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Geteilte Freiheit

Der liberale Besitzindividualismus hat wenig Sinn für soziale Tatsachen. Gruppen, Kollektive oder Institutionen sind ihm fremd und suspekt. Er huldigt der Einzelperson, ihr gilt seine ganze Sorge. Jedes Individuum sei Eigentümer seiner selbst und seiner Fähigkeiten, lautet sein Credo. Dafür schulde es anderen nichts. Die Gesellschaft sei lediglich ein Forum für Tausch und Verträge, und […]

Der liberale Besitzindividualismus hat wenig Sinn für soziale Tatsachen. Gruppen, Kollektive oder Institutionen sind ihm fremd und suspekt. Er huldigt der Einzelperson, ihr gilt seine ganze Sorge. Jedes Individuum sei Eigentümer seiner selbst und seiner Fähigkeiten, lautet sein Credo. Dafür schulde es anderen nichts. Die Gesellschaft sei lediglich ein Forum für Tausch und Verträge, und das Politische diene nur dazu, das Eigentum des einzelnen zu schützen und ihm den Marktzugang zu sichern. Gesellschaft widerfahre dem heiligen Individuum meist als Gefahr, als unsicheres Terrain von Rivalität, Konkurrenz, Unterdrückung. In jeder Mehrzahl lauere die Tyrannei der Mehrheit, jedes Kollektiv berge eine Keimzelle des Totalitarismus. Die Freiheit des einen ende stets dort, wo jene des anderen beginne. Freiheit sei persönliche Freiheit, nichts sonst.

Diese Ideologie zeichnet nicht nur ein Zerrbild der Realität, sie verkennt die Natur sozialer Gegenmacht und ignoriert die Geschichte der Freiheit. Man erinnere sich: zuerst musste die Freiheit gegen die Hegemonie einer Kirche erkämpft werden, die jegliches Denken und Handeln zu diktieren suchte. Sodann erhob sie sich gegen die absolute Monarchie und ersetzte den König durch eine Republik. Dann trat sie gegen die Sklaverei an, die Kaufsklaverei auf den Plantagen und die Lohnsklaverei in den Manufakturen, Fabriken, Arbeitshäusern. Später wandte sich die Freiheit gegen die Kolonialherren und die Okkupateure der Nation, gegen die Knuten des Rassismus und des Patriarchats. Schliesslich hatte die Freiheit dem grössten Widersacher zu trotzen, der totalitären Herrschaft, die sich fast alle Lebensbereiche zu unterwerfen suchte. Nie war die Freiheit unangefochten, sie musste erkämpft, gehalten, verteidigt werden, nicht zuletzt gegen alle Kräfte, die vorgaben, mit sichtbaren oder unsichtbaren Händen das gemeine Wohl zu garantieren oder einen gemeinsamen Willen zu verkörpern.

Der Streit wider die Macht war nie abgeschlossen. Tagtäglich waren Attacken zu parieren und Invasionen zu blockieren. Nicht wenige Menschen verloren für die Freiheit ihre Gesundheit oder ihr Leben. Viele hatten keine gewählten Worte zur Verfügung, um exakt zu beschreiben, wofür sie kämpften. Aber sie wussten, worum es ihnen ging: um freie Gedanken und freie Bewegung, um klare Luft, um Freiheit von Elend, Hunger, Krieg, von Ausbeutung, Knechtschaft, Demütigung und Abhängigkeit. Manchmal war ein Feldzug siegreich, manchmal nicht. Aber wäre Freiheit jemals nur die private Angelegenheit des begüterten Bürgers gewesen, hätte die Idee niemals materielle Kraft erlangt. Es waren Gruppen, Kollektive, Massen, welche die Fahnen der Freiheit schwenkten, Häretiker, Reformisten und Revolutionäre, Assoziationen freier Köpfe und Hände. Für sie begann die Freiheit dort, wo auch die ihrer Gefährten begann.

Geteilte Freiheit ist nicht halbe Freiheit, sondern doppelte, vielfache Freiheit. In Fragen der Freiheit ist Geiz töricht und Verschwendung klug. Wer Freiheit zum individuellen Besitztum herabwürdigt, verwechselt sie mit einem Objekt privaten Tauschs. In Wahrheit ist Freiheit eine öffentliche Sache, bei der niemand verliert, was ein anderer gewinnt. Nur die freie Republik sichert die Freiheit und Privatheit des Individuums. Ohne die Freiheit des Kollektivs keine persönliche Freiheit. Despotien mögen den individuellen Erwerbseifer fördern, aber die Gefängnisse sind voll.

Nur Gruppen sind imstande, die gesellschaftliche Abhängigkeit zu mindern, auf der Macht und Zwang beruhen. In Abhängigkeit zu leben bedeutet tiefste Unfreiheit. Der Abhängige hat keine Wahl. Abhängigkeit zerstört nicht nur die Bedingungen der Freiheit, sondern die Freiheit selbst. Das Strukturprinzip der Gruppe ist nicht Konkurrenz, sondern Kooperation. Aus Zusammenarbeit erwächst der Widerstand gegen die Abhängigkeit, sie öffnet eine Alternative. Für das Schicksal der Freiheit ist die freie Assoziation unerlässlich. Noch im Konflikt nimmt sie vorweg, was sie zu erstreiten sucht. Freiheit findet das Individuum nicht gegen die anderen, sondern inmitten ihrer Gesellschaft.

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