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Schönwetterchancen

Die Schweiz ist nach wie vor eine Insel der Stabilität. Als solche verfügt sie über das Privileg, nicht handeln zu müssen. Will sie ihre Position bewahren, sollte sie es trotzdem tun. Einige konkrete Reformvorschläge.

Schönwetterchancen

Wohin treibt die Schweiz? Wohin soll sie steuern? Die Grundsatzfrage ist zu unserer ständigen Begleiterin geworden. Sie schwingt ständig mit, in Gesprächen mit Unternehmern, am Familientisch, am Stammtisch, unter Freunden. Ernsthaft gestellt wird sie freilich erst dann, wenn die angeblich bewährten Positionen plötzlich ins Rutschen geraten.

Meine Grossmutter pflegte zu sagen: «Der Mensch muss müssen.» Dieser Satz hat mich geprägt. Wer nicht muss, handelt nicht. Bequemlichkeit und Trägheit obsiegen über den Willen zu Veränderung und Verbesserung. Gleiches gilt für die Eidgenossenschaft: Die Schweiz verändert sich nur dann, wenn der äussere Druck so gross ist, dass sie nicht mehr anders kann, als sich zu bewegen. Dies scheint zurzeit in vielen Bereichen nicht der Fall zu sein. Selbst in den Dossiers Flughafen und Steuerabkommen wurden nur halbherzige Strategien ausgearbeitet, die bloss für den Moment geschaffen sind. Wir wursteln uns durch. Und wir lesen es Tag für Tag in den Zeitungen: Es geht uns in der Schweiz relativ gut, mit Betonung auf «relativ». Die Staatsverschuldung ist dank Schuldenbremse gesunken, der Wohlstand ist intakt, die Arbeitslosigkeit gering, die Lebensqualität hoch – Vergleiche mit den Staatshaushalten der USA und der Länder der Eurozone versichern uns täglich aufs neue: Die Schweiz ist nach wie vor eine Insel der Stabilität.

Diese Sicht bekommen wir von aussen immer wieder bestätigt. Asiatische Beobachter drücken uns gegenüber regelmässig ihre Bewunderung aus, und wir erinnern uns gerne an den ehemaligen französischen Justizminister Robert Badinter, der sagte: «La Suisse est une chère, vieille et grande nation européenne.» Gleichzeitig besteht im Innern ein geradezu lustvoll ausgelebter Hang zur Selbstkasteiung, der von der veröffentlichten Meinung gerne angefeuert wird. In besonderer Erinnerung bleibt dabei der Slogan der Expo in Sevilla, der da lautete: «La Suisse n’existe pas.» Zwischen dem realen Wohlstand und der virtuellen Miesepeterei sehe ich einen Zusammenhang: Man muss es sich leisten können, sich selbst schlechtzureden.

Ebenfalls leisten können wir uns den Eindruck, der Devise meiner Grossmutter zu widersprechen und nicht handeln zu müssen. Materieller Komfort entzieht langfristig ausgerichteten Veränderungen ihre stärkste Triebkraft. Eine alte unternehmerische Lektion lautet jedoch, dass langfristig angelegte Veränderungen besser aus einer Position der Stärke als aus einer Position der Schwäche angepackt werden. Denn das vergleichsweise schöne Wetter bietet die Chance, sich auf mögliche Stürme vorzubereiten.

 

Offenheit, Unternehmergeist, Sicherheit

Neben der politischen und sozialen Stabilität besteht eine der grossen Stärken der Schweiz in ihrer Ausrichtung auf die ganze Welt. Natürlich sind wir geographisch, kulturell und wirtschaftlich in Europa verankert, doch die Schweiz ist ein globaler Hub, der sich durch Weltoffenheit in vielen Belangen auszeichnet. Es ist manchmal verlockend, mit Blick auf den Flughafenstreit mit Deutschland Gedankenspiele über Einschränkungen für deutsche Lastwagen und laute deutsche Güterzüge anzustellen. Aber die gedanklichen Verlockungen stehen einer einfachen Erkenntnis gegenüber: Einigelung hat die Schweiz noch nie vorwärtsgebracht.

Die globale Ausrichtung zwingt unser Land, eine Flexibilität zu bewahren, die manche «Pragmatismus» nennen, andere «Problemlösungsorientierung». Es gibt meines Wissens in der Schweizer Industrie zurzeit wenig Restrukturierungsbedarf – der Grund ist einfach: Die Unternehmen sind dem internationalen Wettbewerbsstress ausgesetzt, der sie fit hält. Der Heimmarkt war stets zu klein. Es blieb bloss die Flucht nach ausserhalb. Nach China, Indien, Mexiko, Indonesien, Russland, Südafrika oder anderswohin. Diese Orientierung hat einen Unternehmergeist gefördert, der sich nicht bloss auf die Spitze von Unternehmen konzentriert. Unternehmerisch gedacht und gehandelt wird auch auf unteren Stufen im Herstellungsprozess – dort, wo es konkrete Probleme zu lösen gilt. Es ist kein Mythos, sondern für mich gelebte Erfahrung: Der Werkplatz Schweiz zeichnet sich durch eine breite Verteilung von Leuten aus, die mitdenken und eigenverantwortlich handeln. Diese Situation verdankt sich ganz einfach dem «Müssen», von dem meine Grossmutter sprach.

Die Kultur der Eigenverantwortung leben wir auch im politischen Bereich, wo es um die Regelung des öffentlichen Lebens geht. Die direktdemokratische Mitwirkung in politischen Prozessen bringt Konstanz, und Volksentscheide sind fast immer vernünftig. Wie würden Leute heute darüber abstimmen, wenn man sie über einen kurzfristigen Ausstieg aus der Atomenergie entscheiden liesse? Sie würden eine Kosten-Nutzen-Analyse anstellen und zum Schluss kommen: Der Ausstieg ist zwar gut gemeint, kostet aber (noch) viel zu viel. Der gesunde Menschenverstand des Volks ist meist ein weiser Bremser unfinanzierbarer Vorhaben – denken wir auch an die Abstimmung über die Vorlage einer Erhöhung der Ferien, die klar abgelehnt wurde. Das Volk hat sich eine gesunde Grundskepsis gegenüber illusionären Versprechungen des Staates bewahrt und hält diesen über Abstimmungen zu Sachfragen im Zaum. Informierte Bürger wissen sehr wohl, was unser Land fit hält und zukunftstauglich macht – und was nicht.

Andere helvetische Wettbewerbsvorteile gehen im Alltagsleben leicht vergessen. Zum Beispiel die physische Sicherheit. Dass meine Kinder sich frei bewegen können, ist ein riesiger Vorteil, der mir jeweils erst wieder bewusst wird, wenn ich aus asiatischen und südamerikanischen Metropolen zurückkehre. Oder die öffentlichen Schulen. Oder das duale Bildungssystem. Das Niveau ist beachtlich, Schule und Ausbildung bieten den Jugendlichen gute Startchancen für ihr späteres Leben. Oder die Vielsprachigkeit und die kulturelle Sensibilität, die wir uns aneignen, weil es einfach dazugehört. Dank dieser Eigenschaften bewegen wir uns leicht und gekonnt in anderen Kulturkreisen, in den künftigen Zentren des Wachstums. Auch wenn die Leistungsorientierung unter dem materiellen Wohlstand gelitten hat, ist gerade unter Vertretern jüngerer Generationen wieder ein dynamischer Ehrgeiz zu spüren.

 

Innere Zerstrittenheit, Verunsicherung, Schnellschüsse

Die selbstbewusste Betonung von Stärken kann indes nicht über die Schwachpunkte eines Systems hinwegtäuschen, das Mittelmass fördert und eine Politik unterstützt, die sich an immer kürzeren Zyklen orientiert. Während der internationale Wettbewerbsdruck Schweizer Unternehmen robust und anpassungsfähig gemacht hat, verfügen unsere Politiker kaum über Erfahrung im Umgang mit politisch aufgebautem Druck aus dem Ausland – in den letzten 20 Jahren war die Schweiz vor allem mit sich selbst beschäftigt. Dies hat auch zwischen Parteien zu politischen Verwerfungen geführt, die klare Allianzen unmöglich machen. Viel Druck von aussen, wenig Persönlichkeiten mit Erfahrung in harten Verhandlungen, Schönwetterpolitik und innere Zerstrittenheit – diese Konstellation schafft Verunsicherung und wirft zu Recht die Frage auf, wie es langfristig um die Stärken und die Stabilität der Schweiz bestellt ist. Einige Symptome aus jüngster Zeit mögen dies verdeutlichen.

Wie kann eine Regierung eine epochemachende Energiepolitik auf den Tisch bringen, ohne die dazugehörenden Ideen und Träume einer ökologischen Steuerreform gleichzeitig miteinzubeziehen? Der mediengetriebene Ausstiegsbeschluss aus der Kernenergie im Nachvollzug eines innenpolitischen Entscheids von Merkel erinnert daran, was Hans Schaffner, der frühere Direktor der Handelsabteilung, jeweils zu sagen pflegte: Der Bundesrat hat entschieden, unbeschwert jeglicher Sachkenntnis.

Wie kann man eine Sicherheitspolitik definieren, ohne diese auf künftige Cyberkriege zu fokussieren, sondern das Gewicht auf neue Flugzeuge zu legen?

Wie kann eine Regierung eine Erbschaftssteuer mit Rückwirkungsklausel einfach nur zur Kenntnis nehmen, obwohl dieses Steuersubstrat klar in die Kantonshoheit gehört und eine solche Vorlage fundamentale Prinzipien unseres Rechtsstaats mit einem Trick auszuhebeln versucht?

Wie kann noch von Rechtssicherheit gesprochen werden, wenn auf Druck des Auslands Gesetze gebrochen oder rückwirkend uminterpretiert werden?

Wie kann sich die Schweiz leisten, im Steuerstreit mit den USA nicht auf Figuren wie die ehemalige amerikanische Botschafterin Faith Whittlesey zurückzugreifen? Wer kümmert sich um die systematische und jahrelange Pflege eines internationalen Netzwerkes von Freunden der Schweiz?

 

Die Stimmung hat sich verändert

Medienwirksame Schnellschüsse und opportunistischer Aktivismus führen zum Eindruck, dass sich das politische System verselbständigt und politische Willkür zunimmt. Allerdings verhält es sich auch so, dass sich die Stimmung unter den Bürgern in den letzten Jahren verändert hat – die soziale Kohäsion ist fragiler geworden. Eine kleine Gruppe von Leuten hat in den letzten zehn Jahren mit überrissenen Salären, die sich nicht ihrer Leistung, sondern ihrer Position verdanken, Teile des sozialen Kapitals dieses Landes nachhaltig beschädigt. Sie sind zu den unfreiwilligen Wegbereitern gefährlicher Initiativen geworden, die staatliche Eingriffe in die Festlegung von Löhnen privater Organisationen (1:12-Initiative) oder föderalismuswidrige Steuerprojekte (nationale Erbschaftssteuer) fordern. Referendum und Initiative wurden im 19. Jahrhundert geschaffen, damit die katholische Minderheit nicht von der
damals herrschenden reformiert-freisinnigen Mehrheit dominiert werden konnte. Heute ist es genau umgekehrt: Der Aktivismus von Randgruppen nutzt die direktdemokratischen Instrumente zum Schutze einer Minderheit, um die stille Mehrheit vor sich herzutreiben. Die Tendenz dieser Vorhaben geht zumeist in die gleiche Richtung: mehr Eingriffe in die Freiheit von Bürgern und Unternehmen, mehr unfreiwillige Umverteilung, mehr Staat.

Wohin ein überbordender Staat führt, lässt sich zurzeit überall in Europa beobachten: in Zwangslagen, die sich zu verstetigen drohen. Die Schweiz kennt die Tradition der Eigenverantwortung und des persönlichen Engagements in diesem Staat. Aber ebendieser Staat wurde in den letzten Jahren kontinuierlich um 3 bis 4 Prozent ausgebaut – die Wachstumsrate der helvetischen Staatsquote übertrifft jene unserer Nachbarn. Kantone und Bund wissen nicht, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen können, ohne die Gesamtbelastung für Mittelstand und Unternehmen ständig zu erhöhen, und im Umgang mit Einnahmenausfällen, die sich für die nächsten Jahre abzeichnen, herrscht in Politik und Verwaltung Ratlosigkeit.

Die Diskrepanz in den Denkprozessen zwischen Politik und Wirtschaft wächst, und Unternehmer werden in der Politik zunehmend zur Rarität. Als ein schweizweit bekannter Thurgauer Unternehmer aus dem Nationalrat zurücktrat, folgte auf ihn eine Kindergärtnerin. Das nationale Parlament wird dominiert von Politprofis, Juristen und Verbandsleuten. Man vermisst Persönlichkeiten, die wissen, was Verluste und Kundenbedürfnisse bedeuten, und sich gewohnt sind, strategisch zu denken.

 

Eine Strategie braucht das Land

Die Hervorhebung von Stärken und die Benennung von Pro-blemen sind unvollständig ohne konkrete Vorschläge, wie Stärken langfristig erhalten und Schwachpunkte beseitigt werden können. Ich beschränke mich dabei auf einige wenige Punkte, die mir besonders wichtig erscheinen – in Frageform.

Sorgt unser parlamentarisches Wahlsystem dafür, dass die besten Köpfe in die Landesregierung kommen? Zum Schweizer Modell gehört eine Konkordanzregierung, in der alle relevanten politischen Parteien angemessen vertreten sind. Die Rolle der Opposition spielt das Volk, das aber nicht entscheiden kann, aus welchen Persönlichkeiten sich die Landesregierung zusammensetzt. Der Vorschlag einer Volkswahl des Bundesrats geistert seit über 140 Jahren durch die Schweiz, wurde aber immer wieder verworfen – zuletzt erst kürzlich durch den Ständerat. Was in Kantonen funktioniert, wird auf Bundesebene grundsätzlich als untauglich erachtet. Die Skepsis gegenüber neuen Wahlverfahren ist helvetisch logisch, doch gibt es auch bedenkenswerte Varianten. Zum Beispiel Jürg Niehans’ Modell einer Blockwahl: 7er Tickets stellen sich mit einem Regierungsprogramm en bloc zur Wahl. Wollen sie eine Chance haben, müssen sie parteienmässig, regional und sprachlich breit abgestützt sein.

Wie organisiert sich künftig die Schweizer Zivilgesellschaft und wie erneuert sie das Milizsystem? Ich kenne keine soziologischen Studien, die den integrativen Effekt der Rekrutenschule wissenschaftlich gemessen haben, aber ich habe selbst erlebt, wie viel Zusammenhalt der Dienst mit Leuten aus anderen Sprachregionen und Tälern geschaffen hat. Die Rekrutenschule hat einen unschätzbaren Integrationswert. Wie könnten weitere institutionalisierte Integrationsmaschinen aussehen? Neue Modelle, die Bürger zu zivilgesellschaftlichem Engagement animieren, sind darauf angewiesen, dass Unternehmen ihre Kader für Milizaufgaben freistellen. Zu wünschen wäre, dass auch grosse internationale Firmen, die bisher eher wenig für lokale oder regionale Politik übrighatten, den Wert des lokalen Handelns neu entdecken. Zeitliche und karrieretechnische Anreize können bewirken, dass auch hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland sich im Schulrat engagieren und ihre wertvolle Zeit in Nachbarschaftshilfe investieren. Das Umdenken hat eben erst begonnen.

Wie können wir erreichen, dass auch Unternehmer neben dem Einsatz für neue Kunden, neben Sitzungen und Reisen noch Zeit und Energie für Politik finden? Parteien könnten systematisch auf Nachwuchsunternehmer zugehen und ihnen jene Unterstützung bieten, die zur Bewältigung der Papierflut aus den Parlamenten mittlerweile nötig ist. Man könnte über Möglichkeiten nachdenken, ein politisches Mandat auf mehrere Personen zu verteilen. Eine gewählte Person könnte dann Stellvertreter benennen, die sie während ihrer Abwesenheit ersetzen.

Wie erhalten wir uns gesunde Staatsfinanzen, die künftige Generationen davor bewahren, für heutige Defizite aufzukommen? Dem Hang zu Mehrausgaben zu begegnen gleicht Odysseusʼ Herausforderung, dem Gesang der Sirenen zu widerstehen. Odysseus liess sich an den Masten seines Schiffes binden, um sich vor sich selbst zu schützen. Das fiskalische Äquivalent ist die Schuldenbremse. Sie hat sich bewährt und könnte auf alle Sozialwerke ausgeweitet werden. Automatische Mechanismen zu Anpassungen an demographische Entwicklungen und höhere Lebenserwartungen verhindern zusätzlich, dass schmerzliche Massnahmen im politischen Prozess zerredet und zerrieben werden.

Wie steigern wir Zahl und Qualität von Freunden in der Welt, die der Schweiz in politischen Krisen zur Seite stehen? Unsere Nachbarn sollten wir besser in Projekte einbinden, statt sie zu bekämpfen. Aber vor allem: wir brauchen Freunde in der ganzen Welt. Die aufstrebenden Nationen Asiens, die ohne eurosozialistische Scheuklappen in der Welt agieren, sollten aktiv angegangen werden – you are my friend. Die gemeinsame Investition von Zeit und Mitteln durch Regierung, Verwaltung und Unternehmertum wird sich längerfristig auszahlen. Wir haben aus den Erfahrungen mit den USA in den 1990er Jahren nicht viel gelernt.
Ändern wir das. Der Aufbau von Freundschaften braucht Zeit – beginnen wir damit heute.

Es ist ein Privileg, nicht unmittelbar handeln zu «müssen». Wir sollten das Privileg nutzen.

 

 

Dieser Text beruht auf der bearbeiteten Aufzeichnung eines Gesprächs mit René Scheu und Florian Rittmeyer.

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