» veröffentlichten Artikel mutmasst Ganser, wohlrecherchiert und unter Rückbezug auf zahlreiche Quellen, die US-Regierung habe die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon wohl geschehen lassen – oder sie gar in die Wege leiten können, da sie einen Vorwand brauchte, den Irak anzugreifen und die Ölreserven des Landes auszubeuten. An ersteres glauben übrigens 27 Prozent der US-Amerikaner, an letzteres 6 Prozent.1

Heute leitet Ganser das selbstgegründete Swiss Institute for Energy Research. Sehr freundlich antwortet er mir auf ein paar Fragen zum Thema «Wahrheit und Macht» per E-Mail. Für den Historiker kam die Flüchtlingskrise nicht, wie Eva Herman es sieht, auf Geheiss des globalen Finanzsystems zustande, Schuld trägt seiner Meinung nach die bellizis­tische Machtpolitik der USA. Er schreibt: «Die Flüchtlinge kommen nach Europa, weil ihre Heimatländer bombardiert werden. Die USA haben 2001 Afghanistan angegriffen. Das war illegal. 2003 haben die USA den Irak bombardiert. Auch das war illegal. 2011 haben Frankreich und Grossbritannien Libyen bombardiert, zusammen mit den USA, auch das war illegal. In Syrien werden seit 2013 alle Gegner von Assad durch die CIA bewaffnet. Auch das ist illegal. Diese ganzen Kriege produzieren Flüchtlinge.» So weit, so einfach und griffig, so wohlproportioniert-vorschubladisiert: die USA sind schuld. Was er für die weltpolitische Lage am gefährlichsten halte? Die Antwort kommt postwendend: US-amerikanische Angriffskriege. «Sie verletzen das UNO-Gewaltverbot», schreibt Ganser, «und erzeugen viel Leid. So hat zum Beispiel der illegale Angriff der USA auf den Irak 2003 zu mehr als 1 Million Toten geführt. Das ist das grösste Verbrechen der letzten 20 Jahre.»

Typische Posen

Michael Butter lehrt Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und ist Leiter eines europäischen Forschungsprojektes zu Verschwörungstheorien. In seinem jüngst erschienenen Buch «Nichts ist, wie es scheint» (Suhrkamp) hat er herausgearbeitet, dass Gansers Pose typisch ist für Verschwörungstheoretiker: sie sehen die Welt als Spielball einer grösseren Macht, und niemand ausser ihnen will das begreifen! Der Modus: zuerst geriert man sich als Fackelträger einer unerhörten Wahrheit, dann folgen die ebenso typischen Inszenierungen auf Vorträgen, in Interviews, möglichst massenmedial verbreitet. Die allermeisten Verschwörungstheoretiker sind getrieben von einem unbedingten, unmissverständlichen und fast schon nietzscheanisch anmutenden Willen, die «Wahrheit» bekanntzumachen, sie endlich öffentlich durchzusetzen und dabei als Held gefeiert zu werden. Klar, Ganser lehnt die Bezeichnung «Verschwörungstheoretiker» vehement ab, niemand kann ihm das verübeln. Kein Verschwörungstheoretiker bezeichnet sich selbst als solcher, das Prädikat wird vergeben.

Wer steckt aber hinter dem Prädikat? Michael Butter hat den Typus «Verschwörungstheoretiker» untersucht. Der typische Verschwörungstheoretiker sieht Ganser denn auch wenig ähnlich, handelt es sich doch um einen «alleinstehenden und sexuell frustrierten Mann mittleren Alters». Er sei «beruflich wenig erfolgreich und vielleicht sogar arbeitslos, hat keine Freunde und generell wenig soziale Kontakte. Er verbringt den Grossteil seiner Tage, und vor allem die Nächte, in einem kleinen Zimmer – vielleicht wohnt er noch immer bei seinen Eltern – vor dem Computer und forscht online nach immer neuen Beweisen für die Weltverschwörung, der er vor geraumer Zeit auf die Spur gekommen ist. In der realen Welt reagieren die Menschen auf seine Ideen bestenfalls mit Kopfschütteln, vielleicht sogar mit Hohn und Spott.» Verständlich also, dass er sich lieber mit sich und seinesgleichen im Netz austauscht, immer tiefer in die Materie eindringt. Damit ähneln Verschwörungstheoretiker dem Typus des anonymen Hasskommentarschreibers – nicht selten ist die Personalunion.

Beim «Kampfschlesier» etwa, Deutschlands bekanntestemInternet-Troll, ist der Name Programm: Die Lebensaufgabe des «Kampfschlesiers», der mittlerweile mehrere – auch satirische – Fangruppen im Netz hat, ist das Verfassen von Rundmails an Politiker und Institutionen in Deutschland, gelegentlich auch an die NZZ. Der übliche Tiraden-Ton (viele seiner Posts lassen sich googeln): «Verlogenes Journalistenpack! Ihr wollt uns Bürger für dumm verkaufen. Wir wissen aber, wer in diesem Land unsere Frauen vergewaltigt und unser Eigentum klaut. Widerlicher Maulkorbjournalismus! Widerliche Kriecher! Der Lügen-Presserat muss weg! Das Merkel-Regime muss weg!», und so fort. Der «Kampfschlesier» begreift sich als kritischer Medienbeobachter, entdeckt auf jedem Titelblatt, in jeder Überschrift gleichge­schaltete («linke») Lügen und Verleumdungen, die er zu entlarven meint. «Links-grün versifft» erscheint ihm die ganze Welt, ich, als Journalistin, könne ihm fernbleiben, lässt er mir ausrichten, ich sei hier die Verschwörungstheoretikerin.

Waren es bei Eva Herman und Daniele Ganser noch die dunklen Machenschaften machtgeiler Finanzeliten oder politischer Hegemonen (also der beliebten Feindbilder des extremen rechten und linken Spektrums), so stehen für Verschwörungstheoretiker des nationalistischen Randes wie den «Kampfschlesier» vor allem Journalisten am Pranger, weil sie «bewusst falsche Nachrichten verbreiten» und die «richtigen totschweigen».

Reichsbürger bei Bier und Wurst

Verschwörungstheoretiker treffen sich mit Vorliebe virtuell, auf Blogs, in Foren wie «Allmystery», auf YouTube – aber zuweilen auch in der Realität, auf Kongressen oder an Stammtischen, gern auch betont locker bei Bier und Wurst. Es gibt Einzelgänger und ganze Szenen Gleichgesinnter, manche wachsen rasant. In Deutschland drehen sich viele blühende Verschwörungstheorien, wen wundert es, um die Vergangenheit des Landes. So glauben die sogenannten «Reichsbürger», dass das Deutsche Reich fort­besteht – allerdings im Geheimen. Viele von ihnen haben eigene, selbst herausgegebene Pässe und IDs, sie sehen sich als die Vertreter des Deutschen Reiches, wie es vor der «Schmach von Versailles» bestand. Sie verstehen sich selbst als heterogene Freidenker und «Truther», als Wahrheitssuchende, lehnen aber allesamt die «BRD GmbH», wie sie Deutschland in typisch antikapitalistischem Duktus nennen, ab und bevorzugen die eigene Alternative.

In Sachsen-Anhalt machte der ehemalige «Mister Germany» Adrian Ursache deshalb gleich Nägel mit Köpfen und gründete um sein eigenes Haus herum den Staat «Ur». Er spielte damit auf die mesopotamische Stadt an, den Geburtsort von Abraham, mit dem er sich, wie er sagt, identifiziert. Der studierte Betriebswirt glaubt nicht, dass in Deutschland das Grundgesetz in der genehmigten Version von 1949 adäquat umgesetzt werde. Die Wiederver­einigung, so recherchierte er, solle ohne entsprechende Rechtsgrundlage stattgefunden haben, ausserdem kritisiert er das aktuelle System der Geldschöpfung (die Bank schafft Geld durch Kreditvergabe) – der Mensch sei ein Sklave des Finanzsystems, nichts weiter.

In Rumänien, Ursaches Geburtsland, hätte sich niemand für seinen Mandanten interessiert, sagt Ursaches Anwalt mir am Telefon – aber hier in Deutschland rückte der verschrobene Mister Germany ins Zentrum des Interesses des Staatsschutzes: Ursache war angeblich nicht nur Teil eines Netzes aus Reichs­bürgern und anderen Extremisten, sondern auch mit 150 000 Euro verschuldet, als im August 2016 unter grossem Polizei- und SEK-Aufgebot die Zwangsräumung seines Hauses in Reuben, Niedersachsen (es war verkauft worden, Ursache aber weigerte sich, «Ur» zu verlassen), durchgesetzt wurde. Im Vorgarten eine immergrüne Hecke, am Eingang zwei «antike» Säulen, irgendwo ein gedeckter Frühstückstisch, eine Yuccapalme, der Himmel blau. Die Polizisten werden von einer Anhängerin Ursaches mit Pflastersteinen beworfen, dann fallen drei Schüsse: Ursache wird schwer verwundet, ein Polizist verletzt. Ersterer wird später wegen versuchten Totschlags angeklagt, befindet sich aktuell in Untersuchungshaft. Er bestreitet seine Schuld.

Scheitern vorprogrammiert

Auch wenn es nun den Anschein macht: Verschwörungs­theorien sind kein neues Phänomen, sondern fast so alt wie die Menschheit. Einst waren sie sogar höchst salonfähig: elaborierte antike Redner evozierten Verschwörungsgerüchte im politischen Kampf um die Polis, im Mittelalter glaubten Menschen an Hexenkomplotte, Freimaurer, Sozialisten und Liberale wurden vielfach als Verschwörer bezeichnet. Auch heute gibt es sie noch, die Theorien zu Verschwörungen überschaubaren Ausmasses. So sind z.B. 60 Prozent der US-Amerikaner der Ansicht, die Ermordung Martin Luther Kings sei Teil einer grösseren Verschwörung gewesen, und 14 Prozent glauben, Barack Obama sei nicht in den USA geboren.1 Die prominentesten der heutigen Verschwörungstheorien, seien es die angeblich nie stattgefundene Mondlandung oder ein abgekartetes Regierungsspiel hinter 9/11, haben allerdings einen viel grösseren Massstab und viel umfassendere Auswirkungen: Meist geht es um Weltverschwörungen nach dem Prinzip «Ganz oder gar nicht». Das ist ihre diskursiv grösste Stärke, weil sie damit einerseits für alle und jeden anschlussfähig sind, da sie die Welt maximal «durchschaubar» machen. Aber es ist auch ihre grösste Schwäche. Denn die vermeintlichen Verschwörungen globalen Ausmasses scheitern schon aufgrund ihres Komplexitätslevels an den Gesetzen der Organisationstheorie: Sie sind weder plan- noch durchführbar, schon in der Theorie nicht. Aber selbst wenn man es versuchen wollte: die mit ihrer Umsetzung direkt oder indirekt verbundenen Begleitumstände wären nicht berechenbar und schon gar nicht kontrollierbar, nur schon, weil derart viele Akteure involviert sind und dementsprechend davon wüssten. Das Scheitern des Unternehmens wäre darum vorprogrammiert. Die angebliche «Alternative» ist also in den aller­meisten Fällen von vornherein keine – von einer «Wahrheit» ganz zu schweigen.


 

1 Hunt Allcott und Matthew Gentzkow: Social Media and Fake News in the 2016 Election. Journal of Economic Perspectives 31/2 (2017), S. 215.


Sarah Pines
ist freie Journalistin und lebt in Palo Alto, Kalifornien.

 

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