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Was, wenn’s knallt? – Und was, wenn nicht?

Gelddruckende Zentralbanken, Einheitswährung Euro, überschuldete Staaten, schrumpfvergreisende Bevölkerungen – die Lage in Europa ist unübersichtlich. Wie gehen Steuerzahler, Sparer, Bürger, Pensionäre damit um? Zwei Skeptiker entwerfen realistische Szenarien. Und passende Gegenstrategien.

Was, wenn’s knallt? –  Und was, wenn nicht?
Beat Kappeler und Ivan Adamovic, photographiert von Philipp Baer.

Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob übermorgen die Sonne scheint. Aber wir glauben zu wissen, wie die Europäische Union in zwei Jahren aussieht. Mein Eindruck ist: Der Mensch überschätzt seine Prognosefähigkeiten ständig. Oder wie sehen Sie das, Herr Kappeler?

Beat Kappeler: Wer das Zeitgeschehen kritisch beobachtet, will erkennen, was ist – und nicht, was sein soll. Der Blick der Täter in Brüssel hingegen ist stets durch ihre politischen Wunschvorstellungen getrübt. In Brüssel werden Durchhalteparolen ausgegeben und neue Integrationsschritte gezimmert: Fiskalunion, Bankenunion und wohl bald auch eine Sozialunion. Das Heil kann, darf, soll nur in mehr Zentralisierung liegen. Dabei ist absehbar: Der Schuldenberg wird dadurch nicht kleiner, sondern grösser, der finanzielle Druck wird also zu- statt abnehmen. Und dies wiederum wird jene paradoxe Entwicklung verstärken, die sich seit längerem abzeichnet: Die verstärkten Integrationsbemühungen der einen werden durch die Differenzierungsbemühungen der anderen konterkariert. Die Union wird sich im Zeichen der Zentralisierung auseinanderdividieren.

Ivan Adamovich: Einverstanden. Und ich möchte hinzufügen: In stabilen Zeiten ist es einfach, Prognosen zu machen – man kann die Gegenwart extrapolieren und fährt damit in der Regel nicht schlecht. Anders verhält es sich in Umbruchzeiten wie jener, in der wir uns in Europa gerade befinden. Alles kann sich von einem Tag auf den anderen ändern, und zwar so, wie es niemand erwartet hat. Noch vor kurzem galten Rechtsbrüche wie der Verstoss gegen die No-Bail-out-Klausel durch die EU als unvorstellbar. Mittlerweile scheinen sich alle daran gewöhnt zu haben. Extrapolationen führen in solchen Zeiten in die Irre. Jetzt muss man erst recht in Szenarien denken: Nichts ist sicher, vieles möglich.


Es gab keine Gewissheit, aber frühe Anzeichen dafür, dass EU-Recht dehnbar ist. 2003 und 2004 verstiessen Deutschland
und Frankreich gegen die Maastrichter Verschuldungsgrenzen. Herr Kappeler, Sie scheinen ziemlich klare Vorstellungen über die Zukunft der EU zu haben. Denken Sie nicht zu deterministisch?

Kappeler: Ganz einfach: es gibt kulturelle und ökonomische Gesetzmässigkeiten, die keine Politik aus der Welt schaffen kann. Europa ist vielfältig und lässt sich nicht über einen Kamm scheren – dies zu tun, ist und bleibt eine Illusion. Und der Norden und der Süden werden sich wirtschaftlich unterschiedlich entwickeln. Die Wachstumshemmnisse und Verwerfungen im Süden werden vorerst bestehen bleiben, die bekommen Sie mit hehren Aufrufen, neuen Gesetzen und Verordnungen nicht von einem auf den anderen Tag weg. Oder nochmals anders gesagt: die kulturellen, die ökonomischen und in der Folge die sozialen Spannungen innerhalb der EU werden zu-, nicht abnehmen.

Aus diesem Befund lassen sich unterschiedliche Folgerungen ziehen. Was rät der Vermögensverwalter den Kunden?

Adamovich: Wer bloss auf zwei Jahre hinaus denkt, dem würde ich empfehlen, liquide in Bargeld und kurzfristigen Obligationen zu bleiben. Wer aber einen längeren Horizont im Auge hat, für den gibt es eigentlich nur eine Option: diversifizieren. Wer nämlich zu wissen glaubt, wie die Welt in zehn Jahren aussieht und welche Anlagestrategien dann von Erfolg gekrönt sein werden, ist entweder unseriös oder ein gewiefter Akteur auf dem lukrativen Markt für Prognosen. Zweiteres ist zwar ökonomisch legitim, aber für den Anleger problematisch. Und es gilt: je unsicherer die Zeiten, desto grösser die Nachfrage nach Prognosen. Die Leute wollen etwas hören, also bekommen sie eine gute Geschichte erzählt.

Was empfiehlt der kritische Publizist?

Kappeler: Es bleibt bloss die Möglichkeit, in Szenarien zu denken. Das Grundmuster für diese habe ich geschildert: schwaches Wachstum, Verstetigung der Schuldenwirtschaft, Verwerfungen zwischen Nord und Süd. Ich sehe hier im wesentlichen zwei
Zukunftsszenarien. Erstens: der Norden zahlt. Man versucht, mit allen möglichen Verkleisterungen und Umverteilungen bis hin zu Euro-Bonds und zum Hedging des ESM-Fonds den Süden im Boot zu behalten. Das wäre die Option «Durchwursteln», mit der Gefahr, dass die Wähler im Norden das Spiel nicht länger mitspielen. Zweitens: die Länder des Nordens – Grossbritannien, Deutschland, Finnland, Holland, Österreich – solidarisieren sich untereinander und kündigen die unbeschränkte finanzielle Unterstützung auf. Die EU würde auseinanderbrechen, hätte aber zugleich die Möglichkeit, sich neu zu formieren.

Adamovich: Szenario eins ist im Grunde die Extrapolierung der Gegenwart: schwächelnder Süden, Ausbau der Transferunion, beschwichtigende Rhetorik im Norden, man versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Die Frage ist hier: Machen die Wähler mit? In Griechenland lässt sich bereits beobachten, dass Nationalisten wieder salonfähig werden, und auch die Wahlen in Italien sprechen eine deutliche Sprache. Die Lage ist angespannt, und die Frage ist: Knallt es oder knallt es nicht? Szenario zwei ist eindeutiger. Hier ist die Frage: Wann knallt’s?

Und was ist mit Szenario drei, wonach sich die Probleme wie von Wunderhand lösen und Europa auf den Pfad des Wachstums zurückfindet?

Kappeler: Das ist Seinsollen. Es hat Jahrzehnte gebraucht, bis die Probleme so gross wurden, wie sie nun mal sind. Und nun braucht es viel Zeit, um sie wieder zu redimensionieren. Leider ist Europas Süden gesellschaftlich dysfunktional.

Adamovich: Man kann nicht ständig im Modus Sorge leben. Ich sehe es so: Wer klug investiert, kann gut schlafen und das Leben trotz allem geniessen. Eine gute Anlagestrategie ist immer auch eine Art Versicherung, so dass man sich wieder um die positiven Dinge des Lebens kümmern kann.

Stimmt schon. Nur haben wir noch gar nicht die wohl grösste Herausforderung angesprochen, mit der sich Europa konfrontiert sieht: Die meisten Länder Europas verfügen über eine schrumpfvergreisende Bevölkerung, und die Sozialsysteme sind nicht ausfinanziert.

Adamovich: Es macht ja schon die Rede von der Entvölkerung Deutschlands die Runde – das ist zweifellos übertrieben, doch stellt sich auch hier eine Frage, auf die wir noch keine Antwort
haben: Wie wirkt sich der demographische Wandel auf die Innovationsfähigkeit und Produktivität unserer Volkswirtschaften aus? So viel Einigkeit besteht immerhin über alle Parteigräben und ganz Europa hinweg: Die Lösung der finanziellen Probleme führt allein über Wachstum. Wirtschaftswachstum ist aber auch stark an Bevölkerungswachstum gebunden. Was, wenn die Bevölkerungsgrösse insgesamt abnimmt, das Durchschnittsalter aber zunimmt? Unsere Sozialsysteme sind in anderen Zeiten erfunden worden und dafür nicht gerüstet. Also lautet die Antwort: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderung. Aber die Zuwanderung lässt sich erstens nicht beliebig steuern und birgt zweitens gesellschaftliches Konfliktpotential.

Kappeler: Unser Gespräch hat eine interessante Wendung genommen: Wir reden so, als wäre Europa eine Einheit. Das ist nicht der Fall und bloss das Resultat politischer Propaganda. Nehmen wir das Statistische Amt der EU, genannt Eurostat. Die Eurostatistiker geben Zahlen über EU-weite Preis-, Wachstums- und Arbeitslosenraten bekannt. Das ist eine offizielle Lüge, ganz einfach deshalb, weil es Europa als einheitlichen Staat nicht gibt. Alle EU-Länder haben unterschiedliche Steuerregimes, unterschiedliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken, unterschiedliche Schuldenstände. Hier Durchschnittswerte als europäische Zustände zu schildern, ist allein dem Bemühen der Eurokraten geschuldet, «Konvergenz» zu suggerieren, dass es mithin so etwas wie eine europäische Volkswirtschaft gebe. Die gibt es aber nicht. Da ist es wieder, das Seinsollen!

Stimmt. Hier wird nicht Wirklichkeit abgebildet, hier wird Wirklichkeit erzeugt. Das ist Ausdruck einer neuen europäischen Politik, die ihre wichtigste Aufgabe darin sieht, Fakten zu schaffen.

Kappeler: Die Politik ist in allen wirtschaftlichen Fragen längst zur entscheidenden gestaltenden Kraft geworden. Dabei verwischt sie die Grenzen zwischen Sein und Seinsollen, zwischen Beschreibung und Vorschrift, zwischen Information und Propaganda immer mehr. Der Beobachter hat zunehmend Mühe zu erkennen: Sagt Frau Merkel etwas, weil sie davon überzeugt ist, dass es stimmt? Oder sagt sie es gegen alle Evidenz, weil sie damit rechnet, dadurch die Realität zu verändern? Viele meiner publizistischen Kollegen haben dieses Spiel noch nicht durchschaut. Sie erwarten das Heil von der Politik und lasten das Versagen derselben für gewöhnlich der Wirtschaft – also der freien Marktwirtschaft – an. Okay, ich weiss, auch das ist keine positive Botschaft, aber ich sage es dennoch: Diese Macht der Politik bereitet mir Sorgen.

Adamovich: Ich bin in dieser Frage relativ illusionslos ökonomisch. Hinter jeder politischen Aussage und jeder Prognose steht ein Interesse. Und auch hinter jeder Kommunikation über eine Prognose steht ein Interesse. Eurostat ist ein gutes Beispiel, dasselbe trifft aber auch auf viele Zentralbanken zu. Sie erzählen uns seit Jahr und Tag, dass sie problemlos aus dem ganzen Liquiditätsschaffungsmechanismus wieder herauskommen – und dass sie den richtigen Zeitpunkt ebenso problemlos bestimmen können. Nun, hier hilft nur eine Portion gesunde Skepsis. Je zentraler irgendwelche Statistiken produziert werden, umso grösser sind die Folgen, wenn sie falsch sind.

Verstehe ich Sie richtig – ungeachtet der tausend Statistiken, die kursieren, ist es im Jahre 2013 schwierig, an verlässliche Fundamentaldaten heranzukommen?

Adamovich: Als Bank sind wir auf gute Daten angewiesen – sie sind der Rohstoff unserer Prognosen und Szenarien. Und ich kann Ihnen sagen: diese zu beschaffen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Was uns hilft, ist der Wettbewerb unter den Statistiken. Wenn Sie unterschiedliche Quellen vergleichen können, kommen Sie der Realität am nächsten. Wenn Sie nur eine Quelle zur Verfügung haben, so sind die Zahlen eigentlich ziemlich wertlos – oder schlimmer noch: sie sind gefährlich, weil sie Sie auf eine falsche Fährte locken können. Und viele Zahlen werden nicht mal erhoben. Nehmen Sie den Fiscal Gap zwischen expliziter und impliziter Staatsverschuldung. Implizite Schulden sind sämtliche Versprechungen des Staates für die Zukunft – etwa Renten –, die nichts anderes als Schulden darstellen. Und diese sind in den Statistiken gar nicht erfasst. Aber Achtung: selbst wenn Sie versuchen, die
finanzielle Situation der Vorsorge genau abzubilden, können Sie die Zahlen sehr stark manipulieren – es reicht, ein paar Parameter anzupassen, das angenommene Wirtschaftswachstum, den Zinssatz oder die Alterserwartung.

Kappeler: Das ist in der Tat ein Problem. Vertraue nur den Statistiken, die du selbst gefälscht hast! Insofern müssen wir froh sein, dass es Ratingagenturen gibt. Sie sind ein wertvolles disziplinierendes Instrument, indem sie die Deutungsmacht der Politik beschränken.

Allerdings sind auch hier Zweifel angebracht. Wie sie zu ihren Ratings kommen, ist ein gutgehütetes Geheimnis. Zudem werden sie von jenen bezahlt, die sie bewerten – das ist ein klarer Interessenkonflikt.

Kappeler: Stimmt. Die Juristen in Europa und den USA haben die Agenturen anzugreifen begonnen, in den USA, weil sie die Hypopapiere zu hoch bewertet haben, in Europa, weil sie die Staatspapiere zu tief bewertet haben. Nur haben wir im Moment keine besseren Seismographen. Ich würde es so sagen: lieber die vorhandenen Ratingagenturen als gar keine. Den Staaten bleibt immer noch genügend Platz für Willkür. Ein beliebtes Beispiel, das die Publizisten für gewöhnlich nicht in Frage stellen, ist der offizielle Konsumentenpreisindex. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass sich dieser Index fast nach Belieben berechnen lässt – je nachdem, welche Güter und Dienste berücksichtigt und welche aussen vorgelassen werden. Diesen Trick will sich die Administration unter Barack Obama zunutze machen, um die Kosten für die Sozial- und Krankenversicherungen zu senken. Verteuerte Güter und Dienste werden gekippt, günstige aufgenommen. So lassen sich über fünfzehn Jahre – rein virtuell – einige Dutzend Milliarden zum Verschwinden bringen. Die wirklichen Kosten bezahlen dann einerseits die Rentner, andererseits jene, die noch nicht geboren wurden und darum auch nichts zu sagen haben. Meine Aufgabe als Publizist sehe ich darin, hier intellektuelle Redlichkeit anzumahnen.

Dieser Befund deckt sich mit meinem Gefühl: Je nach Medium, das ich konsumiere, stosse ich auf andere Zahlen und Prognosen. Es herrscht die neue Unübersichtlichkeit. Für den mündigen Bürger heisst das zuerst einmal nur, dass er Misstrauen kultivieren muss.

Adamovich: Klar, ohne Grundskepsis geht es nicht. Doch Skepsis meint hier immer auch: Skepsis gegenüber sich selbst. Immer dann, wenn man eine Sache begriffen zu haben glaubt und seine Entscheidungen auf diese eine Wahrheit abstützt, ist man am ehesten verwundbar. Die Selbstüberschätzung – Ökonomen
reden von Irrational Exuberance – ist einer unserer ständigen
Begleiter. Und dann muss man eben Vertrauensverhältnisse aufbauen: zu Medien, die seriös recherchierte Geschichten bringen, zu Instituten, die ihre Quellen offenlegen, zu Autoren, die nachvollziehbar argumentieren.

Spielen wir das einmal durch. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir: Die Schuldensituation hat sich längst verselbständigt und lässt sich nicht mehr kontrollieren. Um eine Implosion zu verhindern, tun die Zentralbanken das, was sie seit zehn Jahren tun: Geld drucken. Dieses Geld werden sie unmöglich zum richtigen Zeitpunkt «abschöpfen» können, wie es so schön und harmlos heisst. Also werden wir am Ende eine Hyperinflation haben.

Adamovich: Das ist alles nachvollziehbar, was Sie da sagen. Und je länger diese Entwicklung anhält, desto wahrscheinlicher wird dieses Szenario. Dennoch – wir können es nicht mit Sicherheit wissen. Wenn Sie nun allein auf das Katastrophenszenario setzen und sich bis über beide Ohren mit physischem Gold oder Silber eindecken, so ist die Wahrscheinlichkeit schon sehr hoch, dass Sie danebenliegen und viel Geld verlieren.

Wie Sie gesagt haben: Gold lässt mich letztlich gut schlafen. Es ist eine letzte Versicherung für das Worst-Case-Szenario.

Adamovich: Und genau so – dies wäre meine Empfehlung – würde ich ein solches Investment auch sehen: als Versicherung. Aber was, wenn es anders kommt? Das ganze Ersparte in eine Versicherung zu stecken, macht wenig Sinn. Das Motto heisst hier zu diversifizieren, also einen Teil in Aktien von global tätigen Unternehmen der Realwirtschaft anzulegen, einen Teil in physischem Gold, einen Teil in Optionen auf Edelmetalle, einen Teil in Märkte aufstrebender Länder, einen Teil in kurzfristige Obligationen. Dazu möchte ich gleich anmerken, dass es en vogue ist, in Schwellenländern zu investieren, in China, Indien, Brasilien, und das ist auch eine gute Sache. Nur muss man trotz allem wissen, dass die politische Stabilität in diesen Ländern prekärer ist als in Europa – auch wenn die Stabilität hierzulande in den letzten Jahren Schaden genommen hat. Es gilt also einerseits, skeptisch gegenüber dem Mainstream – der allgemein vorherrschenden Meinung – zu sein, andererseits gilt es aber auch, seine eigenen Überzeugungen ständig zu hinterfragen. Anders gesagt: der Anleger muss auf der einen Seite die Lage mit ökonomischer Vernunft nüchtern betrachten und anderseits dem Mainstream Tribut zollen und ihm allenfalls folgen. Hier muss letztlich jeder seinen eigenen Weg finden, der zu seinen konkreten Verhältnissen, seiner Risikoneigung und seiner Lebenssituation passt.

Kappeler: Es bringt nichts, ganz alleine recht zu haben! Politik, Unternehmen, Medien, Bürger – letztlich haben alle ein Interesse daran, dass es nicht zum Kollaps kommt. Und selbst gesetzt den Fall, der Kollaps wäre unvermeidlich, so weiss niemand, wann er eintritt, in fünf Jahren, in zehn oder in fünfzig. Komplexe Systeme sind sehr lange sehr träge – bis sich Schlag auf Fall alles ändert. Die besten Ökonomen waren schlechte Anleger. Sie kennen die ökonomischen Gesetzmässigkeiten, aber sie kennen die Zeiträume nicht. John Maynard Keynes hat mehrmals viel Geld verspekuliert und ist erst am Ende seiner Karriere mit Spekulation
zu Geld gekommen.

Herr Kappeler, Sie zählen zu jenen, die die Zukunft in düsteren Farben malen. Wie würden Sie denn das Ersparte anlegen?

Kappeler: Düster? Nein, nicht düster, eher nüchtern. So sehe ich mich zumindest. Meine Anlagestrategie war und ist einfach: sie setzt auf situativ, real und fungibel. Es gibt nicht die eine richtige Strategie für alle Zeiten und in allen möglichen Welten. Darum scheint mir – erstens – die Bereitschaft zentral, die eigene Position immer wieder zu revidieren. Zweitens würde ich Realwerte den Nominalwerten vorziehen – das lehrt die Geschichte. Allerdings sollten die Realwerte – drittens – fungibel sein, sich also schnell wieder verkaufen lassen. Das politische Umfeld kann sich extrem schnell ändern, den konfiskatorischen Möglichkeiten für den Zugriff auf das Eigentum der Bürger sind keine Grenzen gesetzt. Der Bürger muss heute jederzeit bereit sein, aus bestehenden Investments auszusteigen und in andere Währungsräume und Länder auszuweichen.

Adamovich: Ich muss sagen: das hätte ich nicht besser formulieren können als Herr Kappeler. Und ja, die Fungibilität ist ein ganz zen-traler Punkt. Liquidität erlaubt Ihnen eine rasche Anpassung an wechselnde Umstände. Und solche sind zweifellos zu erwarten.

Cash ist King?

Adamovich: Cash ist für mich ausser für den wirklich kurzen Zeithorizont keine Option mehr. Durch negative Realzinsen werden Leute, die Cash halten, heute bereits enteignet – zumindest im Euro und im Dollar. Ich denke als Alternative zu Cash eher an kurzfristige Obligationen von europäischen Unternehmen oder aufstrebenden Ländern.

Immobilien?

Adamovich: Da wäre ich vorsichtig. Immobilien gelten weit herum als inflationsgeschützte Investments. In Wahrheit sind die Immobilienpreise grossen Schwankungen unterworfen. Und ausserdem ist das investierte Geld nicht fungibel. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Kaufen Sie ein Haus, um sich gegen Enteignung zu schützen, merken Sie spätestens dann, dass Sie die falsche Entscheidung getroffen haben, wenn Sie wegziehen wollen oder müssen. Eine Immobilie ist – wie es der Name schon sagt – immobil.
Sie bietet die perfekte Angriffsfläche für fiskalische Zugriffe durch den Staat. Eine Immobilie schafft Abhängigkeiten, die in Umbruchzeiten kritisch zu betrachten sind. Unabhängig davon ist der Kauf eines Hauses natürlich immer dann eine gute Sache, wenn Sie selbst darin wohnen. Ein Dach über dem Kopf und eine geheizte Wohnung ist zweifellos die Minimaldefinition eines
Realwerts – was darüber hinausgeht, ist unsicher.

Kappeler: Hier machen sich in der Tat viele Bürger Illusionen. Das macht mir schon Sorgen – ich möchte gar nicht an das Jammern denken, das sich erhebt, wenn die Immobilienblase in der Schweiz platzt. Aber ein anderer Punkt bereitet mir noch mehr Bauchweh.

Schiessen Sie los.

Kappeler: Die Passivität der Bürger. Sie schauen zu, wie die Zen-tralbanken Geld drucken, als würde sie dies nicht betreffen. In Wahrheit ist dies ein Grundübel, und viele der Strategien, die wir hier besprechen, haben mit dieser historisch beispiellosen Situation zu tun. Dabei muss man sehen, dass es stets die Falschen trifft. Die Vermögenden können diversifizieren und sich gegen schleichende und akute Inflation schützen. Der Kleinsparer hingegen kann das nicht – und ebenso wenig der ehrliche Arbeiter, der immer schön seine Sozialabgaben bezahlt hat und nach der Pensionierung real nur noch einen Teil des eingezahlten Geldes zurückerhält. Die Politiker – von links bis rechts – schweigen dazu und tragen die expansive Geldpolitik mit. Und wenn eines Tages die sozialen Folgen sichtbar werden und die Menschen vor vollendeten Tatsachen stehen, geht das Geheul los.

Adamovich: Stimmt schon, nur ist das idealistisch gedacht. Erzählen Sie mal einem Drogenabhängigen, er solle von einem Moment auf den anderen herunterkommen von seinen Drogen. Er weiss, dass er dies sollte, aber er wird es nicht tun. Und genau in dieser Situation befinden wir uns heute.

Die Frage ist: Wer sind die Abhängigen von der Droge Geld?

Adamovich: Wir alle. Es ist letztlich ein gesamtgesellschaftliches Problem. Dies heisst im Umkehrschluss natürlich auch: die Gesellschaft könnte auch daran arbeiten, rasch zu genesen – nur ist das mit grossem Leiden verbunden. Aber wer will schon leiden, wenn er zumindest die Hoffnung nährt, dass am Ende nicht er selbst, sondern ein anderer die Rechnung bezahlt?

Kappeler: Stellen wir uns einmal vor, Paul Volcker käme zurück und würde seine Sanierungspolitik von 1979 bis 1982 wiederholen, die er damals bei geringerer Inflation und geringerer Verschuldung durchführte. Wer würde protestieren? Die Banker, weil die Zinsen durchs Dach gingen und das Kreditgeschäft schwieriger würde; die Unternehmer, weil sie keine Kredite mehr bekämen; die Hausbesitzer, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen könnten; die Gewerkschaften, weil Arbeitsplätze verlorengingen; die Politiker von links bis rechts, weil die Staaten ihre Leistungen drastisch kürzen müssten. Es gibt eine inflationsgeneigte Mehrheit in den westlichen Staaten, die von der Droge des billigen Geldes abhängt. Darum sind echte, schmerzliche Reformen hier politisch aussichtslos.

Ich sehe hier nun aber doch eine Gemeinsamkeit in den Ansichten: Am Ende steht die Hyperinflation, weil es kein Zurück gibt.

Adamovich: Eine solche Prognose wäre Selbstüberschätzung! Die Blase wird irgendwann platzen, aber das kann sie auf verschiedene Art und Weise tun. Inflation, Pleiten, Schuldenschnitte, Währungszerfall oder eine Kombination von allem – wir können es heute nicht wissen, nur ahnen. Und vielleicht gelingt es den Volkswirtschaften ja doch, aus dem Schlamassel «herauszuwachsen».

Kappeler: Mit der Hyperinflation ist es so eine Sache – sie hat verheerende Wirkungen, und das wissen alle. Viel wahrscheinlicher ist darum, dass die Schulden über eine hohe, aber gerade noch erträgliche Inflation abgebaut werden – ich sage mal: sieben Jahre mit jeweils fünf Prozent. Alle Staatseinnahmen des Westens sind indexiert, die Umsatzsteuern, die Einkommenssteuern und die Unternehmenssteuern. Das heisst, dass der Staat im geschilderten Szenario 35 Prozent mehr einnehmen würde, während die Schulden nominell gleich blieben – er würde mithin seine Schuldenquote drastisch reduzieren. Den höchsten Preis bezahlen die Gläubiger und all jene, die vom Staat Geld erhalten – die 2.-Säule-Pensionäre und die nicht indexierten Versicherten, also die Arbeitslosen und die Sozialhilfebezüger. Das wäre wohl ein politisch gangbarer Weg.

Kontrollierte Inflation wird stets als Königsweg des Schuldenabbaus beschrieben. Ich stosse mich hieran, ehrlich gesagt, immer mehr. Im Grund ist es nichts anderes als eine Steuer, bloss dass sie nicht offen kommuniziert wird. Würde man die Steuern im selben Masse erhöhen, käme es zu sozialen Unruhen. Aber man glaubt, mit einer schleichenden Inflation über die Runden zu kommen. Man unterschätzt die Leute.

Kappeler: Steuererhöhungen erfolgen abrupt, die Inflation erfolgt schleichend. Die Geschichte zeigt, dass sie die Leute schlucken, sofern sie nicht in eine Hyperinflation umschlägt. Aber letztlich bleibt es eine Gratwanderung.

Adamovich: Inflation trifft vor allem den Mittelstand. Jene, die etwas auf die Seite gebracht haben, werden um einen Teil ihres Ersparten gebracht. Ihre Pension wird weginflationiert. Und jene, die noch nichts haben, aber künftig aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Leistung zum Mittelstand gehören, werden mit neuen illusionären Versprechungen abgespeist. Sie bezahlen den Preis mit einigen Jahrzehnten Verzögerung.

Kappeler: In der Privatwirtschaft spielt ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass die Inflation nicht unmittelbar spürbar ist. Wie das? Indem die höheren Preise überwälzt werden, wie in den 1960er und 1970er Jahren, als wir eine massive Inflation hatten, auch in der Schweiz. Das ist ein Besentanz: Alle reichen sich den Besen immer weiter, und die Musik hört nie auf zu spielen.

Adamovich: Viele Länder haben erfolgreich so funktioniert – zum Beispiel Italien, bevor das Land dem Euro beitrat und nun Währung und Inflation nicht mehr manipulieren kann. Oder nehmen wir den südamerikanischen Kontinent, wo ich lange gelebt habe. Dort haben die Leute gelernt, über viele Jahre mit hohen zweistelligen Inflationsraten pro Jahr zu leben. Von Revolution und Aufbegehren war wenig zu sehen. Schleichende Inflation war ein Weg, um den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten – trotz realer Enteignung. Gleichzeitig ist zuzugeben: Der Mittelstand ist in den meisten Ländern Südamerikas nicht besonders gross, und dieser leidet an Inflation am meisten.

Eigentlich befinden wir uns ansatzweise bereits in einer vergleichbaren Situation. Sie haben es erwähnt: In Europa haben wir negative Realzinsen.

Adamovich: Absolut. Das ist politisch gewollt. So werden die Staatsschulden abgebaut.

Kappeler: So ist es. Als junger Journalist hatte ich Anfang der 1970er Jahre meine ersten Ersparnisse auf die Seite gebracht. Und ich wollte das Geld gewinnbringend anlegen. Also kaufte ich Obligationen der italienischen Eisenbahn, mit acht Prozent Rendite, in Schweizer Franken. Ich fühlte mich zuerst gut, bis ich begriff: Ich habe zwei Prozent verloren, denn die reale Inflation ist zehn Prozent, wobei ich auf den acht Prozent Dividende noch Steuern bezahlen muss. Und das Traurige an der Geschichte: es gab damals keine bessere risikolose Anlage.

Ich fasse zusammen: Die Vermögenden können diversifizieren und weiterhin daran denken, ihr Geld gewinnbringend anzulegen. Der Mittelstand hat Glück, wenn er sein Vermögen erhalten kann.

Adamovich: Ich würde gerne, kann Ihnen aber nicht widersprechen. So ist es leider. Wobei Diversifikation nicht nur heissen muss, dass der Anleger von einem Land aus sein Portefeuille über die ganze Welt diversifiziert. Es heisst oft auch, dass das Vermögen auf verschiedene Töpfe weltweit verteilt wird. Diese physische Diversifikation ist letztlich die Königsdisziplin der Diversifikation.

Kappeler: Man muss ganz klar sehen: Der Steuerzahler ist heute gläsern. In mittlerweile fast allen Staaten erfolgt die Vermögensabbildung voll elektronisiert. Das heisst, dass die Steuerbehörde genau weiss, wie viel von was wo zu holen ist. Interessant zu beobachten ist, dass die europäischen Staaten den Bargeldverkehr immer mehr einschränken – denn bei Bargeld ist die Identität von Geldbesitzer und Geld nicht gegeben. Bargeld ist anonym und dient als Schatz, ohne Gegenpartei, das Gold noch mehr. Elektronisches Geld hingegen ist vom Staat identifizierbares Geld. Es lässt sich per Knopfdruck vermehren und vermindern. Welche Konsequenzen dies hat, vermögen wir erst zu erahnen.

Adamovich: Geographische Diversifikation ist hier der einzige taugliche Schutzmechanismus. Man muss es sich allerdings leisten können, die Körbe, in die man seine goldenen Eier legt, über die ganze Welt zu verteilen, und zwar so, dass sie möglichst nicht miteinander verbunden sind. Das ist für den Mittelstand schwierig, da er in aller Regel stark an ein Land gebunden und inzwischen gegenüber dem Fiskus vollkommen gläsern ist. Das ist zunächst nichts Schlechtes – schliesslich hat der ehrliche Bürger nichts vor dem Staat zu verbergen. Die Perspektive verdüstert sich erst dann, wenn sich der Staat nicht mehr an seine selbstgesetzten Regeln hält, also wenn die Rechtssicherheit zur Disposition steht. Der Staat kann dann seine Bürger beliebig zur Kasse bitten – und allzu oft passiert das auch. Dann hilft nur noch Auswandern, am besten an einen Ort, wo man schon etwas Vermögen liegen hat.

Ich bin nun also ein Vertreter des Mittelstands und kann nicht global diversifizieren. Ergo: Aktien global diversifizierter Unternehmen aus der Realwirtschaft, Gold, Schwellenländer?

Adamovich: Ja, das ist sinnvoll. Wir sollten nur vorsichtig sein, dass wir das Potential von Schwellenländern wie China nicht überschätzen, weil wir sie instinktiv mit unseren Ellen messen. Was passiert, sollte in China eines Tages das Wirtschaftswachstum über längere Zeit gering ausfallen? Werden die Chinesen aufbegehren? Und was geschieht, wenn das Wachstum anhält, sich ein Mittelstand bildet und mehr politische Mitsprache fordert? Und dennoch – die Schwellenländer sind unsere einzige Hoffnung. Das sind Milliarden von Menschen, die von einem besseren Leben träumen und bereit sind, alles zu tun, um einen Platz an der Sonne zu ergattern. Sie sind hungrig, sie sind fleissig, sie sind dynamisch, sie wollen Mehrwert schaffen, und sie sind – mit Ausnahme von China – im Durchschnitt auch ziemlich jung. Vielerorts haben Ökonomen und Politiker gelernt, welche Rahmenbedingungen es braucht, damit die Privatwirtschaft gedeiht und Individuen sich entfalten und engagieren können.

Kappeler: Sie haben die Marktwirtschaft eben für sich entdeckt, während westliche Gesellschaften saturiert sind und drauf und dran sind, die Marktwirtschaft abzuschaffen. Wir brauchen keine Angst vor ihnen zu haben, wir müssen darauf hoffen, dass sie
unsere Produkte kaufen und konsumieren.

Das klingt jetzt aber wiederum nach dem Untergang des Abendlandes. Europa als Attraktion für Touristen aus der neuen Welt?

Adamovich: Das wäre nicht die schlechteste aller Welten. Die Europäer als Museumswärter ihrer gloriosen Geschichte – warum nicht? Nein, im Ernst: ganz nüchtern betrachtet, sind die west- und zentraleuropäischen Gesellschaften ziemlich saturiert. Sie stellen sich vor allem die Frage nach einer gerechten Verteilung des Wohlstands und nicht mehr danach, wie der Wohlstand zustande kommt – sein Vorhandensein wird grosszügigerweise vorausgesetzt. Anders die aufstrebenden Länder. Sie tun alles, um ihren Wohlstand zu vermehren, und zerbrechen sich den Kopf darüber, wie sie die Produktivität und das Bruttosozialprodukt erhöhen. Natürlich mischt hier der Staat wacker mit, er will die Bürger und Arbeiter sozusagen anleiten, die Produktivität zu
erhöhen. Schon heute profitieren wir von diesem Wachstumsschub der Schwellenländer. Wenn wir dann Kritik aus der Warte der Ordnungspolitik oder der Menschenrechte üben, so mutet dies zuweilen etwas scheinheilig an.

Kappeler: Der Westen hat seine Mission in den letzten 20 Jahren eigentlich delegitimiert. Die Idee, dass Markt und Staat getrennt sind, dass beide nach dem Wettbewerbsprinzip zum Nutzen des Konsumenten bzw. des Wählers funktionieren und die Macht atomisieren, ist passé. Was wir beobachten können, ist eine Schwächung der liberalen Demokratie und eine Marginalisierung der Marktwirtschaft bis hin zu ihrer Abschaffung. Was ist die Konsequenz? Neue Modelle erstarken, das russische Modell und das chinesische Modell, das darin besteht, dass ein autoritärer Staat mit grossen Unternehmen erfolgreich zusammenspannt. Der autoritäre Kapitalismus erscheint als taugliches Modell – und setzt die westlichen Demokratien massiv unter Druck. Ich bedaure diese Entwicklung, aber ich kann sie nicht aufhalten.

Adamovich: Ich sehe das nicht ganz so. Die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs ist in autoritären Systemen sehr hoch. Sie können einige Jahre funktionieren – auf Dauer sind sie zum Scheitern verurteilt. Umgekehrt kam es auch in liberalen Demokratien
immer wieder zu ökonomischen Reformen. Ich würde darum
sagen: Es gibt keine ausweglosen Situationen, es gibt bloss politische und gesellschaftliche Verzagtheit. Ich bleibe darum verhalten optimistisch. Es ist kein Wissen, es ist ein Glaube und eine Hoffnung.

Teilen Sie die Hoffnung, Herr Kappeler?

Kappeler: Die Hoffnung habe ich auch, den Glauben hingegen nicht. Junge Leute in Europa müssen sich heute beide Optionen offenhalten: voice und exit. In extremis bleibt nur die Auswanderung. Und dabei zeigt sich: die wichtigste Investition, um woanders ein neues Leben aufzubauen, ist jene in das eigene Human-kapital. Denn dieses Kapital kann einem niemand nehmen. 

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