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Brexit oder die Beständigkeit der Nation

Der Pulverdampf der Brexit-Abstimmung hat sich verzogen und mit den Worten von Lord Wellington, dem Sieger von Waterloo, ist man geneigt zu sagen: «Es gibt nichts, was schlimmer ist als eine Niederlage – mit Ausnahme eines Sieges.» Das haben sich wohl auch Boris Johnson und Nigel Farage gedacht, und sind zumindest vorerst von der grossen […]

Brexit oder die Beständigkeit der Nation
Oliver Schneider, zvg.

Der Pulverdampf der Brexit-Abstimmung hat sich verzogen und mit den Worten von Lord Wellington, dem Sieger von Waterloo, ist man geneigt zu sagen: «Es gibt nichts, was schlimmer ist als eine Niederlage – mit Ausnahme eines Sieges.» Das haben sich wohl auch Boris Johnson und Nigel Farage gedacht, und sind zumindest vorerst von der grossen Bühne abgetreten. Die Konfusion nach dem Sieg der «Leave»-Kampagne ist allenthalben gross. In Grossbritannien wird neues Personal für die anstehenden Herausforderungen gesucht und in Europas Hauptstädten denkt man lautstark über EU-Reformen nach. Aller Ungewissheit zum Trotz zeigt der Brexit-Entscheid eines ganz deutlich: Die Nation bleibt die entscheidende Bezugsgrösse für die Menschen in Europa. Das sollten sich nicht nur Politiker in der EU sondern auch in Grossbritannien zu Herzen nehmen. Denn wie die jüngsten Reaktionen in Schottland, Nordirland und Gibraltar deutlich machen: Nicht nur die EU droht einen Mitgliedstaat zu verlieren, auch die Tage von Grossbritannien in seiner heutigen Form sind angezählt.

 In seiner ersten Rede vor dem Europaparlament nach dem Brexit-Votum hat der Kommissionvorsitzende Jean-Claude Juncker seine Trauer über den britischen Entscheid ausgedrückt und betont, dass die EU mehr als nur ein rationales Projekt sei. Doch genau hier liegt Herr Juncker falsch. Das grundlegende Problem der EU liegt in der fehlenden affektiven Bindung der Menschen Europas zum Brüsseler Konstrukt. Mag die Idee einer «immer engeren Union» aus Sicht der Brüsseler Nomenklatura eine Herzensangelegenheit sein, für die Mehrheit der Menschen in Europa ist sie es nicht. Die EU hat die Herzen der Menschen nie erobert, sie ruft keine vertrauten Bilder und Schöpfungsmythen in den Köpfen der Menschen wach. Um es mit den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson auszudrücken, ist die EU anders als eine Nation eben keine «imagined community», keine vorgestellte Gemeinschaft. Auch gibt es weder eine gesamteuropäische Narration noch eine geteilte Vision für die Zukunft Europas, die in den Köpfen und Herzen der europäischen Bevölkerung wirksam wäre. Die EU ist ein Wirtschaftsraum geblieben, der den Schritt zum europäischen Staatsgebilde, wie er in den Maastrichter Verträgen eigentlich angelegt ist, nie geschafft hat. Daran ändern auch Ambitionen von EU-Politikern nichts, die nach einer Art europäischem Superstaat streben.

 Der Brexit-Entscheid ist also insbesondere Ausdruck einer fehlenden affektiven und geistigen Verankerung der Europäischen Union in der breiten Bevölkerung. In wirtschaftlich prosperierenden und sozial stabilen Zeiten mag dies nicht von grosser Bedeutung gewesen sein. In der aktuellen Situation, in der sich die EU befindet, tritt dieser Mangel aber umso deutlicher zu Tage. Die Briten haben mit ihrem Votum vom 23. Juni ihr Heil im Rückgriff auf die Nation gesucht. Damit haben sie nicht nur der EU den Rücken gekehrt, sondern möglicherweise auch gleich das Ende Grossbritanniens, wie wir es heute kennen, eingeläutet. Bleibt doch abzuwarten, ob die Geister, welche die Brexit-Befürworter gerufen haben, nicht auch die Menschen in Schottland, Nordirland, Wales und Gibraltar heimsuchen werden. Sehen sie ihre Zukunft angesichts des drohenden EU-Austrittes weiterhin innerhalb Grossbritanniens? Ihre emotionale Bindung und Loyalität gilt womöglich eher ihrer vorgestellten Gemeinschaft, sprich: der eigenen Nation als der britischen Krone – ob die Brexit-Befürworter die Möglichkeit eines Auseinanderbrechens des Vereinigten Königreiches als Folge der Abstimmung jemals in Betracht gezogen haben?

Oliver Schneider hat an der Universität Fribourg Zeitgeschichte und am IHEID in Genf Internationale Beziehungen studiert. Nach Jahren beim ARD Hörfunk beobeachtet er als Freischaffender das Zeitgeschehen. Oliver Schneider lebt und arbeitet in Zürich-Höngg.

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