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Gefangen in der Bastille

Frankreich sucht Grösse im Erbe und kramt in der Krise seine alte Revolution hervor. Freiheit, wusste Albert Camus, sähe anders aus. Wie hellsichtig der Literat die Heilsversprechen der Geschichte und ihrer Revolutionen entlarvte, zeigt die Biographie von Martin Meyer.

Je tiefer Frankreichs Kopf im Sand steckt, desto sicherer sitzt eine rote Mütze drauf. Sich in der Geschichte zu vergraben, mag keine singulär französische Eigenart sein, zu überbieten ist die «Grande Nation» im Feiern der eigenen Vergangenheit aber schwerlich. Frankreich ist seit je ausnehmend geschichtsbewusst; seit es aber als abgehalfterte Weltmacht gelten darf, ist das Land umso stärker darauf bedacht, seine Misere mit alter Glorie zu überblenden: Hüben wie drüben ziehen französische Politiker bewehrt mit Bastillen, Kokarden und anderen revolutionären Versatzstücken in den Wahlkampf – um nach geschlagener Schlacht eine verkrustete Nation zu verwalten.

Man möchte den Franzosen in dieser Situation empfehlen, ihren historischen Fundus nach unverstaubteren Perlen zu durchsuchen und die Bücher von Albert Camus hervorzunehmen: Kaum ein Autor hat auf ähnlich stringente Weise darauf gedrängt, der Gegenwärtigkeit ins Auge zu blicken, anstatt sich von den Sirenengesängen der Geschichte und ihrer selbsternannten Meister verführen zu lassen. Wohl, so Camus’ Credo, erkennt die Sinnlosigkeit der Welt, wer offenen Auges und ohne Ausflucht in historische Hoffnungen vor ihr steht. Doch birgt dieser unverstellte Blick zugleich das Glück, die zufällige Existenz im Hier und Jetzt selbstbestimmt gestalten und also «die Freiheit leben» zu können.

Unter ebendiesem Titel ist in der Biographie, die Martin Meyer zum 100. Geburtstag von Albert Camus verfasst hat, die stupende philosophische Kohärenz eines Gesamtwerks zu entdecken, das in den meisten aus Gymnasialzeiten bestückten Bücherregalen durch einzelne Bände und in den zugehörigen Köpfen mit einigen Schlagworten vertreten ist. «Heiligt der Zweck die Mittel?», fragt etwa eine Randnotiz in meiner Ausgabe von «Les Justes», dem Drama, in dem eine Gruppe russischer Revolutionäre die Welt mit Bomben zu verbessern hofft. Auch wer die «richtige» Antwort noch aus der Schule kennt, dürfte dank Meyer Neues lernen: Mit präzisen philosophiegeschichtlichen Einbettungen führt er die Leser durch Camus’ Werk und macht dabei die gedanklichen Zusammenhänge zwischen Texten verschiedenster Gattung deutlich. Zu den zentralen Einsichten gehört so etwa, dass hinter der Schlüsselfrage der «Justes» eine für das revolutionsverliebte Frankreich geradezu revolutionäre Revolutionsphilosophie stand.

Auf erschreckende Weise haben schon Camus’ Zeitgenossen die Augen verschlossen und Revolutionsromantik betrieben: Für Sowjetgreuel waren die meisten der intellektuell tonangebenden Kommunisten blind. In dieses geistige Klima brach 1951 Camus’ Essay «L’homme révolté» ein, der den Schleier der Ideologie zerriss – und zwar auch mit Fundamentalkritik am französischen Gründungsmythos. Das Mehrhundertseitenwerk entwarf die «Revolte» als menschliches Grundprinzip: Im Protest gegen die Zumutungen der Welt bekräftigten die Menschen nach Camus ihre gemeinsame Natur. Die «Revolution» aber, deren erstes Erscheinen er auf 1793 und damit auf die Einsetzung des allmächtigen Menschen respektive Jakobiners nach der Ermordung des Königs datierte, entlarvte er als Verleugnung dieser Basis: Indem sie antrete, Welt und Menschen nach absolut gesetzten Ideen zu formen und zu deren Durchsetzung vor nichts zurückschrecke, lösche sie die lebensbejahende Revolte in Tod und Terror aus. Präfiguriert im Jakobinismus, sei die anmassende Masslosigkeit dieser revolutionären Haltung in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zur Vollendung gelangt.

Camus war zwar nicht der erste, der totalitäre Gewaltsysteme in Relation zur Revolution setzte, mit Blick auf die Reputation seiner Vorredner – die Jakobiner zu Vorläufern totalitärer Parteien stilisiert hatte in der Vorkriegszeit etwa der Faschist Pierre Drieu La Rochelle – jedoch der erste, der aus keiner zweifelhaften Ecke stammte, sondern einst als «links» gegolten hatte. Das zermürbende Zerwürfnis mit der Pariser Intelligenz rund um Jean-Paul Sartre, das auf die Publikation folgte, dokumentiert Meyer in seinem Buch ebenso detailliert, wie er die Genese des «Homme révolté» vor dem (werk)biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund erklärt. Massen von Franzismen derangieren zwar zuweilen das Lektüreplaisir, doch lohnt jede Mühe, was mit Hilfe dieses «Lektürekompasses» in unzähligen Verästelungen zu entdecken ist: ein radikal menschenliebendes Universum.

Claudia Mäder ist promovierte Historikerin und Redaktorin dieser Zeitschrift.

 


Martin Meyer: Albert Camus. Die Freiheit leben. München: Hanser, 2013.

 

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