Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Grösser als wir

Die Wirtschaft löst sich von den Fesseln stofflicher Ressourcen und erobert den Geist. Der Rohstoff der Stunde heisst «Information» – und ist scheinbar unbeschränkt verfüg- und nutzbar: Die Datenberge, die sich im Zeitalter von «Big Data» türmen, speichern Massen von Material, das durch Kalkül zu barer Münze wird. Gesteuert von Algorithmen, die kaum einer versteht, scheint uns das Datensystem zu übersteigen. Was haben wir ihm entgegenzusetzen?

«Ich» und die Technologie.
Peter Sloterdijk erzählt die Geschichte des Egoismus im Zeitraffer.

Moderne Zeiten fangen damit an, dass Menschen in einem solchen Ausmass Handlungsmacht erwerben, dass man über die Realität der Realität neu nachdenken muss. Eine der bekanntesten Anekdoten der jüngeren Weltgeschichte, das «Erfurter Ereignis» – die Begegnung Napoleons mit Goethe im Herbst des Jahres 1808 –, gibt Kunde davon. Napoleon spricht Goethe auf das aktuelle Drama an; man redet über die Mode der Schicksalsdramen, die damals in romantischer Welle über die europäischen Bühnen hinweggerollt sind. Und da sagt Napoleon einen Satz, den die Menschen bis auf den heutigen Tag im Ohr behalten haben: «Was will man heute mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal.» Genauso gut hätte er natürlich das fatale Pronomen der ersten Person anstelle des Wortes «Politik» einsetzen und sagen können: «Ich bin das Schicksal.» Denn schon 1804, als man ihm in Frankreich die Kaiserkrone angetragen hat, hat er die denkwürdige Aussage getan: «Das Glück der französischen Nation hängt wesentlich an den Erfolgen meiner Person.» In dieser Aussage hat man das Auftauchen einer neuen Form von menschlicher Ich-Haftigkeit und Handlungsmächtigkeit exemplarisch wahrnehmen können. Hegel hat sich in derselben Zeit darum bemüht, in seiner Rechtsphilosophie das System der bürgerlichen Gesellschaft als ein Gehege zu beschreiben, in dem die Egoismen aller Mitspieler auf den Märkten domestiziert werden sollen. Während er den Staat sozusagen als Agentur des Gemeinwesens und der Gemeinweseninteressen darstellte, hat Hegel die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ganz offen als eine Art von geistigem Tierreich beschrieben, in dem submoralische egoistische Energien in intensiven Konflikten aufeinanderprallen. Eine Generation später hat Max Stirner mit seinem Buch «Der Einzige und sein Eigentum» aus dem Jahr 1844 die Ära des puren philosophischen Egoismus eingeleitet. Er hat das, was in Europa 2000 Jahre lang strikt verpönt war, die Selbstbetonung des Individuums, zum neuen Ausgangspunkt einer Suche nach Wahrheit gemacht. Es ist eine der Geburtsstunden des modernen Individualismus im Zeichen des Individualanarchismus.

Dieses Problem nun führt uns Frank Schirrmacher in einem ganz neuen Aggregatszustand vor, indem er zeigt, wie sich Egoismus und Egoität aus diesem alten, noch von Menschen gebundenen Aggregatszustand herausgedreht haben und gewissermassen gar nicht mehr aus den menschlichen Akteuren selber kommen, sondern von «Egoismusimplantaten» herstammen, die durch eine bestimmte Form von medialer und transaktionaler Indoktrination entstanden sind. Diese Betrachtungsweise, die also an der Grenze zwischen Anthropologie und Technikanalyse steht, weitet heute unseren Blick auf das ganze Problemfeld der menschlichen Handlungsmacht.


Sammeln, um zu gewinnen.
Frank Schirrmacher bietet Einblicke in die Parallelwelt aus Kredit­informationen, die durch «Big Data» entsteht. 

 

Wir erleben eine «digitale Revolution», die alle Kennzeichen einer säkularen Zäsur trägt und alles verändert, womit wir zu tun haben. Miterfunden von Ökonomen und wesentlich auf ökonomischen Prinzipien basierend, hat sie eine Welt geschaffen, wie wir sie am Horizont gerade erst erkennen: eine Welt, in der jede menschliche Bewegung zu einem Signal verarbeitet und so zu einer möglichen Profitquelle wird; eine Welt, in der unser gesamtes Leben zu einem Gegenstand wird.

Noch nicht einmal die Science Fiction hat diese Welt vorausgesehen. Die Science Fiction hat immer gedacht, es gäbe irgendwann superkluge Maschinen, die alles dominierten. Das ist nicht der Fall. Die Maschinen sind wahnsinnig dumm. Sie werden gefüttert mit unserer Intelligenz. Und durch die Muster, die sie bilden können, werden sie fähig, algorithmisch – wie nach einem Kuchenrezept – intelligente Resultate zu liefern. Ebenso wenig hat George Orwell unsere Welt vorweggenommen. Orwell beschreibt eine Welt mit einem bösen Tyrannen und Menschen, die im Kern noch völlig unangegriffen sind in ihrer «menschlichen Identität», die noch wissen, was Liebe und Vertrauen ist, und sich das auch nicht wegnehmen lassen. Orwells Menschen wissen auch, dass sie unterdrückt werden – und lehnen die Unterdrückung ab.

Wir hingegen reden von einer Welt, die – soweit ich das erkennen kann – nichts über diktatorische oder tyrannische Vorgaben durchsetzt. Die Menschen werden nicht durch einen Tyrannen unterdrückt, sondern über «Incentives» gesteuert. Ein Beispiel: unlängst wurde bekannt, dass eine erste Versicherung jenen Autolenkern Rabatte gewährt, die freiwillig bereit sind, ihr Fahrverhalten in Echtzeit übers Internet screenen zu lassen. Solche Anreize werden in Zukunft zunehmen. Bevor ich auf diese Entwicklungen zurückkomme, will ich aber einen kurzen Blick in die Geschichte wagen, um zu erklären, was hier eigentlich passiert.

Die Geburt dessen, was wir heute Informationsökonomie oder Informationsgesellschaft nennen, kann man im Jahr 1988 beobachten: Am 30. Mai 1988 hielt Ronald Reagan in der Moskauer Universität eine Rede vor den Eliten des Marxismus. Seine Rede handelte nicht von abstrakten Fragen wie Mitteleuropa oder Atombomben. Das kam zwar auch vor, aber in der Hauptsache sagte er, an die Studenten gerichtet: «Ich rufe Ihnen heute folgendes zu: Es wird eine technologische oder Informationsrevolution kommen, und Ihr Emblem ist der Computerchip, nicht grösser als ein Fingerabdruck. Wie eine Schmetterlingspuppe schlüpfen wir alle aus den ökonomischen Begrenzungen der industriellen Revolution. Wir geraten von einer Ökonomie, die von den physischen Ressourcen der Erde beschränkt und begrenzt wurde, in eine verwandelte Ökonomie. Wir verwandeln uns in etwas, was ein Ökonom einmal die ‹Ökonomie des Geistes› genannt hat. In ihr gibt es keine Grenzen für die menschliche Imagination und Freiheit. Kreativität ist die wertvollste natürliche Ressource, die es gibt.»

Der Mann, der ihm die Rede geschrieben hat – George Gilder –, ist einer der grossen Vordenker der Informationswelt und der Informationsökonomie der 1980er und 1990er Jahre gewesen. Von ihm, der auch in der Gründungsphase des Silicon Valley zen­tral mit dabei war und eine sehr interessante Figur ist, gibt es ein weiteres Zitat, das viel mit dem zu tun hat, was uns heute beschäftigt. In Anspielung auf den Club of Rome respektive dessen Hinweis auf die materiellen Begrenzungen des Wachstums zeichnete er in einer Rede über die Deindustrialisierung der USA, die er begrüsste, diese neue Vision:

«In dem Wirtschaftssystem, das wir aufbauen» – das Silicon Valley ist damit gemeint – «ist unsere Fähigkeit, Reichtum zu schaffen, erstmals in der Geschichte der Menschheit nicht mehr von physikalischen Grenzen beschränkt, sondern nur durch unsere Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln. Mit anderen Worten: sie ist unbegrenzt. Wer einmal verstanden hat, was die Ökonomie des Geistes» – das ist seine Prägung – «bedeutet, was es bedeutet, zu wissen, was man aus Informationen machen kann und wofür man sie verwenden kann, wird sehen, dass wir in eine Zeitenwende eingetreten sind.»

Man könnte viele solcher Beispiele bringen. Die beiden sind mir wichtig, um zu zeigen, dass wir nicht über einen Prozess reden, der jetzt plötzlich entstanden ist, sondern dass die theoretischen Grundlagen des Ganzen viel weiter zurückreichen. Im Grunde liegen sie schon in den 1950er und 1960er Jahren. Eine der grossen Erkenntnisse dieser Zeit ist die «Informationstheorie», die Norbert Wiener aus Rückkopplungssystemen aus dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. So begann das alles, und irgendwann kam dieser Begriff zum Vorschein, den Reagan und Gilder dann benutzten, den wir alle heute benutzen und den es vorher in dieser Weise gar nicht gab: «Information». Information ersetzte – auch in der neoklassischen Ökonomie übrigens – seit der Mitte der 1950er Jahre den Begriff «Wissen». Eine der wesentlichsten – wenn auch zunächst noch ganz theoretischen – Neuerungen der Informationstheorie war die völlig im Widerspruch zum Denken früherer Ökonomen stehende Einsicht, dass Information möglichst viel Redundanz braucht. Für die Neoklassiker und für viele andere Ökonomen war Redundanz einfach nur ein Zeichen dafür, dass jemand nicht richtig optimierte. Jetzt kam diese Theorie, aus einem völlig anderen Umfeld, und sagte: «Nein. Ihr werdet sehen: Bei allen Dingen, die mit Information zu tun haben, brauchen wir» – in meinen Worten – «praktisch alles». Redundanz heisst: so viel Information wie nur irgend möglich – «um dann mit unseren Methoden Ergebnisse zu zeitigen». Die fragliche Methode ist die Statistik, wie wir sie heute bei Google usw. kennen.

Das klingt erst mal total theoretisch. Wenn man dann aber hört, dass der Chef der NSA kürzlich gesagt hat: «Wir suchen nicht nach der Nadel. Was wir vielmehr brauchen, ist der Heuhaufen, um die Nadel zu finden», sieht man, wie diese eigentlich ursächlich theoretische Idee plötzlich real wird. Und dann versteht man auch, warum ein Unternehmen wie Google oder Facebook gar nicht anders kann, als eine Redundanz von Informationen über uns alle herzustellen, die gigantischer und überwältigender nicht sein könnte.

Das alles war damals natürlich «in the making», also nicht so geplant, von einer Verschwörungszentrale oder sonst einer In­stanz. Man merkte einfach zum ersten Mal, welche Möglichkeiten bestehen. Und nun, im Jahre 2013, wird etwas aus dieser Inkubination. Einer der wichtigsten Google-Chefs, der in ein neues Start-up gewechselt ist, sagte 2013 den Satz: «Alle Daten, die es überhaupt gibt, egal von wem, sind Kreditdaten. Wir wissen nur noch nicht, wie wir sie anwenden können.» Das heisst, alle Daten, die wir sammeln, können in irgendeiner Weise geldwerte Vorteile sein. Wenn man überdies sieht, dass «Kredit» nicht nur ein Darlehen bezeichnet, sondern auch für Reputation, bürgerliche Identität und vieles andere steht, dann erkennt man den Epochenwandel, den wir gerade durchmachen.

Kulturkritisch haben wir in den 1950er bis 1970er Jahren, geprägt von Erich Fromm und der Frankfurter Schule, immer von der «Ökonomisierung» aller Lebensverhältnisse gesprochen. Das war damals ziemlich propagandistisch – auch, weil es ganz viele Lebensverhältnisse gab, auf die es überhaupt nicht zutraf. Jetzt aber, wo unser digitales Ich beginnt, unser wirkliches Ich zunehmend zu ersetzen, und wo das, was wir an Spuren hinterlassen, relevant wird für Entscheidungen von Staaten und Unternehmen, jetzt also stellt sich die Frage, ob wir nicht tatsächlich die «Ökonomisierung von allem» erleben.

Was heisst «alles wird ökonomisiert»? Eine Frage, die mit Blick auf den Staat, die Gesellschaft und die Politik völlig unbeantwortet ist. Klar ist für mich: Hinter diesen Vorgängen stehen keine bösen Absichten. Ich glaube nicht an Verschwörungen und auch nicht, dass irgendwo irgendeiner sitzt, ein Spion, der von mir wissen will, ob ich eine Bombe werfe oder ähnliches im Sinn habe. Das ist alles nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Google, Apple und Konsorten all die Daten nicht sammeln würden, wenn sie nicht wüssten, dass jedes Datum, jedes individuelle Datum, geldwerter Vorteil ist, Geld ist, Währung ist.

Was ist eine Informationsentität in der Kommunikation des 21. Jahrhunderts? Eine Auskunft über die Blickrichtung von Menschen, die eine Tankstelle betreten, beispielsweise. Diese Information kostet sehr viel Geld. Tesco, einer der grossen Tankstellenbetreiber Grossbritanniens, baut Systeme ein, die messen, wie der Blick des Kunden verläuft, wenn er in den Laden geht – um festzustellen, wo er draufguckt, und dort dann entsprechend Werbung aufzuspielen. Das ist nur ein kleines Detail, doch kann man den ganzen Körper – Hören, Sehen, Denken usw. – allmählich so zusammensetzen, dass dadurch im digitalen Raum ein Doppelgänger von uns entsteht, der sozusagen runterdividiert wird von jeder einzelnen seiner sensorischen und intellektuellen Fähigkeiten. Das ist nicht Zukunftsmusik, das ist Realität.

Man ist hiermit natürlich mitten in dem, was wir «Big Data» nennen und wobei ich auch deutlich sagen möchte, dass die Chancen dieser Technologie riesig sind. Vor ein paar Jahren hätte niemand geglaubt, dass UPS mit einer Treffsicherheit von 90 Prozent Monate im voraus sagen kann, wann welches Auto zusammenbricht. Und zwar nicht aufgrund einer komplizierten Analyse des Motors, sondern nur aufgrund von Vibrationsanalysen. Das ist grossartig. Wie ist es aber umgekehrt mit den sozialen Effekten dieser digitalen Ökonomie? Zum Beispiel wissen wir, dass die grossen Einzelhändler – Walmart an der Spitze – in den USA im Grunde schon ein Parallelgeschäft haben. Das heisst: die ganze Ware ist eines, aber daneben gibt es die Parallelwelt der Daten, die eigentlich viel interessanter ist. Wenn etwa einer bei Amazon ein Buch eingekauft und es jetzt in der Hand hat, mag das für den Verleger interessant sein. Die Information aber, wer der Buchkäufer überhaupt ist, was er tut und lässt, hat einen Wert, der noch viel, viel grösser ist. Deshalb sammeln die grossen Einzelhändler Daten über Daten.

Wenig wissen wir von alledem; etwas ist kürzlich rausgekommen, weil einer, ein Vater, geplaudert hat. Dessen 16jährige Tochter hatte einen Brief von Walmart erhalten, in dem drinstand: «Bald ist es so weit. Wir beglückwünschen Sie zu Ihrem Baby. Noch zwei Monate und wir geben Ihnen Rabatt.» Was ist da passiert? Walmart – in Amerika kennen die Geschäfte ihre Kunden besser als in Deutschland – hat festgestellt, dass eine Kundin, die ihr Einkaufsverhalten ändert und plötzlich anfängt, unparfümierte Bodymilk zu kaufen, höchstwahrscheinlich im zweiten oder dritten Monat schwanger ist. Als nächstes kommen Vitamin-, Zink- oder Eisentabletten und so weiter, bis schliesslich mit einer Treffsicherheit von 90 Prozent gesagt werden kann: Diese Kundin kriegt ein Kind. Der Vater, der dem Brief nicht glaubte und Walmart öffentlich demontieren wollte, kam sehr kleinlaut heraus und sagte: «Ich muss Ihnen gestehen, Walmart weiss mehr über meine Familie als ich. Meine Tochter ist schwanger.»

Letztlich passiert damit auf der Ebene der Digitalökonomie das, was wir auf anderen Ebenen – etwa der Terrorismusvoraussage – auch haben, nämlich: Risikobewertung. Jedes System in dieser digitalen Welt, das in irgendeiner Weise normatives Verhalten feststellen will, macht gleichzeitig Risikobewertung. Es geht mir mit diesen Hinweisen nicht darum, die Schrecklichkeit der Ökonomie aufzuzeigen und für irgendeine Umkehr zu plädieren. Vielmehr will ich ein Bewusstsein dafür wecken, dass das alles gar nicht mehr in unserer Hand steht. Die Maschinen, die alles berechnen und vorhersagen, sind codiert. Das ist ein Code, den wir grösstenteils nicht kennen, der aus rein mathematischen Formeln besteht und der dann evaluiert, was er sieht.

Wir haben es also mit genau dem zu tun, was Reagan als «Ökonomie des Geistes» bezeichnete. Wir können diese Ökonomie nicht anfassen. Wir können nur sagen, dass wir 200 Jahre nach der Dampfmaschine in eine Welt eintreten, auf die wir nicht gut vorbereitet sind. Eine Welt, die sozusagen das, was sie im Bereich der Dinge machte, jetzt in der Welt des Menschen selbst macht: die völlige Ausdifferenzierung jedes Details seines Lebens, damit irgendjemand davon einen Vorteil hat. Und hier fällt unweigerlich auf, dass wir eine Asymmetrie der Macht haben, dass die Daten alle in riesigen Internetgiganten in den USA liegen, dass wir dem in Europa fast nichts entgegenzusetzen haben und dass wir uns fragen müssen, ob wir das wirklich so wollen.

Nochmals: die gewaltigen Chancen, die mit diesem «Internet der Dinge» einhergehen, dürfen wir uns keinesfalls kaputtmachen lassen. Nur muss uns klar sein, dass damit auch Tür und Tor für ganz andere Sachen offenstehen. Es geht nicht nur darum, dass wir nun halt «ein bisschen mehr Computer» haben. Wenn Sie sich mit Ihrem iPhone wecken lassen, dann weiss Apple auch, wann Sie aufstehen; die elektrische Zahnbürste, mit der Sie sich dann die Zähne putzen, wird irgendwann an die Krankenversicherung zurückmelden – bei Incentives –, dass Sie sich die Zähne regelmässig putzen; das Auto zeichnet sodann Ihr Fahrverhalten für die Versicherung auf – und so weiter und so fort. All das geschieht nicht wie bei Orwell, um die Menschen zu entmündigen und zu unterdrücken. Es passiert aus einer bestimmten Vorstellung der totalen Ökonomisierung des gesamten Lebens heraus, nach Rastern, von denen wir nicht wissen, wie sie funktionieren, was sie mit uns machen und wie sie unser Sozialverhalten verändern.

Gerade auch im Bereich der Medien ist das zu beobachten. Zum Beispiel schreibt ein Grossteil der Medien die ersten zehn Sätze auf ihren Webseiten bereits nicht mehr für Menschen, sondern für Roboter, nämlich für die Roboter von Google, damit die sie – aufgrund richtiger Schlüsselworte und Syntax – gut bewerten. Auf das ganze Netz rückgeschlossen, heisst das natürlich, dass der Algorithmus sagt: «Skandale werden viel gelesen. Das bewerte ich nach oben.» Und so erkläre ich mir etwa, dass wir neuerdings Skandalwellen haben, die genau immer eine Woche dauern, die fast immer am Mittwoch ganz hoch und dann auch schon wieder vergessen sind. Kurzum, in der medialen Struktur der Gesellschaft ändert sich sehr viel, und es ist dringlich, dass wir endlich eine Debatte darüber führen, was wir in Europa wollen und was wir nicht wollen.

Meine Hoffnung ist, dass hier eine riesige Chance für Europa besteht. Wir haben eine völlig andere Tradition als die USA – was nicht Abkoppelung bedeutet. Eine Informationsökonomie kann nicht insular sein. Wir können aber, wie ich glaube, wieder ein Markt werden, ein Markt der Informationsökonomie, der andere, auch integrere Systeme anbietet, als sie im Augenblick auf der Welt sind. Wenn in Deutschland 50 Prozent der Router – und das ist die materielle Grundlage der Informationsökonomie – aus Amerika stammen und 50 Prozent aus China, ist das so, als hätten wir im 19. Jahrhundert keine eigenen Flüsse und Wasserleitungen gehabt. Von China wissen wir eigentlich gar nicht, was es mit diesen Routern macht, was da für Dinge drauf sind. Das heisst, hier gibt es wirklich materielle, ökonomische – nicht nur informationsökonomische – Konsequenzen, nämlich die Chance, dass Europa doch noch mal Anschluss findet an diese digitalen Welten der Superklasse, dass es etwas bieten kann, was die anderen nicht bieten: etwas, auf das man sich auch verlassen kann. Und dass wir es damit schliesslich schaffen, die jungen Menschen wieder im Land zu halten. Das wäre eine Versöhnung der Digitalökonomie oder der Informationsökonomie mit der Zukunft, wie ich sie mir vorstellen würde.

 


Europas Potential nutzen!
Marc Beise, Frank Schirrmacher und Peter Sloterdijk diskutieren über hiesige Möglichkeiten, amerikanischen Digitalgiganten die Stirn zu bieten.

 

Marc Beise: Herr Schirrmacher, nachdem Sie einiges über die Bedrohungen von «Big Data» gesagt haben, würde mich interessieren, wie sich diese Sache auf Ihren Alltag auswirkt: Haben Sie im Zuge der Beschäftigung mit diesem Thema Ihre Art zu leben, zu kommunizieren oder sich zu bewegen geändert?

Frank Schirrmacher: Nein, geändert hat sich praktisch gar nichts. Allerdings würde ich nie Google-Mail benutzen oder so etwas. Ich habe einen sicheren Account, den mir der Chaos Computer Club eingerichtet hat. Was ich allerdings gemerkt habe, ist, dass ich mit manchen Leuten beim Telefonieren anfange, in Codes zu reden. Es fallen dann Sätze wie: «Du weisst doch. Der, den wir da oder dort getroffen haben.» Und ohne dass der Name genannt worden wäre, weiss man dann, wer gemeint ist. Das wird aber wohl bald wieder weg sein. Ich glaube, diese ganze Botschaft: «Ändere dein eigenes Verhalten!», die führt zu gar nichts. Das ist nicht der Weg, den wir gehen sollten. Viel besser wäre es, wenn ein so weiches Wort wie «Vertrauen» – soziales Kapital – wieder Karriere machen und gleichzeitig das wieder gestärkt würde, was man früher «Intuition» nannte, das «Bauchgefühl», an das die Menschen in der digitalen Gesellschaft zusehends den Glauben verlieren.

MB: Geglaubt wird demgegenüber ans egoistische Kalkül. Herr Sloterdijk, Sie sind vorhin eingestiegen mit Hegel und seinem Versuch, den Egoismus des Menschen noch eingehegt zu halten, und haben dann vorsichtig formuliert, dass wir uns nun daraus herauswänden. Würden Sie nach Herrn Schirrmachers Vortrag sagen, dass wir uns inzwischen völlig aus dem Gehege rauskatapultiert haben?

Peter Sloterdijk: Ich würde sagen: Wir verlassen ein Debattenterrain, das das 20. Jahrhundert geprägt hat, nämlich die über weite Strecken europäisch-amerikanische Diskussion zwischen dem behavioristischen Menschenbild, das durch die amerikanische empirische Psychologie lanciert worden war, und dem tiefenpsychologischen Menschenbild der Europäer, die den Menschen als ein mehrstöckiges Gebäude beschrieben haben. Das war eine leidenschaftliche Debatte, und der Grundton der europäischen Behaviorismus-Rezeption war Verachtung. Dafür kriegen wir jetzt die Quittung. Denn der Behaviorismus ist siegreich geworden, und zwar – das ist eine interessante Lehre, die ich aus Ihrem Buch gezogen habe, Herr Schirrmacher –, indem er mit der Paranoia der Physiker und Quants gekoppelt wurde, die an amerikanischen Nuklear- und Rüstungsprojekten mitgewirkt haben. In Europa haben wir uns als Opfer empfunden, als Spielmasse der russisch-amerikanischen Konfrontation, und haben Lichterketten gebildet. Damit schafft man aber noch keine Kompetenz; es gibt hier ein europäisches Versäumnis, für das wir einen hohen Preis bezahlen. Es ist ja nicht so, dass der Computer ausschliesslich auf amerikanischem Boden entstanden ist. Konrad Zuse hat für seinen genialen Computer, den er Ende der vierziger Jahre entwickelt hat, nach 20jährigem Prozess vor dem Deutschen Patentamt eine endgültige Ablehnung seines Patentantrages erhalten, mit dem Argument, hier liege ein Produkt von mangelnder Erfindungshöhe vor. Das ist ein Ausdruck, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss! Da blieb die Sache also stehen, und ich begrüsse es sehr, wenn Sie, Herr Schirrmacher, dafür plädieren, europäische Kompetenz auf diesem Gebiet zu rekonstruieren.

MB: Wenn dieser Siegeszug der Amerikaner in der beschriebenen Mischung zwischen militärisch-industriellem Komplex und Paranoia gründet, stellt sich die Frage, ob wir hier überhaupt das Rüstzeug haben, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Für Deutschland
zumindest ist Paranoia heute so untypisch, wie sie es damals war – welche Möglichkeiten haben wir vor diesem Hintergrund in Europa überhaupt?

FS: Da möchte ich gleich zurückfragen, Herr Beise: Warum sind die Ökonomen eigentlich immer so defätistisch? Ich mache die Erfahrung immer wieder – wenn ich in der FAZ am einen Tag von «Visionen» schreibe, kontert die Wirtschaftsredaktion am nächsten Tag mit etwas, das sich liest wie: «Nur Deppen glauben, das ginge noch, der Zug ist längst abgefahren.» Ich habe da gar nichts dagegen, wir sind ja eine liberale Zeitung, aber doch würde ich ganz gerne wissen, weshalb die ganze Welt der Experten derart defätistisch ist. Es spricht ja niemand davon, dass wir über Nacht das Silicon Valley ersetzen sollen. Aber allein die Idee, dass Europa Systeme wie die angedachte «Schengen-Cloud» baut, ist doch erkennbar ein Zukunftsmarkt ohnegleichen!

MB: Ich glaube, es liegt wesentlich daran, dass Ökonomen – wie ich meine, richtigerweise – im Grunde von einem Selbstfindungsrecht des Marktes ausgehen. Mit dem System, das Sie ansprechen, sind Sie natürlich schon dabei, etwas regulieren zu wollen, während die Initiativen doch eigentlich in den Unternehmen entstehen müssen – aber da sagen Sie wohl, das reicht nicht, vermute ich richtig?

FS: Ich sage vor allen Dingen, dass der Markt – das ist doch die Botschaft der Digitalökonomie – im Augenblick nicht funktionsfähig ist. Wir haben Megagiganten, wie es sie in der Weltgeschichte nicht gab, die bereits anfangen, Märkte zu planen – das würde wohl niemand in Europa bestreiten. Was Google beispielsweise in der Art und Weise, wie es expandiert, so ausübt, ist schon nahe an planwirtschaftlichen Modellen. Ich glaube, es ist wahr, was man immer gesagt hat: Internet und Digitalökonomie, so wie sie sich jetzt entwickelt, folgen dem Matthäusprinzip. Das heisst: wer hat, dem wird gegeben; die Grossen werden immer grösser, ja zu richtigen Giganten.

PS: Europa ist eine Wirtschaftseinheit von solcher Grösse – mit über 500 Millionen Mitwirkenden –, dass es sich, egal was alle anderen machen, unter allen Umständen lohnen würde, hier eine eigene Infrastruktur hochzuziehen, um bestimmte Formen schädlicher Abhängigkeit zu minimieren. Aber das setzt voraus, dass man den autogenen Defätismus, den wir Europäer entwickelt haben, aktiv ausschaltet, dass man erkennt, dass bereits stattgefundene Entwicklungen möglicherweise doch noch ein zweites Mal durchgeführt werden können, wenn die politischen und vor allem auch die kulturellen und zivilisatorischen Voraussetzungen dafür sprechen. Und ich bin sicher, dass sie es heute tun. Wenn wir in die USA blicken, sehen wir dort heute erstmals ein zögerndes Land. Immer herrschte in Amerika – auch in der Rede Reagans, die Herr Schirrmacher zitiert hat – dieses phantastische Pathos, für welches unsere amerikanischen Freunde bekannt sind, nämlich diese Fähigkeit, sich selbst zu grossen Projekten zu überreden. Also eine ungeheure autohypnotische Begabung, die die Grundbotschaft übermittelt, ohne welche es die moderne Welt, wie wir sie kennen, gar nicht gäbe: «Es gibt keine Grenzen.» Diese Botschaft entspricht nun aber nicht mehr dem Realitätsgefühl des Jahres 2013. Weder in Europa noch in den USA. Die Menschen haben wieder viel mehr Bewusstsein für die Endlichkeit von Ressourcen zurückgewonnen. Und selbst in den USA bemerkt man seit etwa der Mitte dieser Obama-Regierungszeit einen Zug, der früher in dieser Qualität nicht wahrzunehmen war, nämlich so etwas wie eine kollektive Melancholie. Oder eben ein kollektives Zögern, wenn man es etwas vorsichtiger ausdrückt. Insofern hat sich also gegenüber dieser Reagan-Rede etwas getan, und ich meine, man sollte diese Veränderung als ein zusätzliches Argument begreifen dafür, dass die Europäer sich in diesen wesentlichen, vitalen, technologischen Bereichen auf ihre eigenen Stärken besinnen. Denn es könnte sein, dass man über Nacht sowohl von China her als auch von den USA her plötzlich mit Schwächen konfrontiert wird, auf die wir nicht vorbereitet sind.

FS: Ganz pragmatisch würde ich zum Beispiel dann einfach einmal prüfen wollen, wie eine Kooperation Europas mit Israel aussehen könnte, das ausserhalb Amerikas der Staat mit der grössten digitalen Intelligenz ist und durchaus Interesse an einer Zusammenarbeit haben könnte – wenn wir schon nicht alles alleine auf die Beine stellen können. Ich möchte hier aber doch nochmals Wasser in den Wein giessen. Kürzlich war David Gelernter bei uns in der FAZ. Er ist sozusagen ein Mythos des Internets und hat praktisch dessen Infrastruktur gebaut. Er fragte uns, ob uns eigentlich klar sei, dass Steve Jobs nie etwas erfunden habe im klassischen Sinne, sondern das Beste, was er gemacht habe, aus Deutschland geholt habe, die Bauhausästhetik etwa – und so weiter und so fort. Das heisst: Wir haben hier in Europa sehr gute Informatiker und Energien, die wir endlich entfesseln sollten. Die Unkenrufe, die dahinter Nationalismus zu erkennen glauben, sind völliger Quatsch. Es geht lediglich darum, das Potential zu nutzen, das in diesem Europa steckt. Es geht also darum, zu sagen: Okay, wir werden mitspielen – so wie wir im 20. Jahrhundert in der Automobilindustrie mitgespielt haben.

MB: Der strittige Punkt ist in meinen Augen weniger der Defätismus – es gibt vielleicht schon Leute, die glauben, dass es «eh zu spät» seit, aber vorherrschend ist diese Haltung nicht. Vielmehr zielt die Kritik der Ökonomen auf die planerische Art und Weise, auf welche die Aufholjagd unternommen wird. Eben hat Herr Sloterdijk etwa von einer Infrastruktur gesprochen, die es hochzuziehen gelte. Wenn ich das schon höre, wird mir ganz anders, und ich sehe gewaltige Bürokratien und riesige Administrationen aufziehen: Das können Sie sich doch nicht allen Ernstes als Zukunftsszenario vorstellen wollen?

FS: Wenn schon vom amerikanischen Erfindergeist geredet wird, sollten wir vielleicht nicht vergessen, dass das Silicon Valley ein halbes Jahrhundert lang staatlich – vom Militär vor allem – subventioniert worden ist… Aber natürlich ist das nicht das, was ich will. Die Vorstellung, dass da eine öffentlich-rechtliche Bürokratie entsteht, finde ich auch abschreckend. Ich kann jedoch nur wiederholen, dass es auch nicht in unserem Interesse sein kann, dass wir eine Infrastruktur von dieser Bedeutung – die Router, meine ich zum Beispiel – weder verstehen noch bauen können. Wie also ist das Ruder herumzureissen? Wenn ich mit mittelständischen Unternehmen aus dem IT-Bereich in Kontakt bin, habe ich den Eindruck, dass da wahnsinnig viel Energie drin ist und man die sich nur selber organisieren lassen müsste – und dann schon viel gewinnen könnte.

MB: Da bin ich aber erleichtert: Jetzt habe ich Sie doch dort, wo ich Sie gerne hätte. Alles ist gut!

PS: Ich weiss nicht, ob Sie das auch gehört haben. Es war ja fast ein Leitmotiv in dem Vortrag von Herrn Schirrmacher: Er hat immer wieder gesagt, er glaube nicht, dass irgendeine zentralistische Führung hinter der Entwicklung stehe. Es gibt keinen Demiurgen in der ganzen Angelegenheit. Es scheint aber doch so zu sein, dass es hier – gerade in Abwesenheit einer Zentralplanung – einen riesigen Unterschied macht, ob man bestimmte Entwicklungen begünstigt oder sie durch einen endogenen Defätismus von vorn­herein für sinnlos erklärt.

MB: Ich war tatsächlich angenehm überrascht, das zu hören, denn bisher hielt ich Herrn Schirrmacher für einen Verschwörungstheoretiker!

FS: Ich glaube nicht an eine Verschwörung, das ist ein völliges Missverständnis. Was ich glaube, ist, dass die Systematik der beschriebenen, aus dem Denken des Kalten Kriegs entstandenen Risikoeinpreisungssysteme verschwörerisch ist. Die Systeme gehen von der Prämisse aus, dass jeder etwas zu verbergen hat. Das hat mit dem Modell zu tun, das in allen Transaktionen des digitalen Zeitalters programmiert ist: der Algorithmus, den John Forbes Nash – bekannt durch den Film «Beautiful Mind» – gebaut hat. Dieser Algorithmus geht davon aus, dass jeder Mensch immer nur seinen eigenen Vorteil sucht und wir uns alle dauernd gegenseitig austricksen; er unterstellt also, dass unsere Gegenüber keine kooperativen Wesen sind und um uns herum permanent reines Misstrauen herrscht. Mathematisch formalisiert findet sich diese Grundannahme heute in all unseren digitalen Systemen.

PS: Diese Rationalitätsformen, die durch die neuen Codes dargestellt werden, haben ja einen interessanten Nebeneffekt: Sie rechnen sozusagen die gute Hälfte des Menschen weg. Das heisst, es wird menschliche Ambivalenz aus der Welt einfach hinausgerechnet, indem man ständig mit der Unterstellung der dunkelsten, der negativsten, der schädlichsten Motivation arbeitet. Ich weiss nicht, was aus dieser ganzen Algorithmik würde, wenn man einmal die anthropologische Ambivalenz in diese Kalküle hineinbrächte – vielleicht wird das mal ein Beitrag der europäischen Kommunikationskultur zur weiteren zivilisatorischen Entwicklung. Vielleicht werden wir eines Tages Algorithmen haben, die imstande sind, den guten Menschen wenigstens zur Hälfte mit darzustellen beziehungsweise auch die positive Irrationalität zu berücksichtigen: die Grosszügigkeit etwa. Meine träumerische Anfrage an die technische Entwicklung wäre also, ob wir nicht auch Codes entwickeln können, in denen wir den Menschen etwas mehr so darstellen, wie wir ihn kennen: nämlich an manchen Tagen eigentlich fast unverschämt freundlich, nicht wahr?

FS: Zwar ist man dabei, sogenannte «Maschinen des Vertrauens» zu bauen, aber der Weg dorthin ist wohl noch lang. Wir könnten aber zumindest etwas anbieten, was diesen verschwörerischen Grundcharakterzug nicht hat. Facebook etwa, dieses Unternehmen, das alles über uns weiss, das über unsere Kinder analysiert, wer mit wem befreundet ist, damit es jenem, der das passendste Freundesnetzwerk hat, dann ein Produkt zur Weiterempfehlung andrehen kann – dieses Unternehmen ist das intransparenteste, verschwörungstheoretischste Unternehmen, das es gibt: Vom Wirtschaftsminister bis zu den Journalisten lässt es alle aussen vor, und sein Chefprogrammierer ist jüngst von der NSA abgeworben worden… Bei uns wäre das anders, das sind alles Parameter, denen wir etwas entgegensetzen könnten.

PS: Ich komme nochmals auf die Verschwörungsinstanz zurück, weil ich glaube, dass man auf der Linie der Paranoia noch ein bisschen weiterdenken muss. Wir haben einen Kollegen in Karlsruhe, Heiner Mühlmann, der eine sehr interessante, naturwissenschaftlich fundierte, vom Stressbegriff her abgeleitete Kulturtheorie entwickelt hat, wonach Kulturen stressverarbeitende Systeme sind und die Kulturen, die Kooperation unter Höchststress am besten bewältigen, diejenigen sind, die die längste Entwicklungskurve aufzuweisen haben. Herr Mühlmann sagt, wir müssten auch in der Geisteswissenschaft so paranoid denken wie unsere Partner. Und er geht zum Beispiel von der Hypothese aus, die die meisten Wirtschaftswissenschafter natürlich sofort für Unsinn erklären, dass die Amerikaner seit langer Zeit einen systematischen Wirtschaftskrieg gegen Europa führen. Also da haben wir einen Ansatz, der nun auf der anderen Seite doch eine ziemlich starke Agentur unterstellt. In der Perspektive des Wirtschaftskriegstheoretikers ist alles, was geschieht, ein Schachzug auf einem neuen grossen Chess Board. Es mag sein, dass da nicht ein einzelner Zentralschachspieler sitzt. Aber einzelne Züge auf diesem Schachbrett werden gemacht. Und ich denke, es könnte vernünftig sein, in diesem Punkt ein bisschen paranoischer zu denken.

MB: Wenn wir jetzt doch wieder bei der Verschwörungstheorie landen, fallen wir schon wieder hinter den Konsens zurück, den wir zuvor erzielt hatten. Ich glaube, die Frage, ob da jetzt ein oder mehrere Schachspieler sitzen oder ob es – wie ich glaube – einfach eine Vielzahl von Entwicklungen gibt, die zu bestimmten Ergebnissen führen, ist für den Befund und das Thema letztlich unerheblich.

PS: Auch wenn es sich um kein gänzlich durchorganisiertes Team handelt: Die Formulierung «Vielzahl von Entwicklungen» ist zu harmlos. Denn dieses Institutionengeflecht von Pentagon und NSA und noch drei oder fünf anderen Geheimdiensten und Institutionen, von denen jede ihre eigene paranoische Intensität hat, kann man mit diesem Begriff nicht erfassen. Obschon ein chaotisches, ist es letztens doch eine Art Team mit einem instinktiven Teamgeist, der in die gleiche Richtung wirkt.

FS: Das ist ja übrigens auch sehr gut dokumentiert. Ich würde aber insgesamt gar nicht zu sehr unterscheiden, wer da nun Paranoia hat und wer nicht. Diese paranoiden Systeme, diese Misstrauenssysteme – ich sage jetzt nur einfach mal: Flughafenscreenings – sind Bestandteil unserer Welt. Das ist zweifellos. Nur darf man dar­aus nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen und vor dem Misstrauen kapitulieren.

Redaktion: Claudia Mäder


Der Vortrag von Frank Schirrmacher zum Thema «Der Geist in der Maschine – Digitale Intelligenz und die Ökonomie des Geistes» und die daran anschliessende Podiumsdiskussion sind Teil einer exklusiven Veranstaltungsreihe, die das Institut Ökonomie der Zukunft mit Sitz in Karlsruhe durchführt. Wissenschaftlicher Leiter ist Peter Sloterdijk. Gastgeber der Veranstaltungen ist die UBS Deutschland AG mit Sitz in Frankfurt am Main. Die Mitschrift der Vorträge und der Diskussion erscheint hier erstmals und exklusiv.

 

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!