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«Doktor der Sehnsucht»

Urs Widmer war eine poetische Stimme seiner und unserer Zeit. Zum Tode eines Meisters der gegenwärtigen Literaturszene.

«Doktor der Sehnsucht»
Urs Widmer (Photo: wikipedia.de)

Urs Widmer, geboren am 21. Mai 1938 in Basel, also fast genau am ersten Geburtstag von Peter von Matt, verstorben nach schwerer Krankheit in Zürich am 2. April 2014, dem 100. Todestag von Nobelpreisträger Paul Heyse, wurde von Marcel-Reich Ranicki einst als «Weltliterat» bezeichnet.

Urs Widmer war ein hervorragender Literat, ursprünglich Lektor im Oltner Walter-Verlag, später bei Suhrkamp in Frankfurt, auch ein ausgezeichneter Übersetzer. Wenn ich Peter Bichsels Würdigung zum Tode seines Freundes richtig verstanden habe, war – nebst dem dramatischen Meisterstück «Top Dogs» – Widmers Übersetzung von Joseph Conrads «Heart of Darkness» ein massgebendes Werk heutiger Literatur, nach Einschätzung Bichsels mit dem Titel «Das Herz der Finsternis» eindrucksvoller als das Original. Ein unerwartetes und ehrliches Kompliment an den Übersetzer. Ist doch ein vergleichbarer Roman wie der genannte in der Schweizer Literatur in den letzten 50 Jahren – ausser vielleicht Frischs «Gantenbein» und Hermann Burgers «Schilten» – nicht erschienen.

Widmers Erfolgsbuch «Der Geliebte der Mutter» lebte von den Anspielungen an den Dirigenten und Milliardär Paul Sacher, auch vom Gerücht, dass der Autor dessen Sohn sei, was aber nicht stimmte. Die autobiographische Trilogie – mit dem genannten Werk noch «Das Buch des Vaters» und «Ein Leben als Zwerg» – beherrschte zu ihrer Zeit die deutschschweizerische Literaturszene, um 2013 vom vielleicht gültigsten Werk des Autors, seiner Autobiographie «Reise an den Rand des Universums» abgelöst zu werden. Spittelers Mahnung, nur einen einzigen Roman zu schreiben, nämlich seinen eigenen, kam in diesem Sinn kurz vor Widmers Hinschied zur Realisierung.

Privilegierter Bürger

Die Bedeutung Urs Widmers im Vergleich zu ähnlich talentierten Kolleginnen und Kollegen wie Helen Meier, Erica Pedretti, Peter Bichsel, Hugo Loetscher, Jürg Federspiel, E.Y. Meyer, Hansjörg Schneider oder Urs Faes liegt nicht zuletzt in der Repräsentation des gehobenen  Bürgertums. Wie wenigen ist es ihm gelungen, die Chancen, aus einem bildungsmässig bevorzugten Elternhaus – sein Vater war ein hervorragender Gymnasiallehrer – und einem privilegierten Umfeld zu entstammen, nicht nur im Sinne besserer Beziehungen genutzt zu haben. Er war wohl – nebst Loetscher – der professionellste Autor unter den genannten. Loetscher, Schneider, Faes entstammten durchwegs dem Proletariat oder dem unteren Mittelstand, wohingegen Widmer von Familie und Schule – sein Deutschlehrer war der «Fährmanngeschichten»-Autor Rudolf Graber – wie einst Heyse oder Thomas Mann zu den vergleichsweise Privilegierten gehörte. Und wie Heyse konnte Urs Widmer, ohne sich wie dieser als Dichterfürst aufzuführen, mit jeder Textsorte, die er anpackte, etwas literarisch Hochstehendes, nie nur Mittelmässiges machen. Vielleicht weil er nie unter sein Niveau ging, schlug auch der Blitz des Genies nur zeilenweise ein, am dichtesten vielleicht in der Zeitreise zurück über 50 Jahre, im Roman «Der Blaue Siphon» aus den frühen neunziger Jahren.

In den Schulen wurde gelegentlich noch «Liebesnacht» gelesen, Erzählungen nach dem Vorbild von Boccaccio, was es aber im Vergleich zu diesem unerreichbaren Meister so wenig  bringen konnte wie früher Paul Heyse, von dem die nach Boccaccio abgeleitete «Falkentheorie» stammt. Dieser Falke hat sich im neueren Schaffen von Schweizer Erzählern weitgehend verflogen, von deutschen Kitschproduzenten wie Bernhard Schlink, Karl-Heinz Ott und dem späten Martin Walser zu schweigen. Dagegen hielt Urs Widmer auf beeindruckende Weise Kurs. Der Johann-Peter-Hebel-Ton von Bichsel oder von seinem Lehrer Graber blieb ihm vorenthalten. Er war ein redlicher Vermittler, zum Beispiel als Neu-Herausgeber von Gottfried Kellers «Fähnlein der sieben Aufrechten»: ein Text über die Schweiz für solche, die sie nicht oder falsch verstehen. Nicht idealisiert, vielmehr radikal und im kleinbürgerlichen Sinn auf konstruktive Weise kapitalismuskritisch wie kaum eine zweite Novelle des Poetischen Realismus. Nach Urs Widmer klingt der Humor von Gottfried Keller wie ein Raunen unter einem Mühlstein. Eine starke Metapher und zugleich ein Bekenntnis.   

In einem seiner letzten Interviews zeigte sich der Autor erschreckt über die Perspektive, die Schweiz könnte auf elf Millionen Einwohner wachsen. Dies noch zu erleben, zeigte er sich nicht erpicht. Bei seinen Mitbürgern die Idioten zu zählen, wie Peter von Matt mit Allüren des späten Emil Staiger, konnte ihm vor dem Abgang aus dieser Welt nicht mehr einfallen. Er wäre jedoch nicht der bürgerliche Moralist gewesen, als den er sich verstand, hätte er sich in der anstehenden politischen Entscheidung der Mehrheit seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ausserhalb von Basel und Zürich angeschlossen. In diesem Sinn war er, wie Max Frisch, dessen schwächere Werke er bei weitem übertraf, die stärksten aber nicht erreichte, ein  repräsentativer Vertreter des «juste milieu» der urbanen Schweiz.

Satirische Prophetie

Auf eindrucksvolle Weise ist es Urs Widmer gelungen, mit seinem Gesamtwerk, aber auch als einer der einflussreichsten literarischen Persönlichkeiten des Landes, den Rang eines repräsentativen und gefragten Autors zu erringen und zu behaupten.

Mit «Top Dogs», im Theater am Neumarkt 1996 vom genialen Volker Hesse uraufgeführt, welcher Inszenierung weltweit noch mehr Aufführungen folgten, wurde Widmer, sonst kein Vollblutdramatiker, zum Schöpfer eines der bedeutendsten Zeitstücke der letzten 30 Jahre. Indem Widmer das, was spätestens 2008 als evidentes Phänomen der Finanzwelt sich realsatirisch verwirklichte, schon 12 Jahre zuvor auf die Bühne zu bringen vermochte, brachte er literarische Fiktion zu eindrucksvollster Entfaltung: nämlich dasjenige satirisch-prophetisch vorwegzunehmen, was uns aufgrund durchschaubarer menschlicher Schwächen fast unabweisbar bevorsteht. Sein jüngeres Stück «Das Ende vom Geld» vermochte die Erwartungen, die in die Thematik wie auch in den Autor gesetzt wurden, dann aber nicht mehr zu erfüllen, zu stark waren seine Kräfte schon geschwunden.

Urs Widmer war ein Autor seiner, unserer Zeit. Von ihm werden sich, über die Autobiographie hinaus, einige Werke halten. Eine Entdeckung wert scheinen mir frühe Miniaturen wie «Das Normale und die Sehnsucht» sowie «Das Buch der Alpträume» mit Illustrationen des 1947 geborenen Zeichners Hannes Binder. Urs Widmer war ein Meister seiner Epoche, reich an Perspektiven und wie Peter Bichsel auf exemplarische Weise fähig zur Resignation, nicht zu verwechseln mit Aufgeben. «Ergeben sein», formulierte vor seinem Krebstod der Theologe und Schriftsteller Joseph Vital Kopp, «wird nur dem Kämpfer, dem die Kräfte schwinden, in den Armen des Engels erlaubt.» Der promovierte Akademiker Urs Widmer fehlt uns nach seinem Tode eher als «Doktor der Sehnsucht» als dass mit ihm ein Metaphysiker verloren gegangen wäre.

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