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Nacht des Monats mit René Schweizer

Nacht des Monats mit René Schweizer
René Schweizer, photographiert von Claudia Mäder.

Die nächste Halbtax-Generation werde benutzerfreundlicher, versichert eine aufgeweckte Frauenstimme, da das Geburtsdatum, einem vielseitigen Wunsch entsprechend, ab 2015 auf die Vorderseite des Plastikstücks gedruckt und so der immer wieder beanstandete Drehaufwand beim Vorweisen der Rabattkarte hinfällig werde. Ich hebe den Kopf von meinem Buch und blicke im Zug nach Basel, eingeklemmt zwischen drei Herren, zwei Laptops und einer Kiste Wein – verfluchte Masseneinwanderung! –, den Problemen der Schweiz ins Auge.

Ob er Autor des vielseitigen Wunsches war, frage ich wenig später René Schweizer, erhalte aber abschlägigen Bescheid: Wer einen Rollator besitze, brauche kein Halbtax. Heute kaum mehr mobil, hat das Basler Original zuvor über Jahrzehnte die amtliche Schweiz bewegt: Seit den 1970er Jahren hat Schweizer zahllose Briefe mit kuriosen Anfragen – etwa: Bitte um Beheizung des grossväterlichen Grabes – an hiesige Behörden geschickt, zusammen mit den noch kurioseren Antwortschreiben – unnötig, da Isolation in 90 cm Tiefe ausreichend gewährleistet – veröffentlicht und sich so zu einer Kultfigur der Alltagsgroteske entwickelt. «Ich habe nie eine Beziehung zum Ernst des Lebens gehabt», sagt er im «schmalen Wurf» am Rheinufer, schickt aber gleich nach, dass er ebenso wenig je der «Guignol» für andere habe sein wollen, sondern einfach gerne seine Phantasie nutze und daraus Witz schöpfe.

Ein Clown ist Schweizer nicht, ein unterhaltender Erzähler aber wohl. Kaum haben wir uns begrüsst und die wichtigsten Eckpfeiler eingeschlagen – «Sie sind Germanistin? Wie grausam!» –, läuft ein Roadmovie erster Güte an. Er, erklärt der 71-Jährige flüsternd, habe nach der Matur etwas ganz anderes gemacht: «einen Bankbetrug!» Die Sonnenbrille, die der Bandit zum Schutz vor der Helle trägt, verstellt mir den Blick ins Gegenüber; das einzige, was ich in seinen Augen sehe, ist die Spiegelung meines properen weissen Blüschens.

Ausbrechen habe er wollen aus der Enge der 1960er Jahre, fährt er fort. Mit 28 000 Mark, die er aus einem gefälschten Scheck gelöst hatte, hoffte er, in Mexiko dem Sonnenaufgang entgegenzureiten, rannte dann aber den Schlusslichtern des Zugs nach Paris nach, floh nach Spanien, verliebte sich in den Flamenco, entwand sich nach Tanger, trampte nach Israel, schmuggelte, eingepackt in elastische Nierenstrümpfe, kiloweise Hasch nach Europa, wurde in Mailand verhaftet, sass in Basel im Kittchen – und hat dort gelacht wie selten zuvor. Noch jetzt schüttelt es ihn, wenn er von Franco Ferrari erzählt, seinem Zellenkumpan, der sich als Einbrecher in Besenschränken versteckte und die Heimkehrer mit dem Vorwurf erschreckte, sie hätten sein Motorrad geklaut. «Manchmal kann ich kaum glauben, dass ich das alles wirklich erlebt habe», quittiert er kopfschüttelnd.

Sonne und Blendung schwinden – unter der Verglasung treten tränend blaue Augen hervor –, als wir danach den Rhein entlangrollen und der belesene Schweizer mit Hinweisen auf Nietzsches Uni und Hesses Stammbar meine Basler Wissenslücken stopft. Dem Steppenwolf habe er sich immer nah gefühlt, ergänzt er dann im Hof der Kaserne, wo wir vor einem Glas Wein auf seine Trunksucht zu sprechen kommen. Wie Hesses Harry Haller habe auch er zwei Seiten, zerfalle in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, lebe lange bestens, um sich dann unversehens wieder aus der Welt zu saufen. Komik und Tragik gehören zusammen, ich weiss, will trotzdem verstehen, wie jemand, der die Gnade hat, mit der Distanz des Humors auf das Leben zu blicken, so sehr an diesem leiden kann, und den Gedanken töten, dass es die Sinnlosigkeit der Welt ist, die er, aus der Ferne erkannt, im Alkohol ersäuft.

Wir schweigen, ich verzagt, er kauend. Königin Elizabeth, sagt er dann schalkhaft zwischen zwei Happen, nippe immer nur am Essen, um bei Banketten anständig Konversation betreiben zu können. «Nippen ist natürlich völlig falsch», gibt er gleich zu bedenken und fragt die «Fachfrau» nach einem besseren Wort. Die aber weiss nur endlich zurückzufragen, was denn eigentlich «grausam» sei an Germanisten. Ein herzhaftes Lachen später ist mindestens das geklärt – «grausam muss für die doch sein zu hören, wie Leute überall die Sprache malträtieren!» –, und so finden wir uns zuletzt, durchs Rotlichtviertel trottend, in der Trauer um platterdings vergessene Worte und verabschieden uns heiter vor keifenden Käufern kurzer Lüste.

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