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Das Rätsel der Vernunft

Die Philosophie versteht Vernunft seit Aristoteles als eine geistige Kraft, die den Menschen lernend zu Erkenntnis und klügeren Entscheidungen führt. Die Psychologie zeigt, dass das nur die halbe Wahrheit ist.

Das Rätsel der Vernunft

Eine Tasse Tee mit Keks kostet 1.10 Franken. Wenn der Tee 1 Franken mehr als der Keks kostet, was kostet der Keks? Ist doch ganz einfach, denken die meisten: 10 Rappen! Nur kann das nicht stimmen. Wäre dem so, würde die Tasse Tee 1.10 Franken kosten und damit Tee und Keks zusammen 1.20 Franken. Wir müssen also unsere erste intuitive Annahme verwerfen, um auf die richtige Lösung zu kommen: der Keks kostet 5 Rappen und der Tee 1.05 Franken.

Nach eingehender Beschäftigung mit solchen Aufgaben postulierten Psychologen wie der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, die Vernunft helfe uns dabei, intuitive, aber fehlerhafte Schlüsse – wie den, dass der Keks zehn Rappen koste – zu korrigieren. Einschlägige Versuche jedoch haben gezeigt, dass die meisten von uns ihre Vernunft eben nicht zur Korrektur intuitiver Trugschlüsse einsetzen, sondern vielmehr dazu, sich ein haltloses Argument auszudenken, das uns einen solchen Trugschluss zu rechtfertigen scheint.

Psychologen bezeichnen diese Voreingenommenheit zugunsten einer einmal gefassten Meinung als Confirmation Bias oder Bestätigungstendenz – eine übermächtige Neigung, nach Argumenten zur Untermauerung unserer anfänglichen Ansichten zu suchen, statt sie objektiv unter die Lupe zu nehmen und Argumente zu beachten, die sie möglicherweise unterminieren.

Mit unserer Vernunft also ist einem intuitiven Trugschluss in der Regel nicht beizukommen, weshalb sie uns auch nicht zu Wissen und Weisheit zu führen vermag. Eher im Gegenteil: indem sie uns Argumente zugunsten unserer ersten Eingebung liefert, bestärkt sie uns in unserer Überzeugung, recht zu haben, auch wenn wir uns irren. Woraus erklärt sich diese Eigenschaft der Vernunft?

Eine neue Auffassung von Vernunft

Die Existenz dieses Confirmation Bias an sich, dieser Neigung zur Untermauerung der eigenen Meinung, ist praktisch unbestritten. Ja, sie scheint der Forschung derart selbstverständlich geworden zu sein, dass diese darüber vergisst, wie rätselhaft sie ihr eigentlich sein sollte. Selbstverständlich darf es uns nicht weiter überraschen, dass entwicklungsbedingte Adaptionen nicht zwangsläufig perfekt sein müssen und hin und wieder nicht funktionieren. Was uns dagegen sehr wohl überraschen sollte, ist die Entdeckung einer Adaption, die – in der Art eines viereckigen Rades – Merkmale aufweist, die seine Effektivität nicht nur gelegentlich, sondern systematisch kompromittieren. In unserem neuen Buch «The Enigma of Reason» legen wir nahe, dass zu einem tieferen Verständnis der Bestätigungstendenz – und vieler anderer rätselhafter Merkmale der Vernunft – ein radikaler Neuansatz in unserer Auffassung von der Vernunft an sich nötig ist: Worin besteht ihre Funktion? Wie funktioniert sie? Und warum sollte sie sich ausschliesslich bei uns Menschen entwickelt haben?

Die Vernunft, so unsere – landläufigen Auffassungen zuwiderlaufende – These, hat sich nicht entwickelt, um uns beim Aufbau von Weltanschauungen oder dem einzelnen bei einer Entscheidung zu helfen; ihre Funktion ist vielmehr sozialer Art. Das Sozialleben des Menschen ist intensiver und weit diversifizierter als das irgendeines anderen Tieres. Zu einem erfolgreichen Management dieses Zusammenlebens gehört die Fähigkeit, andere sowohl zu beeinflussen als auch deren potenziellen Einfluss auf uns je nach Fall zu verwerfen oder zu akzeptieren. Die Vernunft, so unsere These, sollte dem Menschen Rechtfertigungen und Argumente zur Beeinflussung anderer liefern sowie dazu dienen, die Rechtfertigungen und Argumente, mit denen andere uns zu beeinflussen versuchen, auszuwerten, bevor wir sie entweder verwerfen oder akzeptieren.

Man stelle sich vor, wie schwierig sich selbst die belangloseste Interaktion gestalten würde, wären wir nicht in der Lage, Rechtfertigungen und Argumente auszutauschen. Wir würden ständig Gefahr laufen, andere falsch zu beurteilen und falsch beurteilt zu werden, anderen irrtümlicherweise keinen Glauben zu schenken oder anzunehmen, dass man uns irrtümlicherweise nicht glaubt. Wie sollten wir so Autoritäten in Frage stellen? Es bliebe uns nur die Gewalt. Unmöglich, Rechte als solche zu erkennen oder, wo wir schon dabei sind, sie überhaupt zu verstehen. Wir brauchen die Vernunft nicht nur für hehre Ziele etwa auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Philosophie oder des Rechts, sondern auch für unsere alltäglichen Interaktionen mit anderen – um etwa die Verspätung zu einer Verabredung zu rechtfertigen; um die Rechtfertigung eines anderen zu akzeptieren oder zu verwerfen, kommt der mal zu spät; um unseren Ehepartner davon zu überzeugen, zu Hause zu bleiben; um die Stichhaltigkeit seiner Argumente zu erkennen, wenn er lieber mit den Kindern an den Strand gehen will.

Die Vernunft als Werkzeug der sozialen Interaktion zu sehen, bringt Sinn in ihre andernfalls verwirrenden Eigenschaften. Der Confirmation Bias ist typisch dafür. Ist unsere Vernunft dazu da, jemanden mit ihren Rechtfertigungen und Argumenten zu überzeugen, ist die Zweckmässigkeit einer Bestätigungstendenz offensichtlich. Wären wir unparteiisch und würden unserem Gegenüber Gründe dafür nennen, unser Tun als ungerechtfertigt zu verwerfen, oder lieferten wir ihm gar Argumente gegen unsere Ansichten, wäre das, als würde ein Anwalt Schuldgründe gegen den eigenen Mandanten anführen – nur wären wir in diesem Fall Anwalt und Mandant zugleich. Falls wir mit unserer These richtig liegen, ist die Bestätigungstendenz kein «Webfehler» der Vernunft, sondern ein nützliches Merkmal, ein Hilfsmittel zur Erfüllung ihrer sozialen Funktion.

Bei eigenen Rechtfertigungen und Argumenten ist unsere Vernunft voreingenommen, und das ist gut so; bei der Auswertung von Rechtfertigungen und Argumenten anderer dagegen sollte sie objektiver und anspruchsvoller zu Werke gehen. Anspruchsvoll, damit wir nicht auf haltlose Argumente hereinfallen; objektiv, damit wir auf stichhaltige Argumente hin unsere Fehler einsehen und unsere Meinung revidieren können. Wie wir zeigen, gibt es zunehmend Belege dafür, dass die Vernunft in der Tat bei der Auswertung der Argumentation anderer objektiver ist als bei der Hervorbringung eigener Argumente. Wenn zum Beispiel jemand in der festen Überzeugung, besagter Keks koste zehn Rappen, mit jemandem diskutiert, der auf die richtige Antwort – nämlich fünf Rappen – gekommen ist, werden die Argumente zugunsten der richtigen Lösung obsiegen. Leute, die eben noch völlig überzeugt haltlose Argumente vorgebracht haben, werden erkennen, dass die Argumente der anderen Seite besser sind, und ihre Meinung unweigerlich ändern. Überlegen wir dagegen für uns alleine, neigt unsere Vernunft dazu, einfach unsere Ansicht zu bestätigen, ja sie womöglich sogar zu stärken, ob sie nun richtig ist oder nicht. Bei einer ernsthaften Diskussion neigen Teilnehmer mit unterschiedlichen Ansichten, aber gemeinsamer Zielsetzung dazu, sich zu einigen und von dem Zugewinn an Erkenntnis und Weisheit zu profitieren.

Vernünftig argumentieren lernen

Dieses Schema mangelhafter solitärer Leistungen und solider Gruppenleistungen ist ausgesprochen robust: Es findet sich bei Kleinkindern wie bei Genies, an modernen Universitäten wie in Kleingesellschaften, bei Labortreffen von Forschern ebenso wie in politischen Foren. Als Methode zur Überprüfung und Verbesserung unserer Ideen ist die aufgeschlossene Debatte der in aller Regel auf den eigenen Vorteil bedachten Reflexion des einzelnen überlegen. Für letztere ist die Vernunft nicht gedacht.

Dass unsere Argumentationsfähigkeit – im richtigen Kontext – weit besser funktioniert, als so mancher glauben möchte, bedeutet freilich nicht, dass sie vollkommen ist. So sind Erwachsene besser als Kinder, wenn es darum geht, vernünftige Gründe zu finden, und Experten besser als Laien. Die Evolution hat uns nicht mit einem fixen Arsenal einschlägiger Fertigkeiten ausgestattet, sondern mit der Fähigkeit zu lernen, wie man vernünftiger argumentiert.

Kleine Kinder übernehmen die Argumente ihrer Eltern direkt. Was nicht notwendigerweise bedeutet, dass ihnen dabei keine Fehler unterlaufen. Einmal, er hatte gerade laufen gelernt, argumentierte einer unserer Söhne: «Ich kann nicht schlafen gehen, ich bin zu müde.» Selbst solche Fehler zeigen, dass Kinder nicht lediglich nur die Argumente ihrer Eltern kopieren. Sie verstehen sie, extrahieren die Logik darin und verallgemeinern sie. Der Kleine hatte verstanden, dass «zu müde» ein gutes Argument ist, um sich der einen oder anderen Aktivität zu entziehen. Er war nur eben auf die eine Ausnahme gestossen, und er verlegte sich denn auch prompt auf effektivere Wege, um ums Schlafengehen herumzukommen.

Dieser Lernprozess setzt sich – zumindest bei guter Anleitung – die gesamte Schul- und Ausbildungszeit über fort. Logischerweise spielen insbesondere Gruppendiskussionen eine kritische Rolle bei der Entwicklung diskursiver Kompetenzen. Der Erwerb derselben bei Teenagern ist das Spezialgebiet der Psychologin Deanna Kuhn und ihrer Kollegen. Das effizienteste Werkzeug, um jungen Leuten eine solide Argumentationsführung und das Antizipieren von Gegenargumenten beizubringen, bestand ihren Erkenntnissen zufolge darin, sie immer wieder zu streng strukturierten Diskussionen zu animieren. Die Teams mussten sich gute Argumente einfallen lassen und diese dann diskutieren. Die Diskussionen verbesserten nicht nur die Fertigkeiten der Schüler im Diskutieren, diese schrieben auch bessere Aufsätze. Erstaunlich war, dass die Schüler, die besonders ausgiebig mit ihren Altersgenossen diskutierten, auch bei ihren Aufsätzen grössere Fortschritte machten als jene mit einschlägigem Unterricht.

Selbst nach Beendigung unserer formellen Ausbildung bieten sich immer wieder Gelegenheiten zur Verbesserung unserer Argumentationsfähigkeit. Der Anthropologe Kevin Dunbar hat zahllose Stunden Wissenschafter bei der Arbeit beobachtet, um ihren Denkprozess zu verstehen. Er stellte dabei fest, dass jüngere Wissenschafter sich nicht selten angegriffen fühlten, wenn sie ihre Hypothesen durch neue Daten in Frage gestellt sahen – ein Auslöser für den Confirmation Bias schlechthin. Bei Labortreffen jedoch waren ihre haltlosen Argumente rasch widerlegt und ihre Hypothesen im Verlauf der Gruppendiskussion durch stichhaltigere Alternativen ersetzt. Ältere, erfahrenere Wissenschafter haben gelernt, die Kritik zu antizipieren, die ihnen die Verteidigung ihrer falschen Hypothesen gegenüber stichhaltigen Gegenbeweisen einbringen würde; entsprechend sparen sie sich diesen Schritt und denken gleich über Alternativen nach.

Die Dynamik produktiver Diskussionen

Wir profitieren also vom argumentativen Austausch in mindestens zweierlei Hinsicht: zum einen unmittelbar, insofern er uns Gelegenheit gibt, anderen unsere guten Ideen mitzuteilen und deren beste Ideen zu hören; zum anderen mittelbar, insofern wir damit an unserer Argumentationsfähigkeit feilen. Beides verstärkt einander. Der unmittelbare Nutzen motiviert uns zu weiteren Diskussionen, der verzögerte erlaubt uns, diese Diskussionen noch produktiver zu führen. Aber anstossen lässt sich diese positive Dynamik nur, wenn wir den Nutzen des Austauschs von Argumenten erkennen. Zu gerne spielen wir die Effektivität einer eben geführten Diskussion herunter: Kam die gute Idee, von der unser Partner uns eine Ewigkeit lang zu überzeugen versuchte, nicht von Anfang an von uns selbst? Wir nehmen kaum zur Kenntnis, wenn andere unsere Argumente akzeptieren; wir nehmen es nur als Sturheit wahr, tun sie das nicht. Alles in allem wird die Kraft des Argumentierens immens unterschätzt. Was jammerschade ist, denn es könnte als Instrument der Selbstbesserung womöglich viel für uns tun.

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