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Entscheidungsfreiheit

Entscheidungen sind wenig beliebt. Sie kommen vielen Menschen ungelegen, denn sie verändern etwas. Entschlüsse setzenneue Tatsachen, neue Verbindlichkeiten. Zwar ruft alle Welt nach Entscheidungen, doch ist das Prinzip der Dezision seit langem in Verruf. Stets haftet dem Entschluss der Geruch der Willkür an. Dies widerspricht der Sehnsucht nach Harmonie, Kompromiss und Konsens. Doch wenn alle […]

Entscheidungen sind wenig beliebt. Sie kommen vielen Menschen ungelegen, denn sie verändern etwas. Entschlüsse setzenneue Tatsachen, neue Verbindlichkeiten. Zwar ruft alle Welt nach Entscheidungen, doch ist das Prinzip der Dezision seit langem in Verruf. Stets haftet dem Entschluss der Geruch der Willkür an. Dies widerspricht der Sehnsucht nach Harmonie, Kompromiss und Konsens. Doch wenn alle einverstanden sind, ist mit Sicherheit gar kein Beschluss getroffen worden. Wer Verantwortung fürchtet, plädiert für Einvernehmen. Lieber schleift er die Alternativen bis zur Unkenntlichkeit ab, anstatt einen strittigen Entschluss durchzusetzen. Lieber vernichtet er die Freiheit, anstatt sie zu nutzen. Mit Demokratie ist diese Verzagtheit nicht zu verwechseln.
Volksherrschaft heisst nicht Einmütigkeit, sondern Mehrheit in aller Namen. In der freien Republik, in der das Volk sich tatsächlich selbst regiert, ist gegen die geregelte Willkür der Entscheidung nichts zu sagen.
Ohne Freiheit keine Entscheidung. Wo es keine Wahl und keine Alternativen gibt, ist nichts zu entscheiden. Die Kosten mögen gelegentlich hoch sein, doch solange man eine Handlung unterlassen oder etwas anderes tun kann, ist auch etwas zu entscheiden.
Viele lassen die Gelegenheit verstreichen und machen von ihrer Freiheit keinen Gebrauch, bis sie sich am Ende die Augen reiben, weil ihnen die Freiheit abhandengekommen ist und andere an ihrer Stelle entschieden haben.
Freiheit bedarf nämlich der Entscheidung. Der Moment der Dezision ist der Augenblick der Freiheit. Die Entscheidung wird getroffen, blitzartig, endgültig. Es ist wie das Fällen eines Urteils: ja oder nein, rechts oder links, oben oder unten. Endlos hat die Debatte gewährt, jeder Gesichtspunkt wurde tausendfach bedacht, doch nun durchschlägt der Beschluss den wirren Knoten der Meinungen. Er legt fest, was hinfort gilt. Die Entscheidung bringt das Gerede zum Schweigen und vollbringt eine Tat.
Alles andere ist plötzlich nichtig. Diese negative Kraft verleiht der Dezision besonderen Wert. Sie bedarf der Freiheit, aber sie befreit auch von lähmender Untätigkeit und bleierner Unentschlossenheit.
Zugleich aber vernichtet die Entscheidung Alternativen. Sie setzt neue Verbindlichkeit. Eine Dezision ist unumkehrbar. Könnte man sie sogleich korrigieren, wäre sie keine Entscheidung.
Beschlüsse verpflichten auf künftiges Verhalten. Mit Bestimmtheit sagen sie, was getan werden soll. Damit stellen sie sich gegen die Vergangenheit. Wer alles beim Alten lassen will, bekämpft Entscheidungen. Er übt sich im Verzögern und Vertagen.
Aber die Vermeidung der Dezision ist nichts anderes als die Negation der Zukunft. Der Untätige erwartet nichts, erhofft nichts, wünscht nichts, was nicht schon der Fall wäre. Er hat gar keine Zukunft.
Die Entscheidung hingegen rettet die Zukunft. Sie setzt eine Zäsur zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Macht der Geschichte wird gebrochen. Morgen soll es anders sein. Mit jedem Entschluss, der den Namen verdient, beginnt eine neue Geschichte. Schon dies verursacht Unruhe und Unmut. Die Entscheidung vergeht sich am Konservativismus des Alltags. Sie lässt nicht, was ist.
Dezisionen sagen, dass nichts so sein muss, wie es ist, ja dass auch früher, hätte man sich seiner Freiheit besonnen, nichts so hätte sein müssen, wie es war. Indem sie sich dem blinden Lauf der Geschichte widersetzen, revidieren Entscheidungen das Bild, das die Menschen von ihrer Vergangenheit und von sich selbst haben. Was war, wird nicht mehr hingenommen. Obwohl sie die offene Zukunft zeitweilig schliesst, befreit die Entscheidung von dem Gefühl, was einmal war, müsse auch künftig so sein.
Entscheidungen zeigen, was alles zur Disposition gestellt werden kann, wie viel Freiheit tatsächlich existiert, sobald man sie wirklich gebraucht.
Es liegt in der Natur der offenen Zukunft, dass man nicht alles wissen kann. Unkenntnis ist für Entscheidungen unabdingbar. Wäre die Zukunft bekannt, gäbe es gar keine Alternativen, zwischen denen man wählen könnte. Nur Nichtwissen ermöglicht Entscheidungen. Weil wir die Zukunft nicht kennen können, sind freie Dezisionen möglich – und notwendig.

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