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«The Times, They Are A-Changin»

Kahle Schädel, Knarren und Kritik an Corporate America: in der alternativen Musikszene der USA findet zusammen, was im Kongress entzweit ist. Eine politmusikalische Spurensuche zwischen Zürich, Waco (TX) und Sydney.

«The Times, They Are A-Changin»
Buzz «King Buzzo» Osborne, photographiert von Mackie Osborne.

Wenn in den Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wird, werden die rebellischen Konservativen der Tea-Party-Bewegung wieder für Gesprächsstoff sorgen. Fast könnte es scheinen, als stünden sich in Amerika zwei unversöhnliche, einander ausschliessende Lager gegenüber – hier die progressiven Menschenfreunde, die eine auf Ausgleich bedachte Gesellschaft formen möchten, dort die konservativen Rednecks, die den Armen keine Krankenversicherung gönnen und luftige Ideale wie Stärke, Freiheit und Eigenverantwortung über die Gebote der Vernunft stellen. Die Realität indes ist komplexer – und interessanter. Ein Blick auf die alternativen Strömungen der US-amerikanischen Rockmusik beispielsweise zeigt, wie eng dort progressives und konservatives Gedankengut verwoben sind. Es gibt eben nicht nur rebellische Konservative. Sondern auch konservative Rebellen. Konservativ zumindest, was bestimmte Werte der liberaldemokratischen, angloamerikanischen Tradition betrifft.

Im Februar dieses Jahres sitzt Ruyter Suys rauchend in einem Wohnwagen hinter dem Club Bogen F in Zürich, auf dem Kopf eine Mütze aus den Fellen irgendwelcher kleiner Tiere, die Beine wie zum Ausgleich in Leggins mit vegetabilem Dekor. Suys spielt die Leadgitarre bei einer der derzeit besten und witzigsten Rockbands: Nashville Pussy aus Atlanta, Georgia. «In Europa läuft es gut für uns, was sich über Amerika leider nicht sagen lässt. Allein unser Bandname hat in den amerikanischen Medien keine Chance.» Die Mission der 1996 gegründeten Two-boys-two-girls-Band ist es, wider den Stachel der Political Correctness zu löcken – mit hitzigem Rock’n’Roll, Outlaw-Image, Drogen- und Sex-Lyrik, Südstaatensymbolen und Suys’ freizügiger Bühnenshow, die Alice Schwarzer wohl als Backlash in den tiefsten Sexismus werten würde. Überhaupt läge es nahe, sogenannt reaktionäres Gedankengut hinter Nashville Pussy zu vermuten. Weit gefehlt.

Im Gespräch mit Suys ist von Südstaaten-Chauvinismus und Gender-Backlash keine Spur. Die frühere Bronzebildhauerin und brillante Rock’n’Roll-Gitarristin, die bei ihren Konzerten schon mal im Leoparden-Tanga über die Bühne robbt, nennt sich sogar eine «Ikone des zeitgenössischen Feminismus»: «Ich habe das frauenfeindliche Wort ‹pussy› genommen und etwas Neues daraus gemacht. ‹Pussy› ist nun ein anderes Wort dafür, Eier zu haben! Manche Feministinnen kritisieren mich. Doch ich bin ein Produkt des Feminismus! Wenn meine Mutter 1967 nicht ihren BH verbrannt hätte, spielte ich heute nicht in einer Band namens Nashville Pussy.» Primär gehe es der Band aber darum, das Recht auf freie Meinungsäusserung auszureizen: «An dieses Recht glaube ich absolut.»

Ein paar Monate später, auf der anderen Seite der Welt: Beacon Hill bei Sydney, Australien. Hier lebt Angry Anderson, Sänger der 1976 gegründeten australischen Rockband Rose Tattoo. Den Interviewer begrüsst ein kleiner, kräftiger, 67jähriger Mann mit kumpelhaften Umgangsformen und einem so nahbaren wie unterschwellig aggressiven Lächeln. Anderson ist zwar kein Amerikaner. Doch mit Tattoos, kahlrasiertem Schädel und Rebellen-Rhetorik prägte er die härteren Sparten angloamerikanischer Rockmusik nachhaltig. Heute kandidiert Anderson für Austra-liens konservative National Party, unterstützt deren oppositionelle Umweltpolitik und sorgte mit fremdenfeindlichen Äusserungen, die er teils zurücknahm, für Kontroversen.

Doch selbst er, der auf manche wie der Inbegriff eines rechten Kneipenkonservatismus wirken mag, ist überraschend offen und pluralistisch eingestellt. So unterstützt Anderson die Homo-Ehe, verficht eine Kultur des Kompromisses und engagiert sich in der Jugendarbeit. Die Demokratie steht für ihn an erster Stelle. Wie viele andere Wertkonservative der angloamerikanischen Sphäre weist er Sozialismus und Intellektualismus wegen vermuteter antidemokratischer, bevormundender und homogenisierender Tendenzen von sich. Im Interview in Beacon Hill sagt er: «Die Linke hat von jeher politische Korrektheit und die Eine-Welt-Politik propagiert. Ich lehne beides ab. Die Rockmusik-industrie wie auch die Welt der Kunst und der Literatur stehen traditionell links. Mir ist das zu einseitig. Aber – ‹The Times, They Are A-Changin›…»

Eine ähnliche Skepsis gegenüber Intellektuellen verspürt ausgerechnet ein prominenter Intellektueller: Thomas Sowell, libertärkonservativer Ökonom und Philosoph an der Hoover Institution der Stanford University. Sowell ist kein Rockmusiker – doch er übte grossen Einfluss auf die persönliche Entwicklung einer der wichtigsten Figuren der US-amerikanischen Alternative-Szene aus: King Buzzo, Gitarrist und Sänger von The Melvins, die den Grunge miterfanden und Kurt Cobain massgeblich inspirierten.

Buzzo, der mit seiner explosiven Frisur und seiner verschrobenen Musik als Weirdo durchgehen könnte, ist das genaue Gegenteil davon. Er lobt harte Arbeit, analysiert nüchtern, kritisiert spiessbürgerliche Behäbigkeit, konsumiert keine Drogen und schätzt Sowells auf ökonomischen Studien fussende common sense philosophy. In einem Artikel schrieb er: «Sowell ist ein Realist. Er fällt nicht auf ideological bullshit herein, und genau das liebe ich. Durch ihn habe ich verstanden, wie die Welt aus ökonomischer Sicht funktioniert.» Buzzo bezeichnet sich als Anhänger des classical liberalism – ein Rubrum, das man in den USA in einem Atemzug mit «konservativ» nennt. Was nicht heisst, dass man gleich zur extremen Tea-Party-Bewegung überlaufen muss.

Ein anderer hat genau letzteres getan: Ted Nugent, eine schrille amerikanische Rocklegende, glaubt tief und fest an American Supremacy, ist der grösste Fan von Sarah Palin und sitzt im Vorstand der National Rifle Organization. Er wähnt die USA im Niedergang, weil sich zu wenig Amerikaner zu ihren alten Stärken bekennten – Individualismus, Over-the-Top-Mentalität, Freiheitsliebe und vor allem: Waffen. Ein Telefonanruf nach Nugents Spirit-Wild-Ranch in Waco, Texas, unweit von George W. Bushs Ranch in Crawford gelegen, mündet in einer ohrenbetäubenden Litanei: «Wir in Amerika glauben nicht an Herrscher, nicht an Könige, nicht an Tyrannen. Wer kam nach Amerika? Die härtesten Motherfucker. Die, die sich nicht wie Schafe behandeln lassen wollten. (Kreischt:) Deshalb sind der Geist und die DNA Amerikas ein kleines bisschen stärker, ein kleines bisschen robuster, ein kleines bisschen unabhängiger, und was am wichtigsten ist: herausfordernder, trotziger als der Geist derer, die sich alles vom König in den Arsch schieben liessen! Wenn jemand mein Leben kontrollieren will, dann knalle ich ihn ab! So läuft das hier! Deshalb macht meine Musik so viel Spass!» Dann kichert er irre.

Klar, der Detroiter wird nicht umsonst «Motor City Madman» genannt. Der Typ spinnt. Er ist gefährlich. Doch er ist es auf eine seltsam libertinäre, anarchistische, freakige Art, die man in Europa selten findet. Auch er verteidigt die freedom of speech und den demokratischen Wettbewerb der Ideen – live and let live. Am Ende des Telefonats sagt er einen für seine Verhältnisse bemerkenswert bescheidenen Satz, den man im Licht der heutigen Virulenz leichtfertigen USA-Bashings und der Renaissance des Autoritarismus doch bedenken sollte: «The whole world sucks. But America still sucks a little less.»

Vielleicht würde das ja sogar Ani Di Franco unterschreiben. Die Singer-Songwriterin ist ein Idol der linken US-amerikanischen Indiefolk-Szene: bisexuell, Feministin, Öko- und Pro-Choice-Aktivistin, Kritikerin des patriarchalen Corporate America. Doch gleichzeitig ist sie überzeugte Patriotin. Im Telefoninterview betont sie, wie sehr sie Land und Leute liebe, und zitiert Mark Twain: «Loyalty to the country always. Loyalty to the government when it deserves it.» Wenig verwunderlich also, dass Di Franco auch die unternehmerischen Tugenden ihrer Heimat verkörpert. Als CEO ihres Plattenlabels Righteous Babe Records lehnt sie zwar die Rücksichtslosigkeit entfesselter Kapitalmaximierung ab, doch nicht die Marktwirtschaft als solche. Unternehmerischer Erfolg bedeutet für sie Unabhängigkeit, nicht zuletzt im ganz konkreten Sinne: «Meine politische Einstellung kommt allererst von meinem Körper her. Die gesellschaftlichen Kämpfe der Frauen haben viel damit zu tun, über ihre Körper verfügen zu können und Macht über ihre Beziehungen zu erlangen.» Erst materielle Unabhängigkeit ermöglicht die Ausübung dieser Macht. In Di Francos Mentalität vermischen sich die Ideale des Unternehmertums mit emanzipatorischen Idealen und den Idealen kritischer Kunst – in einem für die USA charakteristischen pragmatischen und bodenständigen Sinne.

Die hier vorgestellten Musikerinnen und Musiker mögen sehr verschieden sein – Ted Nugent und Ani Di Franco in einem Atemzug zu nennen, wird den jeweiligen Peer Groups absurd, ja beleidigend vorkommen. Dessen ungeachtet vertreten alle Genannten jeweils idiosynkratische Interpretationen des klassischen, von Philosophen wie Immanuel Kant – «wage es, selbst zu denken» – und John Locke – «Zweck der Gesetze ist es, Freiheit nicht abzuschaffen oder einzuschränken, sondern zu erhalten und zu vergrössern» – geprägten Liberalismus. Damit zeigen sie, dass kein Gegensatz zwischen konservativ und alternativ, zwischen Bewahrung und Fortschritt, zwischen Kritik und dem typisch amerikanischen unternehmerischen Selbst bestehen muss. Fast ist man versucht zu sagen: Alternative und Renegaten sind die besseren Konservativen.

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