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Die verheissungsvolle Leichtigkeit der Anarchie

Replik auf David Dürrs Vorschlag, das Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol des Staates abzuschaffen, vorgetragen im «Schweizer Monat» 1012 (Dezember 2013).

Die verheissungsvolle Leichtigkeit der Anarchie

Das mag beim ersten Hören verlockend klingen, wenn da einer für einen Staat ohne Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol eintritt und verspricht, daraus werde sich nach den Mechanismen des freien Marktes eine gute Ordnung des Zusammenlebens von Menschen dann schon ergeben. Bei weiterem Nachdenken stellt sich jedoch schnell Ernüchterung ein, zu offensichtlich sind die Schwachpunkte und Denkfehler, die eine solche Verheissung zu einem letztlich uneinlösbaren Versprechen machen.

Begrenzte kognitive Ausstattung des Menschen

Ein erster, noch eher allgemeiner Einwand betrifft die Begrenztheit unserer kognitiven Ausstattung. Wir sind nicht dazu in der Lage, die tatsächliche Komplexität der Welt zu erfassen und in unserem Denken angemessen darzustellen, was dazu führt, dass unsere Versuche zu erklären, was in der Welt der Dinge und der Menschen geschieht, in der Regel zu einfach ausfallen, im Extremfall gelangen wir zu eindimensionalen, beziehungsweise monokausalen Erklärungsmustern.

Tatsächlich aber werden Ereignisse immer von mehreren Faktoren beeinflusst, die oft auf eine nicht leicht durchschaubare Weise aufeinander einwirken. Wenn wir einen Faktor manipulieren, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, kann es passieren, dass wir damit Ereignisse auslösen, die wir nicht gewollt und auch nicht vorhergesehen haben und die sich nicht immer wirksam steuern lassen – egal wie viel Aufwand wir dafür auch betreiben. Diese Erkenntnis der Systemtheorie wird durch ein unter Wissenschaftern beliebtes Bonmot auf den Punkt gebracht: Es gibt für jedes komplexe Problem eine einfache Lösung – und die ist falsch.

Vor diesem Hintergrund erscheint es naiv zu glauben, man müsse nur an einer Stellschraube drehen und alles werde gut, wenn es um eine so komplexe Angelegenheit geht, wie es die soziale Ordnung nun einmal ist. Der letzte Grossversuch, auf der Grundlage eines monokausalen Modells die gute Gesellschaft aufzubauen, hat zu einer Reihe von menschlichen und wirtschaftlichen Katastrophen geführt, die die Idee, man müsse zu diesem Zwecke nur die Produktionsmittel vergesellschaften, wohl endgültig erledigt haben. Es gibt allerdings wenig Anlass zu glauben, dass ein anderes, nicht weniger schlicht gestricktes Modell zu besseren Ergebnissen führen würde. Weder der Überstaat, der alles regelt, noch der entmachtete Staat, der nichts mehr regelt, werden das Heil auf Erden herbeiführen.

Stärker = Besser?

Der zweite Einwand betrifft die Idee, die ideale Ordnung des Zusammenlebens werde sich aus dem freien Spiel der Kräfte von selbst ergeben. Man darf bezweifeln, dass das sich durchsetzende «Stärkere» in jedem Falle immer auch das Bessere ist. Das freie Spiel der Kräfte kennt keine Moral und bringt auch «von selbst» keine hervor. Das lässt sich derzeit eindrucksvoll am Beispiel des Finanzsektors zeigen, wo ein Skandal den nächsten jagt: Libor-Manipulationen, Devisenkurs-Manipulationen, aktive Beihilfe zur Steuerhinterziehung (einschliesslich Urkundenfälschungen und Kurierdiensten mit Geldkoffern), unlautere Geschäfte mit Kleinanlegern, denen Wertpapiere aufgedrängt werden, auf deren Wertverlust die verkaufende Bank selber bereits spekuliert und, und, und. So etwas kann der Markt nicht aus sich selbst heraus regeln, so wenig wie Münchhausen sich selbst am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen kann. Dazu braucht es einen festen Standpunkt ausserhalb des Systems, dazu braucht es einen Staat, der selber nicht Marktteilnehmer und also Partei ist und der die Mittel und auch den Willen dazu hat, unlautere, gar kriminelle Praktiken wirksam zu bekämpfen.

Da aber der Teufel bekanntlich im Detail steckt, macht es Sinn, an dieser Stelle auch ein wenig auf die Details zu schauen, vor allem, wenn es um Bereiche geht, an die man nicht gerade als erstes denken würde, wenn es um die Abschaffung eines staatlichen Monopols geht, zum Beispiel um die Justiz: Wie soll es ermöglicht werden, die Rechtsprechung als eine Dienstleistung von miteinander konkurrierenden Institutionen auf einem freien Markt anzubieten? Und vor allem: was sollte dabei durch den Markt optimiert werden? Sollen da eine «Swissjus AG» und eine «Scharia GmbH» miteinander um das preisgünstigste Angebot für die Durchführung eines Mordprozesses oder einer Ehescheidung wetteifern? Nun ist aber der Preis nicht das einzige Kriterium für die Bewertung eines Produkts (in diesem Falle eines Urteils), es geht ja immer auch um seine Qualität. Wie soll festgestellt werden, welche Institution die «besseren» Urteile produziert? Und was heisst in diesem Zusammenhang «besser»? – Richtiger? Gerechter? Fairer?

Ja, diese Beurteilung könnte man prinzipiell dem Markt überlassen. Sollen doch die Kunden entscheiden, an welche Institution sie sich wenden wollen. Was aber, wenn sich die Kunden, beispielsweise ein scheidungswilliges Ehepaar, nicht einigen können, ob ihr Prozess von der «Scharia GmbH» (wie es der Ehemann will) oder der «Swissjus AG» (was die Ehefrau vorziehen würde) durchgeführt werden soll? Kann dann jede Partei an das Gericht gelangen, das ihr genehmer ist? Und was geschieht, wenn die beiden Gerichte zu unterschiedlichen Urteilen kommen, zum Beispiel darüber, wem das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen wird. Das Scharia-Gericht würde die Kinder vielleicht dem Ehemann zusprechen, weil nach islamischer Rechtsauffassung die Kinder dem Mann gehören, wie das in allen patriarchalischen Kulturen der Fall ist. Vor einem weltlichen Gericht hingegen hätte die Ehefrau die grösseren Chancen, das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen, weil nach moderner säkularer Rechtsauffassung Kinder nicht Eigentum ihrer Eltern sind, und somit nicht die Interessen der Eltern bei solchen Entscheidungen im Vordergrund stehen dürfen, sondern das Wohl der Kinder; und dieses sieht man in der Regel eher gewahrt, wenn die Kinder bei der Mutter verbleiben. Wie sollte ein solches Patt aufgelöst werden? Und wer sorgt für die Vollstreckung welches Urteils, wenn der Staat kein Gewaltmonopol mehr hat? Tragen dann die Büttel der «Scharia GmbH» und die Vollstrecker der «Swissjus AG» untereinander aus, wer die Kinder wem überantwortet? Und mit welchen Mitteln?

Schwierige Fragen stellen sich auch, wenn es um ein Tötungsdelikt geht. Wer sind in einem solchen Falle die Kunden? Sind es die Verwandten des Opfers? Und wenn das Opfer keine Verwandten mehr hat oder diese nicht willens oder fähig sind oder nicht das Geld dazu haben, eine Anklage zu betreiben, fällt dann ein Prozess aus, ganz nach der Devise: kein Kläger, kein Richter? Oder gibt es auch auf dem freien Markt der Justiz Offizialdelikte, die in jedem Falle verfolgt werden? Aber wer, wenn der Staat kein Monopol in Justiz-Angelegenheiten mehr hat, kann, darf, soll dann bestimmen, welche Institution die Ermittlungen aufnimmt und einen Prozess durchführt? Gilt dann das Prinzip des Windhundrennens: Wer zuerst ankommt, hat den Fall?


Wer zahlt?

Fragen über Fragen; und es hat kein Ende damit. Wer bezahlt das alles und aus welchen Mitteln? Wer bildet die Richter aus und stellt ihre Befähigung für das Amt fest, wenn es keine Zertifizierung durch Staatsexamina mehr geben soll? Wer darf Gesetze ändern, ausser Kraft setzen oder neue erlassen? Gibt es dann überhaupt noch einen für alle Bürger eines Landes verbindlichen Rechtsrahmen? Oder gilt dann: gleiches Recht für jedes Recht?

Wenn man sich zu einem solchen Grundsatz bekennen wollte, müsste man auch zulassen, dass ein Scharia-Gericht eine öffentliche Steinigung anordnen und exekutieren lassen kann; denn so steht es nun einmal im – wie viele Muslime glauben – einzig wahren göttlichen Gesetz, das zu relativieren kein Mensch das Recht hat. Und könnte dann nicht auch die Katholische Kirche auf ihrem kanonischen Recht beharren und als Kinderschänder überführte Priester einer strafrechtlichen Verfolgung durch weltliche Gerichte entziehen? Und wie wäre die Sache zu regeln, wenn die Missbrauchsopfer mit einem solchen innerkirchlichen Verfahren nicht einverstanden wären und ein weltliches Gericht anrufen würden? Wären sie dann die Kunden, die bestimmen, welche Institution den Zuschlag für das Verfahren bekommt? Oder haben auch die Angeklagten in dieser Sache ein Mitspracherecht? Und wie soll da in einem Konfliktfall entschieden werden?

Ein besonderer Fall ist das in indischen, pakistanischen und afghanischen Dörfern verbreitete Gewohnheitsrecht, dass ein improvisiertes Gericht von Stammes- oder Dorfältesten eine Familie dadurch bestraft, dass es die Massenvergewaltigung einer Frau dieser Familie anordnet. Ist das nicht auch ein lange tradiertes System der Rechtspflege? Darf sich da eine Staatsjustiz einmischen und so etwas unterbinden, gar strafrechtlich verfolgen, wie das neuerdings, wenn auch noch zögerlich in Indien zu geschehen beginnt?  

Gerade dieses drastische Beispiel einer barbarischen, menschen- und vor allem frauenverachtenden Praxis stellt einen Rechtsrelativismus in Frage, der uns einreden will, eine Rechtsauffassung sei so gut wie jede andere und was eine lange Tradition habe, sei schon deshalb gerechtfertigt. Wer davon überzeugt ist, dass allen Menschen eine Würde und gewisse unveräusserliche Rechte zukommen, kann keine Rechtspraxis akzeptieren, die diese Menschenwürde und -rechte missachtet, kann weder archaische Körperstrafen noch eine grundsätzliche Deklassierung der Frauen tolerieren.

Zurück in die Steinzeit?

Die an dieser Stelle bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Fülle von Problemen zeigt auf, wie unfruchtbar der Vorschlag einer Entmachtung des Staates in Justiz-Angelegenheiten ist, muss doch jeder Versuch, dem Staat das Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol zu entziehen und das Recht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, uns in letzter Konsequenz dahin zurückführen, wo einmal alles Rechten angefangen hat: zu Blutrache, Lynchjustiz, Faustrecht, privater Fehde und Feme und all den anderen fragwürdigen Erscheinungen eines in die eigenen Hände genommenen Rechts. Und Gewaltanwendung hört ja nicht auf, wenn der Staat sein Monopol dazu nicht mehr wahrnehmen kann oder will, sie wird dann sogleich ersetzt durch private Gewaltanwendung, wie wir das derzeit in vielen sogenannten gescheiterten Staaten sehen können: bewaffnete Banden, selbsternannte Rebellen, Drogenkartelle, Bürgerwehren nehmen jeden Raum ein, den der Staat preisgibt oder preisgeben muss, weil er nicht mehr die Kraft hat, das freie Spiel solcher Kräfte zu unterbinden und das aus diesem resultierende Morden, Vergewaltigen, Plündern, Brandschatzen und Foltern zu beenden.

Wir haben also allen Grund, die grosse zivilisatorische Errungenschaft eines Gewalt- und Gesetzgebungsmonopols des Staates zu verteidigen, die Ideen einer Gewaltenteilung, einer unabhängigen Justiz und eines Verfahrens mit Revisionsmöglichkeiten über mehrer Instanzen – und die vielleicht grösste Idee von allen: dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind.

Soweit ein paar erste und naheliegende Überlegungen – unendlich viele Probleme, die man sich im Voraus gar nicht alle vorstellen kann, würden sich noch einstellen, wollte man den Vorschlag einer Privatisierung der Justiz in Lebenspraxis umsetzen. In solchen Niederungen bewegt sich der philosophische Kopf freilich nicht, dem diese wundersame Idee vor der Seele schwebt – in diesen Niederungen aber müssen dann Menschen leben, wenn so etwas Praxis werden sollte. Möge uns der Himmel solcher Ideen nicht auf den Kopf fallen.

 

Dieser Text ist eine Replik auf Aussagen David Dürrs im Gespräch mit seinem Sohn Baschi Dürr und Monat-Herausgeber René Scheu in Ausgabe 1012. Sie können das Interview hier online lesen.

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