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Über den helvetischen Kompromiss

Im Luxus gedeiht das frivole Denken. Junge, smarte Sozialisten arbeiten in der Schweiz an einer neorealsozialistischen Wende. Nicht nur ältere Genossen, auch viele Kirchenleute, Professoren und Publizisten applaudieren. Mit guten Gründen?

Fichte, Hegel, überhaupt die Idealisten haben hierzulande einen schweren Stand. In der Confoederatio Helvetica zieht man dem stets netten Utopismus für gewöhnlich den stets soliden Realismus vor. Zu Recht. Allerdings geht der Eifer für Bodenständigkeit zuweilen auch zu weit – auf Kosten einer echten Debatte. Denn auch die Realisten sollten es sich nicht zu leicht machen: Was die menschliche Welt letztlich antreibt, sind die Ideen, die unsere Köpfe bevölkern.

Eine dieser Debatten betrifft die «Überwindung des Kapitalismus». Statt den Kopf zu schütteln, sollten die Anhänger von freier Marktwirtschaft und offener Gesellschaft lieber streiten – mit offenem Visier (sic!). Angezettelt wurde die Debatte von den Juso (Jungsozialisten); die etablierten Genossen haben an der Parteiversammlung der Sozialdemokratischen Partei Schweiz in Lausanne gekuscht und das alte Bekenntnis erneuert. Die Juso sind nicht nur unerschrocken, sondern auch – dies sei ihnen zugestanden – höchst geschichtsbewusst und marxistisch belehrt.

Zusammen mit gleichgesinnten Bewegungen haben sie mit der nicht immer enthusiastischen Unterstützung der Mutterpartei eine Reihe von Initiativen lanciert, die einen einzigen Zweck verfolgen: die neorealsozialistische Wende mit direktdemokratischen Mitteln herbeizuführen. Über die Begrenzung der Saläre in den Firmen (1:12, frei nach Marx: Herstellung materieller Einkommensgleichheit unabhängig von individueller Leistung) und die Einführung von Mindestlöhnen von 4000 Franken (frei nach Marx: Beseitigung der Lohnsklaverei) haben wir schon abgestimmt, wobei das Stimmvolk die Initiativen mit indiskutabler Mehrheit ebenso abgelehnt hat wie seinerzeit die Forderung nach einer Erhöhung der Ferien auf sechs Wochen. Aber andere Initiativen werden zur Abstimmung kommen, mitunter jene über die Erbschaftssteuer (frei nach Marx: ein Schritt auf dem Weg zur Abschaffung des Eigentums) und über ein Grundeinkommen für alle (frei nach Marx: jeder nach seinen Bedürfnissen), weitere sind in Planung. Man kann einwenden, dass auch in der Vergangenheit die Linke ähnlich gerichtete Vorlagen lanciert habe, beispielsweise über eine Kapitalgewinnsteuer und kürzere Arbeitszeiten (2001 und 2002). Der Punkt ist jedoch: sie waren nicht Teil eines gesamtprogrammatischen Vorgehens.

Mit ihrer jetzigen Haltung hat die Linke zwar zu ihren dogmatischen Ursprüngen zurückgefunden, aber sie hat auch den «helvetischen Kompromiss» gekündigt.

 

Nützlicher Kompromiss

Gewiss, Kompromisse sind stets unbefriedigend. Beide involvierten Parteien müssen auf einen Teil ihrer Forderung verzichten und mit dem Zweifel leben, dass sie vielleicht doch zu viel nachgegeben haben. Aber Kompromisse können auch nützlich sein – gerade für ein auf Ausgleich bedachtes Land wie die Schweiz. Die Sozialdemokraten und die Vertreter einiger anderer linker politischer Strömungen sind in unserem bürgerlich dominierten Land seit je nominell in der Minderheit. Die Mehrheit von ihnen sah sich nach all den Pleiten zahlreicher alternativer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle im Laufe des 20. Jahrhunderts gezwungen zuzugeben, dass die auf Eigentum basierende Marktwirtschaft mit all ihren Unvollkommenheiten jedem anderen System überlegen ist. Nur sie schafft Reichtum und Wohlstand für alle. Punkt.

Aber der Wettbewerb, der in einer Marktwirtschaft spielt, kann zu Situationen führen, die einen Ausgleich nötig machen. Für ihre Anerkennung der Verdienste der Marktwirtschaft hat sich die pragmatische Linke Gegenleistungen ausbedungen. Der erwirtschaftete Reichtum soll nachträglich teilweise stark umverteilt werden – und ja, es stimmt: diesbezüglich hat die Linke im letzten Jahrhundert viel erreicht.

Die steile Progression in der Besteuerung und die Begrenzung der AHV-Leistung für Gutverdienende unbesehen der einbezahlten Beiträge sind zwei Säulen der Umverteilung. Man führe sich darum vor Augen, anderslautendem Medientenor zum Trotz: In der Schweiz zahlen 10 Prozent der Steuerpflichtigen 77 Prozent der Bundessteuern; es sind jene mit einem hohen Einkommen. Von den 4,8 Millionen Steuerpflichtigen ist eine Million auf Bundesebene von den Steuern befreit. Und wer eine AHV-Rente bezieht, kriegt maximal leicht mehr als 2000 Franken im Monat, ungeachtet dessen, wie hoch die Beiträge waren, die er während seines Arbeitslebens einzahlte.

Das ist der helvetische Kompromiss. Warum wird er nun plötzlich in Frage gestellt? Woher kommt diese Unzufriedenheit, zumal angesichts einer wirtschaftlichen und sozialen Lage, um die uns unsere Nachbarn beneiden? Mein Verdacht: die Frage führt, so gestellt, in die Irre. Denn es ist gerade im Luxus, wo das frivole Denken und Handeln gedeiht – der Reichtum scheint naturgegeben, es geht bloss noch darum, ihn nach angeblich gerechten Kriterien zu verteilen. Erste These: die heutigen neorealsozialistischen Bewegungen sind eher ein Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung. Zweite These: sie leiden an einem Mangel an historischem Bewusstsein. Dieselben Jungen, die die Geschichte ihrer Partei bestens kennen, haben das Scheitern der kommunistischen und realsozialistischen Staaten nicht persönlich miterlebt – und halten es irrtümlich für eine Erfindung der Kapitalisten.

Gerade in den letzten Jahrzehnten ist ein tiefgehendes Malaise zustande gekommen: man hat feststellen müssen, dass unser europäisches Gesellschaftsmodell finanziell nicht mehr tragbar ist. Die Verschuldung der Länder, deren Explosion bis in die 1970er Jahre zurückreicht, hat eine Höhe erreicht, die nur mehr furchteinflössend ist. Die Jungen, mit den Juso an der Spitze, wollen sich vielleicht nur holen, was noch zu holen ist – bevor nichts mehr zu holen ist. 

Man hat versucht, die Ausgaben mit einer höheren Staatsbeteiligung am Nationaleinkommen zu decken. Heute sind wir bei 50 Prozent angelangt, aber wenn wir alle möglichen Zwangsabgaben addieren, die erfinderische und kreative Bürokraten und Politiker eingeführt haben, liegen wir höher. Daher ist es nur konsequent, wenn der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch schon eine Staatsquote von 75 Prozent vorschlägt. Die Verschuldung der europäischen Staaten ist in den letzten Jahrzehnten exponentiell gestiegen und liegt bei rund 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), mit Spitzen zwischen 120 und 160 Prozent. Dies, ohne die versteckten Schulden aus dem wohlfahrtsstaatlichen Vorsorgesystem einzubeziehen; zählt man diese ungedeckten Verpflichtungen mit, landet man bei 300 bis 400 Prozent des BIP.

Die Zentralbanken sehen sich gezwungen, die Zinsen bei rund null Prozent zu halten – müssten viele Staaten Marktzinsen für ihre Schulden bezahlen, wären sie heute schon pleite. Die Kosten dieser indirekten Subventionierung tragen Sparer, Pensionierte, Versicherte – die Bezüger von morgen, also die Jungen von heute.

Es braucht keine Ratschläge von Nobelpreisträgern, um sich darüber klar zu werden, was in einer solchen Lage zu tun ist. Wer auf die Dauer mehr ausgibt, als er einnimmt, muss – sparen. Das Problem ist nur: Was bei Privatfirmen und Familien möglich ist, kommt auf Staatsebene nicht in Frage.

Die Staaten sind überdimensionierte Verteilungsmaschinen geworden, an die sich viele Bürger gewöhnt haben. Niemand will freiwillig auf die eigenen Pfründen verzichten, und die Politik ist zu feige und zu kurzsichtig, um echte Reformen einzuleiten. Wer es dennoch wagen sollte, riskiert, abgewählt zu werden. 

Selbst wer das Ausmass des Malaise begriffen hat, hofft darauf, dass andere die Zeche bezahlen. Die Politiker tun so, als hätten sie die Lage im Griff – bis zur nächsten Krise. Viele Wirtschaftsführer setzen auf direkte oder indirekte Subventionen durch den Staat, der in harten Zeiten Standortförderung betreibt. Die Alten bringen ihre Schäfchen ins Trockene. Und die Jungen mutieren zu Wutbürgern. Oder zu Neosozialisten.

 

Die Aufgabe der Unternehmer

Die Rolle der Unternehmer, also jener, die auf eigenes Risiko tätig sind, gewinnt angesichts der beschriebenen Lage weiter an Bedeutung.

Wenn sie scheitern, kräht kein Hahn nach ihnen; und wenn sie Erfolg haben, werden sie von aufgescheuchten Publizisten, Kirchenvertretern und Neidern als «Abzocker» beschimpft. Es gibt «Abzocker», keine Frage; gemeint sind damit aber jene, die mit dem Geld anderer Leute spielen. Wenn das Differenzierungsvermögen des grossen Publikums schwindet, ist dies problematisch – und zwar nicht nur für die Unternehmer. Wie Deirdre McCloskey überzeugend in ihren Büchern «The Bourgeois Virtues» und «Bourgeois Dignity» beschrieben hat, wäre die kapitalistische Revolution ohne die soziale Anerkennung, die Unternehmer und Geschäftsleute im Laufe der Jahrzehnte erworben haben, nicht denkbar gewesen. Die bürgerliche Gesellschaft, die den Adel ablöste, hat bisher unerreichten Wohlstand geschaffen. Schwindet dieses ethische Fundament, werden alle ärmer. Wer nun behauptet, materieller Reichtum sei nicht alles im Leben, kann sich diese Haltung nur darum leisten, weil er mehr hat, als er zum Leben braucht. 

Die pragmatischen reformistischen Sozialisten haben die Unternehmer nie idealisiert, aber sie waren klug genug, ihre Funktion als Reichtumsschaffer zu verstehen. Und sie haben durchaus recht: Der in einer Marktwirtschaft tätige Unternehmer schafft auf eigenes Risiko den Wohlstand, der die Lebensbedingungen (inklusive Arbeitsplätze) für alle verbessert. Aber man muss sich darüber im klaren sein, dass Gesetze, Reglementierungen, Staatsinterventionen, Steuerlasten und diffuses Misstrauen, in einem Wort: all das, was die Marktwirtschaft fesselt und einengt, massiv die selbstgesetzten Aufgaben des Unternehmers behindern. Die Unternehmer waren nie wichtiger – und wurden nie stärker angefeindet als heute.

Bisher haben die Schweizer Bürger sich gegenüber neorealsozialistischen Avancen und politischer Neidbewirtschaftung als erstaunlich robust erwiesen. Sie halten den helvetischen Kompromiss hoch – mit dem ihnen eigenen Pragmatismus. Sie tun sich damit selbst den grössten Gefallen. Dennoch ist ihre Aufgabe nicht leicht – sie haben die meisten Publizisten, Politiker, Intellektuellen, Professoren und Kirchenleute gegen sich. Ich wünsche ihnen – uns – dabei viel Erfolg. 

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