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Der Reisende

Kurzgeschichte von Wallace Stegner. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Richard Barth. Mit Illustrationen von Nico Kast.

Der Reisende

Er fuhr in der früh hereingebrochenen Dunkelheit die verschneite Strasse entlang, die Scheinwerfer zwischen dunklen Mauern aus Bäumen zusammengeduckt, als der Motor ins Stottern geriet, sich wieder erholte, erneut stotterte und dann abstarb. Während der Wagen im Leerlauf einen kleinen Hügel hinabrollte, hantierte er mit dem Choke, doch am Fuss des Hügels musste er das Auto neben einem vom Schneepflug hinterlassenen, fast einen Meter hohen weissen Wall abstellen. Unter den auslaufenden Reifen knirschte der Schnee. Mit einem letzten, blechernen Seufzer verabschiedete sich auch der Heizungsventilator.

Die bislang zuverlässig funktionierende Maschine erst mittleren Alters hatte ihn hier im Stich gelassen, doch er weigerte sich zunächst, sich das einzugestehen. Vielleicht ein Staubkorn oder eine Wasserblase in der Benzinleitung, ein vorübergehender Kurzschluss, ein Schneespritzer auf einem Verteiler oder einer Steckverbindung – irgendetwas, was sich bald von alleine erledigen würde. Doch das Licht auszuschalten und den Anlasser zu betätigen brachte keinerlei Ergebnis; er zog mehrere Sekunden den Choke, erntete aber nur vielversprechenden Benzingeruch; er wartete, um dem abgesoffenen Vergaser eine Chance zu geben, sich zu erholen, und versuchte es noch einmal; wieder nichts. Schliesslich öffnete er die Tür und trat hinaus auf die schneeverkrustete Strasse.

Es war so kalt, dass der erste Atemzug in seinem Hals zu Eisen wurde, seine Nasenhaare schockgefroren und seine Augen brannten und tränten. Im fahlen Sternenlicht und dem bläulichen Schimmer des Schnees war nach einigen Metern alles trügerisch verschwommen und zweidimensional, schillerte von Halbgesehenem oder Eingebildetem. Er stand mit hängendem Kopf neben dem Wagen und lauschte, doch es herrschte Totenstille. Es war, als ob alles Leben auf dem Planeten erfroren wäre.

Unentschlossen auf Hilfe hoffend, ging er bis zum Kamm des nächsten Hügels, doch die kaum erkennbar dunklere Furche der Strasse verschwamm und verschwand im Dämmerlicht, die Schatten rückten bedrohlich näher, kein Licht weit und breit. Zurück am Wagen tat er, was sein Eigenverantwortlichkeitsethos verlangte: obwohl er im Streulicht der Scheinwerfer kaum etwas zu erkennen vermochte, tastete er auf der Suche nach abgerissenen Leitungen oder losen Steckern den Motor ab, bis er sich überzeugt hatte, dass er machtlos war. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er nichts ausrichten konnte.

Seine Hände schmerzten vor Kälte, und um die Knöchel, zwischen Halbschuhen und Hosenaufschlag, spürte er den Frost wie eiserne Fussfesseln. Als er zum letzten Mal angehalten hatte, vor gut dreissig Kilometern, betrug die Temperatur schon fast minus 20 Grad. Jetzt waren es wahrscheinlich eher 25. Was also sollte er tun, ein während der Reise Gestrandeter, der mindestens 80 Kilometer von seinem Ziel entfernt war? Er konnte nicht gut loslaufen, um Hilfe zu holen, und den Musterkoffer einfach zurücklassen, denn die rechte Hintertür liess sich nicht richtig abschliessen. Man musste nur ein wenig rütteln, schon war sie offen. Und all die Medikamente, zum Teil dafür entwickelt, alles Mögliche zu heilen – Wundermittel, Sulfonamide, Streptomycin, Aureomycin, Penicillin, Tabletten und Antitoxine und Salben –, stellten nicht nur einen grossen Wert dar, sondern auch eine Gefahr. Sie sollten nicht offen herumliegen. Jemand konnte ja auf den Gedanken kommen, dass sie tatsächlich alles Mögliche heilten.

Nicht alles, sagte er in die blaue Dunkelheit. Nicht einen verdreckten Verteiler oder einen launenhaften Spulenkasten. Absurderweise kamen ihm zwei Zeilen einer uralten Hymne auf mechanische Fortbewegungsmittel in den Sinn:

Und geht der Stoff ihr aus, schütt einfach Seife drauf –  Schon läuft die Kiste wieder wie ’ne Eins.

Er sah sich ein Fläschchen Penicillin in den Tank leeren und losfahren, mit fröhliche Rauchringe blasendem Auspuff. Vor seinem inneren Auge lief eine heroisch-komische Montage wissenschaftlicher Entdeckungsarbeit ab – Wissenschafter in weissen Kitteln lugten in Mikroskope, stellten Messinstrumente ein, pipettierten kostbare Flüssigkeiten, wogen auf winzigen Waagen ihre Pulverkörnchen. Botenjungen sausten mit Telegrammen zu den Schreibtischen geschäftiger Manager. Eine Gruppe von Beobachtern stand neben einem Fliessband, während erste Tests stattfanden. Sie brachen einem Auto mit dem Vorschlaghammer eine Achse, flössten ihm etwas von der Wundermischung ein und fuhren damit davon. Sie zerlegten den Vergaser und heilten ihn mit einer einzigen Dosis. Sie rissen alle Kabel heraus und sahen zu, wie dieselbe Magie den Motor wieder zum Schnurren brachte.

Doch da stand er nun im leichten Mantel, mit dünnen Handschuhen und ohne Überschuhe, sein Auto blockierte fast die Strasse, die Tür liess sich nicht abschliessen, und es war völlig unmöglich, die schweren Koffer zur nächsten Farm und erst recht ins nächste Dorf zu schleppen. Er schaltete noch einmal die Scheinwerfer ein und liess den Blick den zum Vorschein kommenden Strassenrand entlangwandern, und er sah einen Lattenzaun mit Zedern und Fichten. Wenn kompliziertere Apparate und Heilmittel versagten, blieb immer noch das gute alte Schwefelhölzchen.

Zehn Minuten darauf sass er, den Mantel über Kopf und Schultern gezogen und den Rücken gegen den Wall geräumten Schnees gelehnt, da, pulte den halb geschmolzenen Schnee aus seinen Schuhen und weidete sich am zunehmend heller werdenden, wärmenden Feuer. Sein Lattenvorrat reichte für eine Stunde. Bis dahin würde schon jemand vorbeikommen und ihn ein-, zweimal anschieben können. In diesem Land fährt im Winter niemand einfach an einem Liegengebliebenen vorbei.

In der Stille brannten die Flammen kerzengerade; die Hitze war auf eiskalten Händen und gefühllosen Knöcheln und kältestarrem Gesicht wunderbar wohltuend. Er blickte über die von Pferden besudelte, von Rad- und Kufenspuren durchfurchte Strasse und sah, wie der Strassenrand im Licht des Feuers Konturen annahm, Schatten und scharfe Kanten. Und er sah, wie er für jemanden aussehen würde, der hier vorbeikam: wie ein Kalenderbild.

Aber es kam niemand. Fünfzehn Minuten dehnten sich zu einer halben Stunde, es waren nur noch zwei abgebrochene Lattenstücke übrig, das in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee schwimmende Feuer zischte. Rastlos stand er auf, schlang die Decke um sich und ging hundert Schritte auf der Strasse zurück. Im Osten sah er über den Zacken der Bäume, wie der Mondaufgang den Himmel erhellte, doch hier lag noch nichts als der schwache Schein des Sternenlichts auf dem Schnee. Etwas lange Vergrabenes und Vergessenes regte sich in ihm, und ein kribbelnder Schauer, der nicht allein auf die Kälte zurückging, erzeugte an seinem ganzen Körper Gänsehaut. In seiner Kindheit war es ein paar Mal vorgekommen, dass er allein nach Hause gegangen war und dabei in einer Nacht wie dieser kurz die Orientierung verloren hatte. Er wusste nicht mehr, seit wie vielen Jahren er nicht mehr allein unter einem solchen Himmel gestanden hatte. Angst kroch an ihm hoch, seine Füsse waren gefrorene Klumpen, seine Nase tropfte. Am Fuss des Hügels flossen das Auto und der Schnee trügerisch ineinander; das rote Flackern des Feuers erschien ihm furchtbar weit entfernt.

Er wollte nicht länger in diesem einsamen, von Schneewällen eingefassten Graben warten. Sollten die Musterkoffer doch auf sich selber aufpassen, und wenn irgendein Autofahrer vorbeikam, sollte er selbst sehen, wie er zurechtkam. Er würde weiterlaufen, bis er Hilfe fand, und wenn es ihm unterwegs zu kalt wurde, konnte er ja jederzeit noch mal ein Feuer machen. Der Gedanke, etwas zu tun, heiterte ihn auf; er gestand sich ein, dass es ihm in dieser Stille und eisernen Kälte ziemlich bang geworden war.

Beim Abschliessen des Wagens fiel ihm das Schlüsseletui herunter, und ihm stockte vor Panik der Puls, während er sich bückte und hektisch mit der blossen Hand im Schnee herumtastete, bis er ihn fand. Das pulvrige Weiss schmerzte und brannte an seinen Fingerkuppen. Er hielt sie ein letztes Mal kurz ans Feuer und machte sich auf den Weg, eingemummelt wie eine Indianerin, die Decke über Mund und Nase hochgezogen, um der Kälte in seinen Lungen ein wenig die Schärfe zu nehmen. Die Strasse sah glatt aus wie ein Tischtuch, war jedoch trügerisch uneben und zerfurcht. Er dachte daran, was er mit Fug und Recht von diesem Abend erwartet hatte. Inzwischen, es war etwa acht, sollte er ein dampfendes Abendessen, den Luxus eines heissen Bades und das Vergnügen eines Brandys in einer kameradschaftlichen Bar hinter sich haben. Er sollte längst im Schlafanzug sein und im Schein der Nachttischlampe Verkaufsberichte schreiben, in einem Zimmer, in dem behaglicher Dampf durch die Heizkörper strömte und ihm auf ein Wort ins Telefon hin die Hilfe von hundert Händen zur Verfügung stand. Dass ihm all das so abrupt versagt worden war, dass er hier eine gottverlassene Strasse entlangstolpern musste und zu erfrieren drohte, nur weil ein simples technisches Bauteil, das 50 000 Kilometer lang klaglos seinen Dienst getan hatte, plötzlich streikte, das war ein Skandal, und es regte ihn furchtbar auf. Er dachte an Mechaniker und Tankwärter, denen er Vorwürfe machen könnte. Er blendete das Indiz des abgesoffenen Vergasers aus und grübelte über mit Wasser verdünntes Benzin nach, das in der Benzinleitung zu Eis gefrieren konnte. Der Mensch war von zu vielen anderen abhängig; er war jedermann schutzlos ausgeliefert.

Und dann, auf dem Scheitelpunkt des zweiten langen Anstiegs, begegnete ihm der Mond.

Schlagartig änderte die Nacht ihren Charakter. Von einem Schritt zum anderen war das schwache Sternenlicht einer gleichmässigen Flut blau-weisser Strahlen gewichen. Er schaute über eine verschneite Wiese und sah, wie die Pfosten und Latten eines Zaunes allesamt einen Doppelgänger in Form eines klar konturierten Schattens hatten und der Waldrand dahinter in schwärzeste Tusche getaucht war. Die Strasse vor ihm war mit dem Lineal gezogen, ein Rand von der Lichtflut weichgezeichnet, der andere tief im Schatten. Als er dem Mond ins Auge blickte, sah er die Luft von rieselnden Eispartikeln flirren und glitzern.

Um in dieser stillen, heiligen Nacht, dieser Leise-rieselt-der-Schnee-Nacht, nicht in die Sentimentalität abzugleiten, setzte er seine Schritte mit Bedacht, und einem unsichtbaren Publikum gegenüber verfluchte er sie gotteslästerlich als eine Nacht, an die kein Mensch je glauben würde. Und doch war sie Tatsache, und doch steckte er mittendrin. Mit dem heraufziehenden Mond schien die Nacht gar wärmer zu werden; er stellte fest, dass er die Decke vom Gesicht nehmen und die stille Luft trinken konnte.

Als er die Wiese hinter sich liess und wieder in den Wald trat, zeigte ihm der Mond so manches am Strassenrand. Auf mondbeschienenen Lichtungen sah er, wie winzige, vollkommene Spuren den Schnee durchzogen, von Mäusen, Wieseln oder den dreizehigen Rebhühnern. Auch diese ureigenen Bestandteile der Nacht erinnerten ihn an so manches, was er einst gewusst und lange vergessen hatte. Als Junge hatte er den Tieren, die diese Spuren hinterliessen, Fallen gestellt und sie gejagt; es war, als wäre sein Bewusstsein ein Schneefeld, dem sich die Abdrücke ihrer geheimnisvollen kleinen Füsse vor langem eingeprägt hatten. Mit einer eigenartigen Enge im Hals, mit merkwürdigem Stolz, las er die Spur eines Fuchses, der aus dem Wald kommend durch den weichen Schnee gewatet war, einen Haken auf die schneebepackte Strasse geschlagen hatte, ein Weilchen die Strasse entlang und, immer noch Haken schlagend, wieder über den vom Schneepflug aufgeschütteten Schnee getrottet war, um dann, die Vorderpfoten in einer Linie mit den Hinterpfoten, im sauberen Schnee eine zielstrebige Fährte aus sauber gestanzten Abdrücken hinterlassend, in den gegenüberliegenden Wald zu verschwinden, aus dem Dunkel durch das Mondlicht – wieder ins Dunkel.

Er bog mit der Strasse um eine Kurve, und als er am Ende des Waldstücks wieder auf freies Feld kam, sah er die so mondweissen wie schattenschwarzen Gebäude einer Farm und einen schwachen Lichtschimmer im Fenster.

Als er auf die Schleife einbog, die der Schneepflug in der Einfahrt freigeräumt hatte, wimmerten seine Füsse im metallpulvertrockenen Schnee. Doch als er sich dem Haus näherte, überkamen ihn Zweifel. Trotz des Lichts sah es verlassen aus. Kein Hund, der ihn begrüsst hätte. Das Geräusch seiner Schritte im Schnee war hier etwas Fremdes, seine an die Tür hämmernden Fingerknöchel Eindringlinge. Er schaute auf der Suche nach dem Hinweis auf ein Telefonkabel nach oben, fand jedoch keinen, und er konnte nicht sagen, ob das Zittern in der Luft, das er über dem Kamin zu erkennen glaubte, Wärme oder Rauch oder das Phantasma des fallenden Frosts war.

«Hallo?», sagte er und klopfte noch einmal. «Jemand zu Hause?» Kein Geräusch antwortete ihm. Er sah den Mond auf grossen Eiszapfen am Dachvorsprung glitzern. Seine gefühllosen Hände schmerzten vom Klopfen; er pochte noch einmal mit der weichen Seite seiner Faust.

Schliesslich kam eine Antwort, aber nicht von der Tür, vor der er stand, sondern von der Scheune am Ende einer Reihe versetzt angeordneter, aneinandergebauter Schuppen. Knarrend öffnete sich eine Tür, wurde gegen eine Schneewehe gedrückt, und eine Gestalt mit einer Laterne erschien, hielt einen Augenblick inne und rannte dann auf ihn zu. Der Reisende wunderte sich über die Art und Weise, in der sie durch den unebenen Schnee taumelte und stolperte, bis sie an der Veranda ankam, und er erkannte, dass es ein elf- oder zwölfjähriger Bub war. Der Junge stellte seine Laterne auf der Veranda ab; zwischen dem hochgeschlagenen Kragen seines Wollmantels und der weit heruntergezogenen Strickmütze war sein Gesicht ein verfrorenes, weisses Etwas, seine Augen riesengross. Er starrte den Reisenden an, bis dieser sich bewusst wurde, dass er immer noch die Decke über Kopf und Schultern hatte, und lachen musste.

«Mein Auto hat mich ein, zwei Kilometer von hier im Stich gelassen», sagte er. «Ich suche nur ein Telefon oder einen Ort, wo ich Hilfe bekommen kann.»

Der Junge schluckte und wischte sich mit dem Rücken seines Halbhandschuhs die Nase ab. «Grandpa ist krank!», platzte er heraus und öffnete die Tür. Wärme drang ihnen ins Gesicht, Kälte drang mit ihnen ein, und während die Tür sich schloss, mischten sich beide in einem Luftwirbel. Der Reisende sah eine an den Küchenherd herangeschobene Liege und auf der Liege einen mit einer Bettdecke zugedeckten Mann, der schwer atmete und dessen geschlossene Augen sich nicht öffneten, als die beiden nähertraten. Die graubärtigen Wangen waren eingefallen, der Mund stand offen und entblösste zahnlose Gaumen, wie eine Parodie des verschmitzten Alten.

«Er muss einen Schock gehabt haben», sagte der Junge. «Ich bin von der Stallarbeit hereingekommen, da lag er am Boden.» Er starrte die Mumie unter der Bettdecke an und musste schlucken.

«Ist er irgendwann zu sich gekommen?»

«Nein.»

«Nur ihr beide wohnt hier?»

«Ja.»

«Kein Telefon?»

«Nein.»

«Wie lang ist es her, dass du ihn gefunden hast?»

«Nach der Stallarbeit. So um sechs.»

«Warum hast du keine Hilfe geholt?»

Der Junge senkte beschämt den Blick. «Es sind über drei Kilometer. Ich hatte Angst, er…»

«Aber du hast ihn alleingelassen. Du warst draussen in der Scheune.»

«Ich war gerade beim Anspannen», sagte der Junge. «Ich hatte beschlossen zu fahren.»

Der Reisende trat einen Schritt vom Herd zurück, denn sein Gesicht brannte von der Hitze und seine Finger und Füsse begannen nun deshalb zu schmerzen. Er schaute den alten Mann an und wusste, dass er hier ebenso hilflos war wie bei seinem Auto. Das schmale, sorgenvolle Gesicht des Jungen machte ihm deutlich, wie seine Notlage angesichts dieser anderen hier verblasste. Von einem, der Hilfe brauchte, war er zu einem geworden, der Hilfe leisten musste. Er, der Verkäufer von Wunderheilmitteln, musste sich etwas einfallen lassen, um diesen überängstigten Jungen zu beruhigen und einen todkranken Mann ins Leben zurückzurufen. Widerwillig, ein Opfer der Umstände, sagte er: «Wohin wolltest du denn, um Hilfe zu holen?»

«Zu den Hills. Die haben ein Telefon.»

«Wie weit ist es von dort zur nächsten Stadt?»

«Ungefähr acht Kilometer.»

«Dort gibt’s einen Arzt?»

«Ja.»

«Wenn ich euer Pferd und – euren Schlitten, vermute ich? – nehmen würde, glaubst du, jemand von den Hills könnte ihn zurückbringen?»

«Schlitten. Einer von den Jungs, ja, denke schon.»

«Oder möchtest du lieber fahren, während ich mich um deinen Grandpa kümmere?»

«Er kennt Sie nicht», sagte der Junge ohne zu zögern. «Falls er aufwacht, würde er… sich wundern… es könnte…»

Der Reisende verabschiedete sich widerstrebend von der Aussicht, in der warmen Küche zu bleiben, während der Junge die Arbeit machte. Und er musste dem Jungen zugestehen, dass es ausgesprochen einfühlsam von ihm war, zu wissen, wie verstörend es für einen Kranken sein könnte, in seinem eigenen Haus aufzuwachen und einem völlig fremden Menschen ins Auge zu blicken. «Ja», sagte er. «Gut, ich könnte von den Hills aus den Arzt rufen. Drei Kilometer, sagtest du?»

«Ungefähr.» Der Junge hatte die Mütze ausgezogen, so dass ihm über der weissen Stirn die Haare zu Berge standen. Er hatte eigenartige Augen, sehr gross und dunkel und intelligent; in seinem Blick lag etwas Erwartungsvolles.

Der Reisende musterte ihn neugierig und sagte: «Wie lange wohnst du schon bei deinem Grossvater?»

«Zwei Jahre.»

«Leben deine Eltern noch?»

«Nein, Sir, eben nicht.»

«Gehst du zur Schule?»

Er erntete einen schrägen Blick. «Muss man ja, bis man sechzehn ist.»

«Gehst du nur deswegen?»

Was er aus dem Jungen herauszubekommen versuchte, kam indirekt mit einem Schulterzucken. «Grandpa würde mich von der Schule nehmen, wenn er könnte.»

«Wär dir das lieber?»

«Nein, Sir», sagte der Junge, wich seinem Blick jedoch aus. «Ich gehe gern in die Schule.»

Der Reisende schob seinem Fragestrom bewusst ein Wehr vor. Einst war er selbst ein Waise gewesen, der bei seinen Grosseltern auf einer abgelegenen Farm aufwuchs; er fragte sich, ob es diesem Jungen erging wie ihm und er in seiner Phantasie schon an all die verschlossenen Türen des Lebens pochte.

Das schwere Atmen des alten Mannes erfüllte den überheizten Raum. «Gut», sagte der Reisende, «vielleicht solltest du lieber rausgehen und fertig anspannen. Ist dreissig Jahre her, dass ich ein Pferd angeschirrt habe. Ich behalte deinen Grandpa im Auge.»

Der Junge streifte sich die Strickmütze übers zerzauste Haar und schlüpfte zur Tür hinaus. Der Reisende knöpfte seinen Mantel auf und setzte sich neben den alten Mann, fühlte ihm den sporadischen, schwachen Puls, hob mit dem Daumen eines seiner Augenlider und besah das nach oben gerollte Auge, ohne dass es ihm etwas sagte. Er wusste, dass das so war, als würde er einen eiskalten Motor nach losen Kabeln abtasten, und nach zwei oder drei hilflosen Bewegungen gab er es auf und betrachtete das graue, eingefallene Gesicht, das ihm unbekannte Gesicht eines alten Mannes, der bald sterben würde, und es kam ihm der Gedanke, dass dieses Gesicht das einzig Unvertraute an dieser ganzen Nacht war. Die Küchengerüche, Kaffee und Erdnussbutter und der modrige, borkige Geruch aus der Holzkiste und der Geruch nach heissem Küchenherd und heiss gebrannter Farbe, all das war ihm so vertraut wie Licht und Dunkelheit. Ebenso wenig fremd war ihm die sagenhafte Nacht draussen, die Schneefelder und der Mond und die geheimnisvollen Wälder, die Fährten, die sich unter dem schützenden Dach der Tannen und Weissfichten hervor in den Schnee hinauswagten, der forschende, phantasievolle Ausdruck in den Augen des Jungen. Gedankenverloren sass er da und rührte dabei an einen Abgrund wie ein Mann, der am ausgewaschenen Ufer eines Flusses entlanggeht und mit ausgestrecktem Bein den bröckelnden Überhang loszutreten versucht. Die Art und Weise, in der ein Mann zu sich selbst und zu anderen Menschen in Beziehung stand, war sonderbar und vielschichtig.

Und als er von draussen ein Klimpern und Knarzen hörte, seinen Mantel wieder zuknöpfte, die Decke um die Schultern schlang und auf den Hof hinaustrat, da gab es einen Moment, in dem der Junge ihm die Zügel gab und sie sich im zerfurchten Schnee gegenüberstanden.

Es war ein Moment wie ein Abschied, wie ein schmerzliches Lebewohl. Aus einem überwältigenden Gefühl der Vertrautheit und aus einer Art Mitleid heraus streckte der Reisende die Hand aus und legte sie dem Jungen auf die Schulter. «Mach dir keine Sorgen», sagte er. «Ich werde sofort jemanden schicken. Dein Grossvater wird schon wieder. Halt ihn nur warm und mach dir keine Sorgen.»

Er stieg auf den Pferdeschlitten und zog den schütteren Büffelfellüberwurf über die Beine, den er dort vorfand; der gewellte Filzsaum war wie ein Schlüssel, der genau in ein Schloss passt. Die Pferde, rastlos mit den Glocken an ihrem Geschirr klimpernd, atmeten im Mondlicht dampfende Fontänen aus, während der Moment sich in die Länge zog. Der Reisende sah, dass der Junge jetzt, da seine Sorgen ein wenig zerstreut waren, da ihm ein Teil seiner Last abgenommen war, ihn mit eintausend Fragen im Gesicht musterte, und er erinnerte sich, wie er vor dreissig Jahren selbst in den Gesichtern von vorbeikommenden Fremden nach etwas gesucht hatte, das er nicht benennen konnte, wie er ihren Schritten zugehört und ihren länger werdenden Schatten nachgeschaut hatte, die vor ihnen auf Wege fielen, die zu Orten jenseits seiner Vorstellungskraft führten, und wie er den brennenden Wunsch verspürt hatte, sie kennenzulernen, zu wissen, wer sie waren. Doch keiner von ihnen hatte seinen Blick so erwidert, wie er nun diesen Jungen anzusehen versuchte.

Er war froh, dass keine Namen gefallen waren und dass sie keine persönlichen Geschichten ausgetauscht hatten, die einen Schatten auf diese Begegnung hätten werfen können, denn als er über dem weissen, ernst zu ihm aufblickenden Gesicht des Jungen im Schlitten sass, spürte er, dass unbeabsichtigt, nahezu beiläufig, eine Art inniges Band zwischen ihnen geknüpft worden war.

Einen halben Atemzug lang war er völlig verzaubert, inmitten eines eisigen Traums erstarrt. Abrupt liess er die Zügel auf die Rücken der Pferde knallen; ruckartig setzte sich der Schlitten in Bewegung und glitt dann sanft hinaus auf die Strasse. Der Reisende blickte sich einmal um, um sich für immer das Bild einzuprägen, wie er still dastand und sich selbst wegfahren sah. Als er auf die Strasse einbog, verfielen die Pferde in einen Trab. Der eisige Luftzug schnürte ihm den Hals zu, so dass er die Zügel mit einer Hand losliess, um den haarigen, nach Wolle riechenden Saum der Decke fast ganz über sein Gesicht zu ziehen.

Auf einer Strasse, die er noch nie befahren hatte, fuhr er zügig in Richtung einer ihm unbekannten Farm und einer ihm unbekannten Stadt, um nach irgendeinem weisen Gesetz einen Teil der Bürde weiterzugeben, die die Notlage des Jungen wie auch seine eigene darstellte; doch in seinem Kopf blieb, strahlend wie Mondschein auf Schnee, ein lebendiges Staunen, fast schon Ehrfurcht zurück. Denn er hatte aus dem chronischsten, unheilbarsten Leiden überhaupt heraus, seiner Identität, den Blick nach draussen gerichtet und sich dort für einen unverwechselbaren Augenblick selbst erkannt.  


Copyright © 1951 by Wallace Stegner. Copyright renewed. Originally published in «Harper’s». All rights reserved.


Wallace Stegner
(1909 – 1993) war US-amerikanischer Historiker und Schriftsteller. Er lehrte in Harvard und Stanford, erhielt für «Angle of Repose» (Doubleday, 1971) den Pulitzer-Preis sowie den National Book Award für «The Spectator Bird» (Doubleday, 1976). Stegner war Verfasser vieler Kurzgeschichten, gehört zu den grossen Klassikern der literarischen Moderne, im deutschsprachigen Raum ist er aber weiterhin vergleichsweise unbekannt. Seine berühmte Short Story «The Traveler» liegt hier erstmals in deutscher Übersetzung vor.


Richard Barth
ist literarischer Übersetzer und lebt in Zürich.


Nico Kast
ist Illustrator und 3D-Animator und lebt in St. Gallen.

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