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Vater-Sohn-Gespräch

Die Szene könnte am Mittagstisch bei uns zu Hause spielen, würde es ihn noch geben. Nun sitzen wir also an einem schön dekorierten Tisch und speisen gediegen in einer Dépendance des Grand Resort in Bad Ragaz. Meine Cousine heiratet, Familie, Verwandtschaft und Freunde treffen sich an einem fremden Ort. Mein Vater geht nach der Begrüssung […]

Die Szene könnte am Mittagstisch bei uns zu Hause spielen, würde es ihn noch geben. Nun sitzen wir also an einem schön dekorierten Tisch und speisen gediegen in einer Dépendance des Grand Resort in Bad Ragaz. Meine Cousine heiratet, Familie, Verwandtschaft und Freunde treffen sich an einem fremden Ort. Mein Vater geht nach der Begrüssung gleich in medias res. Ich nehme einen Griffel und ein Blatt Papier zur Hand und beginne zu notieren:

«Ich habe den neuen ‹Monat› gelesen, und ich musste erst mal laut lachen.»

«Wie das? Du magst sonst eher ernste Kost.»

«Sie ist ernst. Darum musste ich lachen. Die jungen Leute, die einen Abend in der Beiz verbringen und über die Welt philosophieren, sie haben eine völlig verzerrte Wahrnehmung. Sie denken, wir seien mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Das sind wir nicht.»

«Aber du bist einverstanden: Wer damals fleissig war, hat es zu Wohlstand gebracht?»

«Klar. Aber das ist heute nicht anders. Was sich gewandelt hat, ist die Perspektive, der Massstab. Und das hat mit dem neuen Wohlstand zu tun. Dieser Wandel des Blicks ist der blinde Fleck des Gesprächs. Der Grundlagenirrtum.»

«Wie meinst du das?»

«Die Verwöhnungskultur, an die sich die Beizenbesucher gewöhnt zu haben scheinen, davon haben wir nicht mal geträumt. Wir hielten uns an ein Axiom, von unseren Eltern übernommen und verinnerlicht: Man kann nicht alles haben im Leben. Man muss ehrgeizig sein und arbeiten. Man muss aber zugleich hart priorisieren, also auch verzichten können. Zuerst verzichten und sparen, dann konsumieren. Davon wissen deine jungen Leute nichts. Sie leben wie Fürsten und fühlen sich doch so miserabel.»

«Du übertreibst. Das ist nicht fair.»

«Das klingt jetzt kitschig, aber es ist wahr: Deine Mutter hat deine Strumpfhosen und Pullover noch selbst gestrickt, sie hat eigenes Gemüse angepflanzt – nicht weil sie grün tickte, sondern um zu sparen. Wer heute so bescheiden lebt wie wir damals, bringt es ebenso leicht oder schwer zu Wohlstand. Garantiert.»

«Keine Freizeit?»

«Freizeit war Familienzeit. Wir hatten ein klares Ziel vor Augen: uns ein Haus zu kaufen und dafür zu sorgen, dass ihr Kinder es besser habt als wir.»

«Hast du das Ziel erreicht?»

«Sag du es mir.»

«Ich denke schon. Das Sparen ist mir nicht ganz fremd, ebenso wenig wie die Strebsamkeit – hoffe ich zumindest.»

«Wir haben uns bemüht, euch so zu erziehen, dass ihr euch nicht über Konsumprodukte definiert – viele deiner Klassenkameraden hatten im Gegensatz zu dir stets die neuesten Spiele und den letzten Modeschrei.»

«Ich hatte höchst selten das Gefühl, dass mir etwas fehlte – nur ein paar Male, als es um den Commodore 64 und das Skateboard ging.»

«Eben. Aber die Jungen, die du portraitiert hast, reden so, als hätten sie ein Anrecht auf ein Leben in Fülle. Ein solches Leben gönne ich ihnen von Herzen, nur müssen sie dann eben etwas früher aufstehen. Wir haben gearbeitet bis zum Umfallen. Die Leistung der Eltern schlechtzureden, um die eigene Lage zu beschönigen, halte ich für unangebracht. Hier unterscheiden wir uns in der Tat: Ich habe gelernt, immer zuerst bei mir zu beginnen, wenn ich was zum Guten verändern will.»

«Deine Generation hat mit der Anspruchsinflation begonnen.»

«Sicher. Einzelne Vertreter – die 68er, die Geisteswissenschafter und die ohne Ehrgeiz, die erst in der zweiten oder dritten Karriere als Beamte oder Politiker reüssierten, die haben euch die Staatsverschuldung eingebrockt. Ich war damals 22 und habe in den Medien mitbekommen, was abging. Ich hatte keine Zeit hinzugehen. Ich musste arbeiten.»

«Die heutigen Biographien sind weniger vorhersehbar als deine: 40 Jahre dieselbe Volvo-Garage, Fussweg nach Hause. Die Schweiz ist internationaler geworden, die Konkurrenz grösser. Das bedeutet Stress.»

«Stimmt. Wer sich dessen bewusst ist, sollte sich deshalb zweimal überlegen, ob er wirklich eine geisteswissenschaftliche Disziplin studieren will – ich habe dir damals schon davon abgeraten. Ich wollte zwar auch studieren, aber mein Vater liess mich nicht. Dafür bin ich ihm heute dankbar. Besser ein kluger Handwerker mit schmutzigen Fingern und Arbeit als ein durchschnittlicher Akademiker mit Träumen vom schönen Leben, die dann enttäuscht werden.»

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