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Der europäische Traum

Der alte Kontinent hat es binnen eines Jahrhunderts geschafft, die Diktatur von einer hier weitverbreiteten Staatsform zu einem Fall für die Geschichtsbücher zu machen. Diese Leistung verdient in Zukunft mehr Anerkennung.

Der europäische Traum
Aleida Assmann, fotographiert von Jussi Puikkonen / KNAW / BW / CC BY 2.0.

Kann man aus der Geschichte lernen? Auf diese Frage gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Der Historiker Reinhart Koselleck antwortete mit einem entschiedenen «Nein!». Sein Grund dafür war, dass in westlichen Gesellschaften seit der Neuzeit das Gesetz der Modernisierung und Innovation herrscht, das die Welt und mit ihr die menschlichen Lebensverhältnisse in einen stetigen Wandlungsprozess versetzt hat. Durch diesen Wandel hat sich der «Erfahrungsraum» der Vergangenheit von dem «Erwartungshorizont» der Zukunft so stark abgelöst, dass die Erfahrungen von gestern nicht mehr für die Lösung der Probleme von morgen taugen können. Die Geschichte hat damit ihre traditionelle Funktion als «Lehrmeisterin des Lebens» (historia magistra vitae) verloren. Andere sehen das anders: Ja, natürlich können wir aus der Geschichte lernen, woraus denn sonst? Der Satz von Ingeborg Bachmann steht zwischen diesen Fronten: «Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler!»

Wenn aus der Geschichte gelernt wird, heisst das aber noch nicht, dass alle dieselbe Lektion lernen. Aus dem Holocaust zum Beispiel haben Israel und Deutschland ganz andere Lehren gezogen. In Deutschland hiess die Lehre: «Nie wieder Täter sein!» Die Erinnerung ist mit einer klaren Mahnung versehen, nie wieder Menschen aufgrund ihres ethnischen oder religiösen Andersseins zu diskriminieren, zu verfolgen oder gar umzubringen. Ein Generalverdacht gegen Nationalismen kam auf, der Pazifismus breitete sich aus und die allgemeine Wehrpflicht wurde abgeschafft. In Israel hiess die Lehre: «Nie wieder Opfer sein!» Eine Nation mit starker Armee wurde aufgebaut, die Landesgrenzen wurden durch Schutzwälle befestigt und Sicherheit wurde zur primären politischen Aufgabe erklärt.

Der Aufbau der EU

Die Entstehung der EU ist ein klares Beispiel für das Lernen aus der Geschichte, allerdings kann mit dem Vergessen dieser Geschichte die historische Lektion auch wieder verlorengehen. Diese Allianz hat nach dem Zweiten Weltkrieg 1950 ganz klein angefangen als eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die sogenannte «Montanunion».

«Wenn aus der Geschichte gelernt wird, heisst das aber noch nicht, dass alle dieselbe Lektion lernen.»

Das Ziel dieser wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit war in erster Linie die Zähmung Deutschlands. Es sollte unter allen Umständen verhindert werden, dass Deutschland noch einmal eine Schwerindustrie aufbaut, mit der es sich für einen weiteren Krieg hochrüstet und damit für seine Nachbarstaaten wieder gefährlich werden könnte. Die Wirtschaftskooperation der sechs Gründungsmitglieder Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und der Niederlande diente einer Einbindung Deutschlands in einen gemeinsamen Markt, der mehr Möglichkeiten als Zwänge offerierte – und damit auch eine dauerhafte Friedenssicherung. Deutschland, das so viel Leid über die europäischen Nachbarn gebracht hatte, durfte in Europa nie wieder so viel Spielraum erhalten und sollte deshalb zunächst einmal gezähmt und «integriert» werden. In den 1970er Jahren wuchs die Zahl der Mitgliedsstaaten durch den Beitritt Dänemarks, Irlands und Englands auf neun Mitgliedsstaaten. Gleichzeitig verwandelten sich die letzten westeuropäischen Diktaturen Portugal, Spanien und Griechenland in Demokratien. Sie wurden in den 1980ern zu Mitgliedern der EU, womit sich das politische und wirtschaftliche Binnenklima Westeuropas vereinheitlichte. 1995 kam es zunächst zum Beitritt dreier weiterer westeuropäischer Staaten (Finnland, Österreich und Schweden) und ein Jahrzehnt später zur «Osterweiterung» der EU durch die Aufnahme von zwölf zentral- und osteuropäischen Staaten. In dieser Phase wurde das Erbe des Kalten Krieges historisch überwunden.

Wir denken bisher über die Epoche nach 1950 noch vordringlich als die Periode des «Kalten Krieges», der auf den heissen Weltkrieg folgte. Dabei umspannt die Geschichte der EU die Epoche des Kalten Krieges mit der Verwandlung Europas nach dem Mauerfall und mit dem Eintritt in das neue Millennium. Wenn wir auf diese nunmehr 66 Jahre EU-Geschichte zurückblicken, können wir nicht umhin, festzustellen: Das Wachstum der europäischen Allianz erweist sich als die grosse friedenspolitische Erfolgsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Perspektive gilt es aber erst noch in den Köpfen und Herzen der Europäer zu verankern. Da die EU bislang aber viel zu sehr mit ihrer Verwaltung und ihren Tagesproblemen zu tun hatte, hat sie es bisher verpasst, diese ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die Eröffnung eines historischen Museums in Brüssel ist seit mehr als einem Jahrzehnt in Aussicht gestellt, aber noch nicht verwirklicht worden. Die EU als «vorgestellte Gemeinschaft» und als ein Verbund mit gemeinsamen historischen Erinnerungen hat sich deshalb noch nicht wirklich konstituiert. Alle Symbole dieses supranationalen Verbandes sind blass geblieben: die Geschichte und, wichtiger noch, die Vorgeschichte der EU ist den heutigen Jugendlichen kaum bekannt. Der 9. Mai als «Geburtstag» der EU hat sich nicht durchsetzen lassen – und wer kann schon Robert Schuman, ihren Begründer, von dem Komponisten des 19. Jahrhunderts unterscheiden?

Der europäische Traum

Nationalstaaten, das wusste schon Ernest Renan, werden durch einen «nationalen Mythos» zusammengehalten. Ein solcher fundierender Mythos kann ebenso auf die Vergangenheit gegründet wie auf die Zukunft ausgerichtet sein. Der Literaturkritiker Leslie Fiedler hat einmal betont, dass die amerikanische Nation im Gegensatz zu der englischen oder französischen Nation nicht durch eine gemeinsame Erinnerung, sondern durch einen gemeinsamen Traum zusammengehalten werde. «Als Amerikaner», so drückte er sich aus, «sind wir Bewohner einer gemeinsamen Utopie und nicht einer gemeinsamen Geschichte.»1 Diese Utopie heisst auch so: der «amerikanische Traum». Er wird den Amerikanern nicht als Kollektiv, sondern als Individuen versprochen. Wer sich anstrengt, kann wirtschaftlichen Erfolg haben und vom Tellerwäscher zum Präsidenten aufsteigen. Mit Barack Hussein Obama, dem 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, ist dieser Traum noch einmal in eindrucksvoller Weise eingelöst worden. Dennoch ist der amerikanische Traum seit längerem kritischen Anwürfen ausgesetzt, weil auch immer deutlicher wurde, dass ganze Segmente der amerikanischen Gesellschaft von diesem Aufstiegsideal ausgeschlossen bleiben und der starke Druck auf Ehrgeiz und Wettbewerb, der auf dem einzelnen lastet, auch den Charakter ändert. Jeremy Rifkin hat den Amerikanern deshalb dringend empfohlen, sich von dem radikal egoistischen Bild des einsamen Aufsteigers – «Modell Trump» – zu trennen und an die Stelle das Bild einer Gesellschaft zu setzen, die nicht nur auf Konkurrenz, sondern auch auf Kooperation setzt, um das soziale Gewebe durch Solidarität und das verbindende Gefühl der Empathie zu stärken.

«Da die EU bislang aber viel zu sehr mit ihrer Verwaltung und ihren Tagesproblemen zu tun hatte, hat sie es bisher verpasst, diese ihre eigene Geschichte zu erzählen.»

Die Europäer unterscheiden sich von Fiedlers Modell darin, dass sie sowohl Bewohner einer gemeinsamen Utopie als auch einer gemeinsamen Geschichte sind. Beides ist in Europa untrennbar miteinander verbunden. Der europäische Traum ist nicht weniger beeindruckend als der amerikanische: er gilt für Individuen wie für ganze Nationen und erzählt von einer doppelten Verwandlung:

1. vom Zwang zur Freiheit – wie aus Diktaturen Demokratien
werden, und

2. vom Krieg zum Frieden – wie aus ehemaligen Todfeinden
friedlich koexistierende und eng miteinander kooperierende Nachbarn werden.

Tatsächlich haben von 28 EU-Staaten 17 Erfahrungen mit Diktaturen gemacht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die wachsende Bedeutung der Erinnerung in Europa seit den 1990er Jahren viel mit der Geschichtslast dieser Staaten zu tun hatte. Die Verwandlung von Diktaturen in Demokratien ist ein hohes Gut, das gerade auch den jungen Generationen eine ganz neue Kultur der Freizügigkeit, der geistigen Bewegung und des transnationalen Austauschs aufgeschlossen hat. Internet und soziale Medien stützen und verstärken diesen Trend der Freiheit und Selbstbestimmung (der in etlichen europäischen Staaten gerade freiwillig wieder aufgegeben wird). Dasselbe gilt für die Friedensmission: während der letzten Jahrzehnte haben wir auf der ganzen Welt an vielen erschütternden Beispielen gesehen, wie aus friedlichen Nachbarn Todfeinde und Massenmörder werden. Angesichts dieser Tendenzen ist der europäische Traum ein Kulturgut von höchster Bedeutung und ungebrochener Aktualität. Während man in den USA darüber nachdenkt, wie der amerikanische Traum ergänzt und verändert werden kann, ist die dringende Aufgabe diesseits des Atlantiks, den europäischen Traum neu zu entdecken und zu bestätigen. Statt sich angesichts der neuen Herausforderungen von Europa abzuwenden, ist das Gebot der Stunde genau das Umgekehrte: Strategien zu entwickeln für eine gemeinsame Bewältigung der globalen Krise.

Von der Mobilität zur Massenmigration

Nach 1989 erlebte Europa nicht nur eine Erweiterung, sondern auch ein neues Lebensgefühl, das sich in positiven Begriffen wie «Mobilität» und «Freiheit» ausdrückte. Der Fall der Mauer erlaubte vielen Menschen, die lange Zeit festgehalten worden waren, sich im geographischen Raum wieder frei zu bewegen und neu zu orientieren. Seither ist in Europa die Freizügigkeit zu einem zentralen Wert geworden. Mit dem Schengen-Abkommen wurden Binnengrenzen abgeschafft, durch Migrationsströme von Osten nach Westen wurde Europa neu durchmischt, eine junge mobile Erasmus-Generation wuchs auf, die die Wirklichkeit einer bedrohlichen Grenze mit Schussanlagen nur noch vom Hörensagen kannte.

«Die heutigen Migranten tragen die Wirklichkeit der Krisenherde und Kriege, die ausserhalb Europas weiter schwelen und immer wieder explodieren, ins Herz Europas.»

In schroffem Gegensatz dazu stand der Migrationsstrom, der 2015 Europa erreichte. Dieses Jahr, so urteilt Wolfgang Eilenberger, «markiert das Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen europäischen Generation».2 Er meint damit die in der mentalen Festung Europa genährte Illusion, die globalen Bewegungen und das millionenfache Leid in Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas könnten weiterhin «lebensweltlich auf Distanz» gehalten werden. Der Kontrast zwischen 1989 und 2015 ist offensichtlich: damals hatte man das euphorische Gefühl der Überschreitung von Grenzen im Zuge erweiterter Freiheit und Mobilität, heute ist es das genaue Gegenteil. Täglich erleben wir eine Form von Mobilität, die nicht von uns ausgeht, sondern auf uns zukommt und an jedem Punkt unserer Länder erfahren wird. Nachdem man Grenzen abgebaut hatte, arbeitet man nun daran, die Binnengrenzen wieder aufzubauen und die Aussengrenze Europas zu befestigen. 1989 war ein europäisches Ereignis, 2015 ist ein globales Geschehen.

Gegenwärtig ist eine neue Verbindung von Krieg, Gewalt und Massenflucht entstanden, von der wir aktuell dramatische Bilder vor Augen haben. Die heutigen Migranten tragen die Wirklichkeit der Krisenherde und Kriege, die ausserhalb Europas weiter schwelen und immer wieder explodieren, ins Herz Europas. Sie verweisen uns nachhaltig auf das, wovor wir lieber die Augen verschliessen würden: unser Eingebundensein in eine Welt der Globalisierung, die von (in der jeweiligen Situation als positiv und negativ wahrgenommenen) Formen der Mobilität gekennzeichnet ist. Was wir fern glaubten oder hofften, auf Distanz halten zu können, ist in unmittelbare Nähe und Nachbarschaft gerückt. Europa ist Teil der globalisierten Welt geworden und muss sich in dieser Welt nun neu positionieren.

Durch seine Geschichte und das Lernen aus dieser Geschichte hat Europa Rahmenbedingungen für Lebensformen geschaffen, die zum Ideal und Anziehungspunkt für Menschen geworden sind, die diese Güter gerade verloren haben. Wenn wir ihre Hoffnungen zerstören, zerstören wir auch den europäischen Traum. Die Antwort auf die gegenwärtige Krise kann deshalb nicht heissen, die Europäische Union zu zertrümmern und wieder in die Kollektivegoismen einzelner Nationen aufzulösen. Die Erinnerung an die zerstörerische historische Erfahrung zweier Weltkriege und die Besinnung auf die genuin europäischen Werte von Freiheit und Frieden sollten vielmehr gestärkt werden, denn sie sind als zentrale Zukunftsressource in das Fundament unseres Gesellschafts- und Nationenvertrags eingegangen. Nicht indem wir diese Werte anderen entziehen und sie davon aussperren, sondern nur, indem wir sie mit Migranten als neuen EU-Bürgern teilen, können sie ihre Kraft als Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens entfalten. Das Projekt Europa steht derzeit auf der Kippe. Ob es zerbricht oder an den neuen Herausforderungen wächst, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Europäer die zukunftsweisenden Werte ihrer historischen Erinnerung wachhalten und bereit sind, den europäischen Traum mit Nichteuropäern zu teilen. Das Projekt Europa ist eine unabgeschlossene Geschichte, die immer wieder weitererzählt werden muss, und das gilt besonders jetzt, da diese Geschichte eine neue Wendung nimmt.

  1. Leslie Fiedler: Cross the Border, Close the Gap. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim: VCH, 1988, S. 57 – 74.

  2. Wolfram Eilenberger: Was tun? In: Philosophie- Magazin. Nr. 2, 2016, S. 42.

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