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Wo bleibt der Rettungsschirm für die Menschenrechte?

Menschenrechte sind stets fragil. In ökonomischen Krisensituationen ist ihre Schutzfunktion besonders gefährdet. Deshalb gilt es zu trennen, was auseinander gehört: Menschenrechte und wirtschaftliche Konjunkturzyklen.

Wo bleibt der Rettungsschirm  für die Menschenrechte?

Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, haben die Gerichte Hochkonjunktur. Der Pleitegeier sorgt für Streit und damit für viel Arbeit in den Kanzleien, Konkursämtern und Gerichten. Das Rechtssystem verhält sich somit antizyklisch. Gilt dieser Grundsatz auch für die Menschenrechte?

Die Frage ist ebenso spannend wie vielschichtig. Die Bedeutung der Menschenrechte ist heute unbestritten. Keine Regierung kann es sich leisten, die Menschenrechte zu verneinen. Bei ihrer Umsetzung hapert es allerdings häufig. Die Menschenrechte sind nicht in allen Fällen an das Prosperieren einer Volkswirtschaft gebunden. Es gibt neben einer stagnierenden Wirtschaft eine Reihe von weiteren Gefahren. Aber eine Wirtschaftskrise wirkt sich ohne Zweifel mittelbar immer auf die staatliche Infrastruktur (effiziente Verwaltung, funktionierender Polizeiapparat, unabhängige Gerichte etc.) und die Sozialwerke aus. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sind die Staatsfinanzen knapp, und damit bleibt auch ein kleineres Stück vom öffentlichen Finanzkuchen für den Menschenrechtsschutz. Die Erfahrung zeigt, dass davon die besonders schutzbedürftigen Menschen (most vulnerable persons) am stärksten betroffen sind: Frauen, Kinder, Ausländer, Flüchtlinge, Minderheiten und Behinderte. Sie sind institutionell meistens schlecht organisiert und verfügen über keine starke Lobby. Für die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger ist in solchen Situationen die Versuchung gross, dem Druck dort nachzugeben, wo der Widerstand am kleinsten ist. Das führt häufig dazu, dass Sozialleistungen gerade dann gekürzt werden, wenn sie am nötigsten wären. Der UNO-Ausschuss, der die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte überwacht, hält dazu ausdrücklich fest, dass Sparmassnahmen nicht einseitig zu Lasten dieser besonders exponierten Menschen gehen dürfen.

Sparmassnahmen und Grundrechts­ansprüche

Ob man sie als notwendig erachtet oder als Teil einer verfehlten Politik sieht – rigorose Sparmassnahmen können die Grund­rechtsansprüche auch für weite Teile der Bevölkerung beeinträchtigen. In vielen Fällen sind also nicht nur speziell verletzliche Menschen gefährdet, sondern grosse Teile der Gesellschaft. Dies wird offensicht­lich, wenn staatliche Schulen nicht mehr geheizt werden können, der Müll auf öffentlichen Strassen liegen bleibt und Spitäler wegen mangelndem Personal keine Patienten mehr aufnehmen können. Sparvorhaben der öffentlichen Hand sind zwar grundsätzlich menschenrechtlich zulässig, die einzelnen Grundrechte dürfen in ihrer Substanz aber nicht ausgehöhlt werden. Wenn nur noch an einem Tag der Woche Schulunterricht angeboten wird, ist das Recht auf Bildung verletzt. Mit einer solchen Massnahme würde den Kindern die Chance genommen, sich intellektuell zu entwickeln, in Zukunft einem Beruf nachzugehen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Im Fall der italienischen Abfall­krise in Neapel hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre anerkannt, weil die liegengebliebenen Abfälle zu Umweltverschmutzungen (Trink­wasser­gefährdung, Schadstoffkonzentration in der Luft durch die illegal verbrannten Abfälle) und damit zu einer erheblichen Einbusse der Lebensqualität geführt hatten.

Damit Menschenrechte wahrgenommen werden können, bedarf es der entsprechenden Mittel für ihre Durchsetzung. Der EGMR hat dies auch an einem unspektakulären Beispiel deutlich gemacht: Die sibirischen Gerichte können allzu lange Verfahren nicht damit rechtfertigen, dass ihnen von Moskau kein Papier geliefert wird. Der Staat ist international dazu verpflichtet, die Infrastruktur so weit instand zu halten, dass die Gerichte ihre Aufgaben in nützlicher Frist und auf einem Niveau wahrnehmen können, das einem rechtsstaatlich anerkannten Verfahren entspricht. Ökonomische Krisensituationen bilden gleichzeitig einen gefährlichen Nährboden für fundamentalistische Meinungen, die rasch in Hass, Rassismus und Xenophobie umschlagen können. An der Misere sind immer die «anderen» schuld. Die schweren Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen von 1992 sind dafür ein dramatisches Beispiel. Mehrere hundert Randalierer hatten unter dem Applaus von circa 3000 Schaulustigen eine Aufnahmestelle für Asylsuchende und ein Wohnheim für Gastarbeiter aus Vietnam angegriffen und mit Molotowcocktails in Brand gesetzt. Auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen hatte sich die Polizei zeitweise völlig zurückgezogen und die in den brennenden Häusern eingeschlossenen Personen schutzlos sich selbst überlassen. Nur durch ein Wunder kam bei dieser fremdenfeindlichen Hetze niemand ums Leben. Gerade die Menschenrechte einer Minderheit, die sich nicht verteidigen kann, muss der Staat schützen. In diesen Situationen ist es unerlässlich, dass die Menschenrechte auch durchgesetzt werden können. Nur wenn Polizei, Einsatzkräfte und Feuerwehr in der Lage sind, für den unmittelbaren Schutz vor Ort zu sorgen, und unabhängige Gerichte die Ausschreitungen auch ahnden, kann das Schlimmste verhindert werden.

Wirtschaftswachstum und Menschenrechtsschutz

Menschenrechte sind in wirtschaftlichen Krisen also stets fragil. Umgekehrt wäre es falsch zu glauben, dass eine positive Wirtschaftsentwicklung per se einen ausreichenden Schutz für die Einhaltung der Menschenrechte bietet. Die Gleichung «Hochkonjunktur führt automatisch zu einer guten Menschenrechtssituation» stimmt in dieser Form sicher nicht. In einem Staat, wo Menschen auf Polizeiposten, in Gefängnissen oder in psychiatrischen Kliniken systematisch misshandelt werden, geschieht dies unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung. Nur wenn ein Wille vorhanden ist, diese menschenverachtende Praxis aufzugeben, wird sich in von solchen Misshandlungen betroffenen Ländern die Menschenrechtslage auch verbessern. Mit dem Willen allein ist es allerdings nicht getan. Der Lernprozess ist schmerzhaft, denn Peiniger müssen vor Gericht gebracht werden. Er kostet Zeit und Geld, denn den Polizisten, Gefängnisaufsehern und Psychiatriepflegern muss ein menschenwürdiger Umgang mit den Insassen beigebracht werden. Das Aufbrechen von Tabus, der Abbau von Vorurteilen und die Veränderung etablierter Verhaltensmuster sind schwierige Aufgaben, die oftmals Jahrzehnte dauern. In vielen Fällen schaffen Staaten das nicht aus eigener Kraft und bedürfen Impulsen, Druck und Unterstützung aus der internationalen Gemeinschaft. So verlangt etwa die EU die Einhaltung der Menschenrechte in den Beitrittsländern und fördert konkrete Programme zur Besserstellung der Roma oder anderer Minderheiten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte doppelt in konkreten Fällen nach. Er verurteilt immer wieder menschenrechtswidrige Räumungen von Roma-Siedlungen und spricht den Betroffenen erhebliche Schadenersatzsummen zu. Die UNO-Menschenrechtsorgane schliesslich ermahnen die Staaten zur Einhaltung der Grundrechte – dies alles nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein!

Die Menschenrechte können auch aus einem weiteren Grund nicht einfach in eine direkte Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Prosperität gestellt werden: Die Menschenrechte entwickelten sich weder geradlinig noch in einem regelmässigen, wiederkehrenden Zyklus. Mit anderen Worten: auf sieben magere Jahre folgen im Menschenrechtsbereich nicht notwendigerweise sieben fette. Die Geschichte der Menschenrechte ist vielmehr von Kata­strophen, Rückschlägen und langen Phasen der Stagnation geprägt – und zwar
unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in den einzelnen Staaten und den Indikatoren der Weltwirtschaft.

Es ist sogar eine Ironie des Schicksals, dass gerade die schlimmsten Katastrophen – etwa der Holocaust – der Menschenrechtspolitik wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung gegeben haben. Wir wären ohne die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges im Grundrechtsschutz nicht da, wo wir heute sind: Folter und Genozid sind international absolut geächtet. Ein Minimalstandard von bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten ist seither garantiert. Zur Überwachung haben viele Staaten einen Teil ihrer Souveränität abgegeben und akzeptieren die Kompetenzen der internationalen Überwachungsorgane (z.B. durch den UNO-Antifolterausschuss oder den Menschenrechtsausschuss der UNO). Erst die komplette Verachtung der Menschenrechte im Zweiten Weltkrieg hat ihre Akzeptanz auf internationaler Ebene überhaupt ermöglicht. Letztlich ist es kein Zufall, dass gerade da, wo die Menschenrechte am heftigsten mit Füssen getreten worden sind, heute der stärkste institutionelle Schutz besteht: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat international eine unvergleichbar starke Position und sorgt für die Einhaltung der Grundrechte in 47 Staaten von Porto bis Wladiwostok sowie von Oslo bis Valletta.

Schliesslich können auch einzelne Ereignisse die Menschenrechte völlig losgelöst von der wirtschaftlichen Entwicklung in eine Krise stürzen. Wenn in einem Land schwere Sexualdelikte in die Schlagzeilen geraten, wird erfahrungsgemäss der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe laut. Die Ächtung der Todesstrafe sowohl in Kriegs- wie auch in Friedenszeiten, die in Europa als Meilenstein der Menschenrechtsentwicklung gilt, ist dann akut gefährdet. Die Entführung des Bankierssohnes im Fall Gäfgen hat gezeigt, wie schnell ein Grossteil der Bevölkerung bereit ist, einen Menschen zu foltern. Der Polizeikommandant, der dem Entführer Folter angedroht hatte, um herauszufinden, wo der entführte Junge war, hat eine Welle der Sympathie in Deutschland ausgelöst. Auch namhafte Rechtsexperten sprachen sich in dieser Situation für die Folter aus. Das absolute Folterverbot wackelt zudem in allen Gesellschaften, die von Terroranschlägen hart getroffen worden sind. Die Forderung, dass auch Terroristen Menschen sind und deshalb menschenwürdig behandelt werden müssen, klingt in den Ohren der traumatisierten Opfer wie Hohn. Die Erkenntnis ist bitter, aber die Anschläge von 9/11 und der sogenannte «Krieg gegen den Terror» haben wahrscheinlich zu einem der schwersten Rückschläge in der neuesten Menschenrechtsentwicklung der westlichen Welt geführt. Diese Erfahrungen lehren uns, dass die Menschenrechte nicht in Stein gemeisselt sind. Sie hängen in rechtsstaatlichen Ausnahmesituationen an einem Faden. Auch hier braucht es starke unabhängige Organe, die ihre Einhaltung überwachen und durchsetzen können – ganz unabhängig davon, wie die Börsenindizes stehen.

Menschenrechte sind «too big to fail»

Die Menschenrechtsentwicklung verläuft somit nicht immer und überall parallel zur Wirtschaftskurve. Wenn es aber enger wird für alle, wenn weniger Geld für die staatliche Infrastruktur vorhanden ist, dann leidet auch der Menschenrechtsschutz. Die gegenwärtige Eurokrise und die damit verbundene globale Wirtschaftskrise haben sogar eine Dimension angenommen, die ein gefährlich explosives Potenzial birgt, das sich in verheerender Weise entladen könnte. Dass viele Menschen beispielsweise gegen die Sparmassnahmen demonstrieren oder der öffentliche Dienst streikt, sind die ersten Warnsignale.

Wagen wir einmal einen Vergleich. Staaten haben dem maroden Bankensektor in der Krise weltweit Milliarden zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig haben sie rigorose Sparmassnahmen angeordnet, die sich auf das Funktionieren jener Institutionen auswirken, die für die Einhaltung der Menschenrechte zuständig sind. Müsste das Argument «too big to fail» – oder vielleicht treffender «too important to fail» – nicht auch für das Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialwesen gelten? Oder anders gefragt: Wo bleibt der internationale Rettungsschirm für die Menschenrechte angesichts der dramatischen Krise?

Die Rhetorik vom Staat, der angeblich dem Wirtschaftsgeschehen völlig ausgeliefert ist, führt längerfristig zu einer Entmachtung der staatlichen Organe zugunsten der nationalen und transnationalen Unternehmungen, Finanzinstitute und Banken. Dieser Gefahr muss entgegengetreten werden, denn die Staaten allein sind und bleiben für die Einhaltung der Menschenrechte verantwortlich. Die Entkoppelung des Menschenrechtsschutzes vom Gang der Wirtschaft muss deshalb letztlich in einem weiteren gesellschaftspolitischen Kontext gesehen werden. Je mehr die staatliche Souveränität beschnitten wird, desto mehr klaffen Kompetenz und Verantwortung auseinander. Der schleichende Macht­zerfall der staatlichen Akteure kontrastiert mit der Letztverantwortung des Staates für den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger. Staat und Gesellschaft müssen ihr Schicksal wieder vermehrt selber in die Hand nehmen. Dies gilt jedenfalls so lange, als transnationale Unternehmungen nicht in die Verantwortung für die Einhaltung von Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards eingebunden werden können. Davon sind wir auf internationaler Ebene immer noch weit entfernt. Die Entkoppelung ist somit auch eine Gegenstrategie, um der verheerenden Entwicklung zu einer postdemokratischen Gesellschaft hin Einhalt zu gebieten. Die Demokratie mit dem fundamentalen Anliegen des Menschenrechtsschutzes und der Rechtsstaatlichkeit ist – gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise – unverzichtbar.

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Anspruch und Wirklichkeit: Menschenrechte in Zeiten der Krise

Der Mensch ist Träger elementarer Rechte, die er sich über die letzten Jahrhunderte erkämpft und institutionell abgesichert hat – mit Erfolg. Aus der Einsicht, dass die Würde des Menschen eines besonderen Schutzes bedarf, entstand ein Netz von Institutionen und Gerichten. Diese haben Menschenrechten mittlerweile zum Status eines globalen Megathemas verholfen. Gleichzeitig erinnern täglich weltweit geschehende […]

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