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Glück gehabt!

Erfolg hat immer auch mit Zufall zu tun. Wer das weiss, ist ein zufriedenerer Mensch.

Glück gehabt!
Bild: fotolia.

Wie wichtig ist Zufall? An kaum einer Frage scheiden sich in den USA konservative von liberalen Geistern so sehr wie an dieser. Wie die Konservativen richtig bemerken, sind Menschen, denen es gelingt, grosse Vermögen anzuhäufen, fast immer überaus talentiert und arbeitsam. Aber, geben die Liberalen zurück – und ebenfalls zu Recht –, ungezählte andere Menschen haben dieselben Qualitäten und schaffen es dennoch nicht nach oben.

In jüngster Zeit haben Soziologen herausgefunden, dass der Zufall eine weit grössere Rolle beim Erreichen wichtiger Lebensziele spielt, als man bisher annahm. Ich gehe in meinem neuen Buch «Success and Luck» dieser faszinierenden und oft verblüffenden Erkenntnis nach, um der wahren Bedeutung des Glücks – im Sinne von Fortüne – in unserem Leben näherzukommen.

Der Untertitel des Buches lautet «Good Fortune and the Myth of Meritocracy». Ich habe zunächst gezögert, ob ich ihn wählen soll. Schliesslich schreibe ich seit langem, dass die Märkte in den meisten entwickelten Ländern heute meritokratischer sind als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Doch ich habe mich letztlich dafür entschieden. Nicht aus Sorge darum, dass Vetternwirtschaft und Standesprivilegien möglicherweise weiter bestehen. (Kein System, wenn man es einmal realistisch betrachtet, kann je vollkommen meritokratisch sein.) Sondern vielmehr, weil ich glaube, dass die Erzählung von der Meritokratie enormen Schaden angerichtet hat.

 

Als Satire gedacht

Der Begriff selbst wurde 1958 durch den britischen Soziologen (und späteren Lord) Michael Young geprägt, in einer ätzenden Satire auf das britische Bildungssystem. In «The Rise of the Meritocracy» warnte er davor, Menschen dazu zu ermuntern, sich ihre Erfolge selbsterhöhend lediglich als eigene Verdienste zuzuschreiben. 2001 griff er in einer Kolumne auf sein Buch zurück. Der richtige Entscheid, Posten aufgrund von Verdiensten zu vergeben, verliere seinen Sinn, «wenn diejenigen, denen man bestimmte Verdienste zuschreibt, sich zu einer neuen Schicht verhärten, in der es keinen Platz für andere gibt». Es verdross Young, dass seine damals abschätzig gemeinte Wortschöpfung im Handumdrehen die Qualität eines Lobes angenommen hatte.

In Gesellschaften, in denen ein meritokratischer Individualismus hochgehalten wird, ist es nahezu eine Beleidigung, einem Spitzenverdiener zu sagen, er habe doch wohl auch ein bisschen Glück gehabt. Er würde das so verstehen, als habe er in seiner Position nichts verloren, als sei er nicht, wer er zu sein glaubt. Die Rede von der Meritokratie scheint verdrängt zu haben, wie stark Erfolg und Scheitern oft von Ereignissen abhängen, die sich gänzlich ausserhalb der Kontrolle des einzelnen befinden. Darum geht es hier. Wer das weiss, wird, wie der Bestsellerautor Michael Lewis einst sagte, ein zufriedenerer und möglicherweise gar wohlhabenderer Mensch. Er wird wohl ausserdem eher Investitionen in jene Rahmenbedingungen befürworten, die seinen Erfolg einst möglich machten.

 

«Das war absurd»

Lewis beschrieb in einer Rede vor Studenten der Universität von Princeton 2012 die unwahrscheinliche Ereigniskette, die dazu beigetragen hatte, ihn zu einem reichen und berühmten Autor zu machen:

«Eines Abends sass ich bei einem Abendessen neben eine Dame, deren Mann ein hohes Tier bei einer riesigen Wall-Street-Investmentbank namens Salomon Brothers war. Die Dame zwang ihn mehr oder weniger, mir einen Job zu geben. Ich wusste so gut wie nichts über Salomon Brothers. Wie sich herausstellte, wurde bei Salomon Brothers gerade die Wall Street neu erfunden – als jener Ort, den wir seither kennen und lieben gelernt haben. Als ich dort ankam, gab man mir recht beliebig einen Job, der sich als perfekter Beobachtungsposten erwies, um den sich ausbreitenden Wahnsinn zu beobachten: Sie machten mich zum Hausexperten für Derivate. Anderthalb Jahre später bezahlte mir Salomon Brothers Hunderttausende Dollar, damit ich Investmentbanker zu Derivaten beriet.»

Auf Basis seiner Erfahrungen bei Salomon Brothers schrieb Lewis anschliessend seinen Bestseller, mit dem 1989 sein Aufstieg als Schriftsteller begann. Darin beschreibt er, wie die Wall Street mit ihren neuartigen Finanzprodukten die Welt veränderte:

«Mein Buch hiess ‹Liar’s Poker›. Es wurde 1 Million Mal verkauft. Ich war 28 Jahre alt. Ich war voller Zuversicht, ein bisschen berühmt, ein bisschen reich und mein Leben hatte ein neues Narrativ. Plötzlich sagten mir die Leute, ich sei zum Schriftsteller geboren. Das war absurd. Selbst ich konnte erkennen, dass dahinter ein anderes, realistischeres Narrativ lag, dessen Thema der Zufall war. Wie unwahrscheinlich war es, bei jenem Abendessen neben der Dame mit dem einflussreichen Gatten zu sitzen? Bei der besten Wall-Street-Firma zu landen, um von dort die Geschichte einer Ära zu schreiben? Genau auf dem Platz mit dem besten Blick auf das Geschäft zu sitzen? Eltern zu haben, die mich nicht enterbten, sondern einmal kurz seufzten und sagten: ‹Tu, was du nicht lassen kannst›? Jemanden wie meinen Kunstgeschichteprofessor in Princeton getroffen zu haben, der einen besonderen Antrieb in mir geweckt hatte? Überhaupt: in Princeton angenommen zu werden?

Das soll nicht einfach falsche Bescheidenheit sein. Vielmehr falsche Bescheidenheit mit einer Botschaft. Meine Geschichte zeigt, wie sehr Erfolg rationalisiert wird. Die Leute mögen es nicht, wenn man Erfolg mit Zufallsfaktoren erklärt – am wenigsten erfolgreiche Leute. Je älter sie werden und je mehr Erfolg sie haben, desto stärker glauben sie daran, dass das alles irgendwie passieren musste. Sie weigern sich, die Rolle des Zufalls in ihrem Leben anzuerkennen.»

 

Der Extra-Keks

Michael Lewis schloss mit der Beschreibung eines Experiments, das Psychologen an der University of California in Berkeley durchgeführt hatten: Die Forscher teilten freiwillige Studienteilnehmer in gleichgeschlechtliche Gruppen von je drei Personen ein und konfrontierten diese mit einem komplexen moralischen Problem, etwa mit Betrug bei einer Prüfung. Nach dem Zufallsprinzip bestimmten sie aus jeder Gruppe einen Teilnehmer als Anführer. Nachdem die Gruppen 30 Minuten lang überlegt hatten, kam ein Wissenschafter ins Zimmer und brachte einen Teller mit vier Keksen für die Gruppenmitglieder.

Wer den Extra-Keks ass? In jedem Fall der Anführer, obwohl der, wie Lewis bemerkt, «keine besonderen Qualitäten besass. Er war per Zufall ausgewählt worden, vor gerade einmal 30 Minuten. Seinen Status verdankte er purem Glück. Trotzdem gab er ihm das Gefühl, der Keks stehe ihm zu.»

Lewis erklärte den Studenten:

«In einem ziemlich allgemeinen Sinne seid auch ihr zu Anführern bestimmt. Die Zuweisung mag nicht ganz und gar zufällig gewesen sein. Dennoch müsst ihr euch des Zufallsaspekts bewusst sein: Ihr seid die glücklichen wenigen – glücklich hinsichtlich eurer Eltern, glücklich hinsichtlich eures Heimatlandes, glücklich, dass es einen Ort wie Princeton gibt, wo begünstigte Menschen andere begünstigte Menschen treffen und so ihre Chancen erhöhen können, noch privilegierter zu werden; glücklich, dass ihr einen Wohlstand geniessen dürft, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat; in einer Zeit, da niemand von euch erwartet, dass ihr eure Interessen irgendeiner Sache opfert.

Jeder von euch hat schon einmal den Extra-Keks vor der Nase gehabt. Jeder von euch wird ihn noch viele Male vor der Nase haben. Mit der Zeit wird sich euch die Annahme aufdrängen, dass er euch zusteht. Womöglich tut er das auch. Ihr werdet aber zufriedener sein und die Welt wird eine bessere sein, wenn ihr wenigstens vorgebt, es nicht zu glauben.»

Natürlich gibt es viele Leute, die bereitwillig den Beitrag des Zufalls zu ihrem Erfolg eingestehen. Diese Leute, so zeigt sich, befürworten mit grösserer Wahrscheinlichkeit Investitionen in jene Rahmenbedingungen, denen sie ihren Erfolg verdanken. Sie sind substanziell zufriedener als andere, wie Lewis das vermutet hat. Und aufgrund ihrer Haltung der Dankbarkeit scheinen sie zusätzlichen materiellen Wohlstand anzuziehen. Andere arbeiten lieber mit solchen Menschen zusammen. Erstens, weil zufriedene Menschen einfach angenehmere Kollegen sind. Zweitens, weil wir ihnen zutrauen, im Zweifelsfall Teaminteressen vor ihre eigenen Interessen zu stellen. Ehrgeiz ist eine positive Eigenschaft, aber in Massen.

Die Thesen, die ich in meinem Buch aufstelle, sind durchaus gewagt – dass nämlich erfolgreiche Menschen dazu neigen, die Rolle des Zufalls hinsichtlich ihres Erfolgs zu unterschätzen. Dadurch widerstrebt es ihnen, jene Art staatlicher Investitionen zu unterstützen, die es braucht, um die Erfolgschancen aller zu erhöhen, und zu erkennen, dass wir mit recht simplen und unaufdringlichen politischen Massnahmen mehr als genug Ressourcen freisetzen können, um jene Investitionslücke zu schliessen.

Die Argumente, mit denen ich diese Behauptungen untermauere, sind nicht sehr kompliziert, und keine der Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, ist strittig. Meine grösste Hoffnung ist es, dass meine Argumente beim Leser Anklang finden und dass er sie eifrig mit anderen diskutiert.


Robert H. Frank
ist Ökonom, Professor an der Cornell University und Kolumnist für die «New York Times». Sein Buch «The Winner-Take-All-Society» über Turniersituationen im Arbeitsmarkt gilt als ökonomisches Standardwerk.


Der vorliegende Essay ist ein noch nie erschienener Auszug aus Franks neuem Buch «Success and Luck – Good Fortune and the Myth of Meritocracy», das soeben bei Princeton University Press publiziert wurde. Der Text wurde speziell für den «Schweizer Monat» angepasst.

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