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Nicht Mitte, nicht links, nicht rechts

Vertreter der katholischen Kirche liebäugeln immer öfter mit Kapitalismuskritik, um sich dem Zeitgeist anzubiedern. Eine Vermischung der beiden Sphären Politik und Religion birgt indes Gefahren – und verkennt die theologische Pointe des Christentums. Eine kleine Streitschrift.

Der Reiz von Giovannino Guareschis «Don Camillo und Peppone» besteht nicht zuletzt darin, dass zwei Protagonisten mit gänzlich inadäquaten Mitteln um die politische Deutungshoheit kämpfen. Der eine tut es mit der marxistischen Heilslehre, der andere mit göttlichen Wahrheiten. Erstere ist auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet. Mit letzteren wird heute noch von der Kanzel tagespolitisch gefochten.

So hat sich beispielsweise die Schweizer Bischofskonferenz unlängst unter dem schönen Titel «Die Kirche ist politisch!» zu Wort gemeldet. In der offiziellen italienischen Übersetzung hiess es gar: «La chiesa fa politica!» Was das zumindest für Teile der Bischofskonferenz konkret bedeutet, wurde kurz darauf klar. In seinem 1.-August-Wort unterstellte der Präsident der Bischofskonferenz der Banken- und Finanzwelt pauschal, sie habe sich von den realen Bedürfnissen der Wirtschaft verabschiedet, und forderte zeitgeistkonform mehr politische Regulierung. Man erinnere sich daran, wie kürzlich ein Mitglied der Bischofskonferenz zusammen mit Vertretern von Mitte-links und Gewerkschaften im Berner Medienzentrum auftrat – an der Auftaktveranstaltung zur Abstimmung über das Verkaufssortiment von Tankstellenshops. Zu erleben war hier, wie sich eine kirchliche Hierarchie im Brustton der Überzeugung für die Beschränkung von Verkaufszeiten für Bratwürste engagierte. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?

So werden, mit modisch-sozialistischer Schlagseite, immer wieder politische und wirtschaftliche Sachfragen im Namen Gottes beantwortet. Linken mag das gefallen. Freiheitlich Gesinnte aber sind irritiert und fühlen sich in ihrer Kirche zunehmend heimatlos. Und man bekommt angesichts von politisch gefärbten Botschaften solcher Kirchenvertreter Verständnis für Wilhelm Busch, der in «Die fromme Helene» textete: «Schweigen will ich von Lokalen, wo der Böse nächtlich prasst, wo im Kreis der Liberalen man den Heil’gen Vater hasst.»

Die Wahrheit ist: Die Kirche ist weder rechts noch links, und sie zählt auch nicht zur Mitte. Denn sie vertritt eine Glaubenslehre, die per definitionem nicht die Lösung kontingenter weltlicher Fragen zum Ziel haben kann. Dennoch wird diese Lehre immer wieder genau dafür instrumentalisiert − früher, um Kriege zu führen, heute vornehmlich für linke Anliegen. Denn nicht wenige Kirchenleute sehen in Jesus Christus im Grunde ein sozialistisches Blumenkind. Und so setzen sie das Evangelium als Marketinginstrument für ihr Gutmenschentum ein.

Dabei bietet gerade das Christentum ideale Voraussetzungen dafür, dass es nicht so weit kommt. Denn im Gegensatz zu anderen Weltreligionen, etwa dem Islam, zeichnet sich der christliche Glaube durch die fundamentale Unterscheidung zwischen einer Schöpfungsordnung und einer Offenbarungsordnung aus. Nach christlicher Auffassung wurde die Welt geschaffen, bevor Gott durch Jesus Christus offenbarend in sie hineingesprochen hat. Dies hat zur Folge, dass im christlichen Weltbild die Schöpfung − und damit auch die Wissenschaft, die Politik oder die Wirtschaft − schon vor der Religion einen eigenen Daseinsgrund haben und ohne Rekurs auf die Religion der erkennenden und gestaltenden Vernunft offen sind. Dieser christliche Dualismus verbietet es, diese Disziplinen − mit dem Ergebnis eines Gottesstaats − der Religion unterzuordnen. Ebenso verbietet es dieser Dualismus umgekehrt, Religion − mit dem Ergebnis einer Staats- oder Zivilreligion − im Politischen oder Gesellschaftlichen aufgehen zu lassen. Das Christentum schafft damit jenen Freiraum der Säkularität und der Freiheit des Gewissens, der die Grundlage unserer westlichen Zivilisation sowie des Pluralismus der Moderne ist. Wie bedeutsam die Unterscheidung von Schöpfungs- und Offenbarungsordnung ist, hat sich jüngst wieder im Fall des im Irak wütenden Regimes «Islamischer Staat» (IS) gezeigt. Ein Kalifat unterscheidet zwischen Religion und Politik nicht, sondern unterwirft alles, was nach christlicher Auffassung säkular ist, der religiösen Doktrin des Korans und den damit zusammenhängenden Glaubenslehren. Für Andersgläubige lauten die Konsequenzen dieses Monismus Vertreibung, Versklavung oder Tod.

Zugegebenermassen war in den letzten 2000 Jahren im christlichen Abendland immer wieder umstritten, wie das Neben- und Zueinander von Schöpfungs- und Offenbarungsordnung auszugestalten sei. Und es gab im Verlauf der Geschichte trotz der grundsätzlichen Einsicht in die Verschiedenheit der beiden Sphären immer wieder politisierende Don Camillos, die zum Schaden der Gewissensfreiheit des einzelnen gottesstaatähnliche Zustände herbeiführten. Ebenso traten kämpferische Peppones auf, die säkulare Theorien zu ersatzreligiösen Heilslehren emporstilisierten. Man suchte − zumeist mit verheerenden Folgen für das Gewissen des einzelnen − das Heil der Welt im überlegenen Volk (Nationalsozialismus), im gerechten Kollektiv (Kommunismus) oder in der ganzheitlichen Öko-Religion (New Age).

Die katholische Kirche ist jedoch den Versuchungen, Diesseits und Jenseits zu vermischen, nie erlegen und hat es zuletzt durch das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) unternommen, das Verhältnis von Schöpfungs- und Offenbarungsordnung für unsere Zeit umfassend neu zu justieren. Es ging damit auch um die Frage: Soll die Kirche politisch sein? Und wenn ja: wie? Das Konzil hat zur Beantwortung dieser Frage – christlich-abendländischer Tradition folgend − eine Zweiteilung vorgenommen. Grundsätzlich ist es Aufgabe der Hierarchie, also des Papstes, der Bischöfe und der Priester, den Glauben zu verkünden, die Kirche zu leiten und den Laien (Getaufte und Gefirmte) geistliche Hilfe für ihr Leben im weltlichen Alltag zu geben. Primäre Aufgabe der Laien ist es dagegen, den Dienst der Kirche an der Gesellschaft, dem Staat und/oder der Wirtschaft zu verwirklichen. Dies sollen sie aber nicht als Befehlsempfänger der Hierarchie tun, als ihr verlängerter Arm, sozusagen mit dem Schild «katholische Kirche» am Revers, sondern im eigenen Namen, auf der Basis ihres christlich gebildeten Gewissens. Das ist die politische Sendung der Kirche. Gemäss dem Willen des II. Vatikanischen Konzils wird diese Sendung also nicht so sehr durch die «Institution», die Hierarchie, verwirklicht, die dem Staat und der Gesellschaft gegenübertritt. Die politische Sendung der Kirche ist primär vielmehr eine Tätigkeit zahlreicher einzelner Christen, die kapillar die Gesellschaft durchwirken und im eigenen Namen, aus eigener freier Initiative, das christliche Zeugnis in Wirtschaft, Politik, Journalismus, Familie, Vereinen und Freizeit geben. Aufgabe der Hierarchie ist es dabei, ihnen durch die Verkündigung Bildung und durch die geistliche Begleitung Beistand zu geben, sie dadurch aber nicht zu bevormunden. Das Konzil hat dies ausdrücklich anerkannt: «Die gerechte Freiheit, die allen im irdischen bürgerlichen Bereich zusteht, sollen die Hirten sorgfältig anerkennen.» Mit anderen Worten: es ist der Hierarchie versagt, die Gläubigen politisch zu gängeln.

Natürlich ist die geschilderte Bereichsscheidung nicht schematisch. Dort, wo zentrale Inhalte der Glaubenslehre oder die Menschenwürde − etwa in den Fragen Bioethik oder des Rechts auf Leben − unmittelbar zur Debatte stehen, wird die amtliche Verkündigung automatisch politisch. Diese Form der politischen Aktivität wird der Kirchenleitung im politischen Diskurs heute auch durchaus zugestanden. Aber im Bereich der Schöpfungsordnung, der Wirtschaftsordnungen oder der Wissenschaft zum Beispiel, gilt das, was Papst Benedikt XVI. 2010 in der Westminsterhall unterstrichen hat: «Die katholische Lehrtradition sagt, dass die objektiven Normen für rechtes Handeln der Vernunft zugänglich sind, ohne dass dazu ein Rückgriff auf die Inhalte der Offenbarung nötig wäre. Dementsprechend besteht die Rolle der Religion in der politischen Debatte nicht so sehr darin, diese Normen zu liefern, als ob sie von Nichtgläubigen nicht erkannt werden könnten. Noch weniger geht es darum, konkrete politische Lösungen vorzuschlagen, was gänzlich ausserhalb der Kompetenz der Religion liegt.» Die Rolle der Religion ist es vielmehr, die transzendente Bedeutung des Menschen zu betonen.

Durch die mit dem II. Vatikanischen Konzil geleistete Präzisierung der kirchlichen Lehre ist die Art und Weise, wie Kirche politisch sein soll, somit stark deinstitutionalisiert worden. Sie ist − mit den erwähnten Ausnahmen − nicht mehr wie im Mittelalter und darüber hinaus dadurch politisch, dass sie von ihrer eigenen Institution und von ihren Repräsentanten her amtlich in die Welt hineinspricht zu Fragen, die der Gestaltung durch Vernunftgründe offenstehen, weil sie der Schöpfungsordnung angehören. Sondern es ist die Vision des Konzils, dass durch den Dienst der Laien «die geschaffenen Güter gemäss der Ordnung des Schöpfers und im Lichte seines Wortes durch menschliche Arbeit, Technik und Kultur zum Nutzen wirklich aller Menschen entwickelt und besser unter ihnen verteilt werden (…) und dem allgemeinen Fortschritt dienen». Das sieht auf den ersten Blick weniger spektakulär aus als das amtliche Eingreifen und Hineintönen in die Welt, wie man es seit den Zeiten des Mittelalters kennt. Aber es ist die richtige Antwort auf veränderte Verhältnisse, weil es ganz neuzeitlich das Gewicht nicht mehr auf die Institution legt, sondern auf das Individuum, den christlichen Bürger, der zum Protagonisten geworden ist.

Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche vor bereits 50 Jahren ihre Hausaufgaben gemacht. Hierzulande und auch anderswo gibt es aber immer noch politisierende Don Camillos, die ihre Botschaften – in die Sprache Kanaans verpackt – unters Volk zu bringen versuchen. Sie sind nicht die Avantgarde der Kirche, wie sie uns gerne glauben machen, sondern ihr Schlusslicht.

 


 

 

Gottes Zuckerguss

René Scheu zu Martin Grichtings Essay

Leben wir nicht in völlig agnostischen bis atheistischen Zeiten? Es gibt guten Grund, an diesem unter Publizisten beliebten Glauben zu zweifeln. 

Als ich vor ziemlich genau einem Jahr in der «NZZ am Sonntag» folgende Sätze veröffentlichte, wurde ich von den vielen Rückmeldungen beinahe erschlagen: «Viele Theologen lieben es, im Gottesdienst über alle möglichen Dinge zu predigen, über Armut, Afrika und Abzocker, über
Ausgrenzung und das tägliche Jammertal des Lebens – der liebe Gott kommt dabei nur am Rande vor. Statt Theologie bekommt man schlechte Ökonomie geboten und dazu noch eine Extraportion des zeitgemässen Miserabilismus.»
 

Unmittelbarer Anlass für meine Unmutsbekundung war das erste apostolische Schreiben des neuen Papstes, das im denkwürdigen Satz «Diese Wirtschaft tötet» gipfelte.
Die Antworten kamen aus der Feder von Protestanten und Katholiken, die meisten ausnahmsweise in zustimmendem Ton (für gewöhn
lich antworten vor allem jene, die Anstoss an meinen Texten nehmen), darunter Kirchengänger, Theologen, ja sogar der oberste Reformierte der Schweiz – und eben auch Martin Grichting, seines Zeichens Generalvikar des Bistums Chur und einer der erfreulich streitbaren Notabeln
der katholischen Kirche.
 

Grichting outete sich als besorgter katholischer Würdenträger – besorgt über die zunehmende Politisierung seiner Ecclesia. Wir begannen zu korrespondieren, bald stand ein Text von ihm in Aussicht. Grichting schlug mir folgendes Thema vor: «Soll Kirche politisch sein und wenn ja, wie?» Seine Begründung: «Mich nervt seit eh und je das linke Gutmenschentum gewisser Kirchenvertreter, für das dann der liebe Gott noch
den Zuckerguss liefern darf.» Gut gebrüllt. Aber ist es nicht genau die katholische Kirche, fragte ich als Kulturzwinglianer zurück, die persönlichen Glauben und institutionelle Hierarchie, Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und dogmatische Macht in höchst problematischer Weise miteinander verquickt? Nein, meinte Grichting – eben gerade nicht.

Stimmt das wirklich? Ergebnis unserer Korrespondenz ist der nebenstehende Text, den ich als Beitrag zum Diskurs gerne abdrucke. Dabei weiss ich: in unseren säkularen Zeiten sind es theologische Fragen, die viele Menschen zuverlässig herausfordern. Und frage mich (und Sie): Warum bloss?

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