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Die Super-Manhattan- Atomwissenschafts-Initiative

Die Menschheit steht unter dem «Fluch der nuklearen Verantwortung». Den langen Zeitskalen für die Verwaltung nuklearer Produkte stehen die kurzen Zeitskalen menschlicher Gemeinwesen gegenüber. Wie bringt man beide endlich zusammen? Ein Vorschlag zur Stärkung zivilisatorischer Resilienz.

Die Super-Manhattan- Atomwissenschafts-Initiative
Didier Sornette, photographiert von Giorgio von Arb.

Eine ergänzte Version in Englischer Sprache finden Sie hier.

 

Ich schlage eine Forschungsinitiative ähnlich dem Manhattan-Projekt vor, um der Atomindustrie neues Leben einzuhauchen und die Stagnation zu überwinden, in der sie und mit ihr die gesamte Menschheit gegenwärtig festsitzen. Eine Investition von 1 Prozent des BIP über 10 Jahre (in den grossen Nuklearstaaten) könnte das Wirtschaftswachstum ankurbeln, vor allem aber ein Wachstum im Bereich der Realwirtschaft. Durch entschlossene Investitionen mit dem Ziel wissenschaftlicher und technischer Durchbrüche können wir eine weltweite Wende herbeiführen, die auf neuen, sichereren und nachhaltigeren Verfahren zur Nutzung der Atomenergie beruht.

 

I. Gesellschaftliche Risiken

Die Entwicklung von Nukleartechnik für zivile und militärische Zwecke hat eine einzigartige, nie dagewesene Situation herbeigeführt: Die Menschheit hat sich mit der Aufgabe beladen, nukleares Material sowie Abfälle aus der zivilen und militärischen Nutzung der Atomkraft über lange Zeiträume bewirtschaften zu müssen. Nebenprodukte einer Reaktorkernschmelze überdauern 100 Jahre (z.B. Caesium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren), mehrere Jahrhunderte, Jahrtausende oder sogar Jahrmillionen: von Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von 24 000 Jahren bis hin zu Technetium-99, dem am stärksten strahlenden Element mit einer Ausbeute an Spaltprodukten von 6 Prozent bei thermischer Spaltung von Uran-235 in einem Umfeld aus langlebigen Spaltprodukten. Technetium-99 hat eine Halbwertszeit von 211 000 Jahren.

Die Menschheit muss die Rückstände der Atomkraft also über Zeiträume hinweg bewachen, die so ausgedehnt sind wie (oder ausgedehnter als) die Geschichte unserer Spezies, des Homo sapiens – nach heutigen Annahmen etwa 200 000 Jahre! Es ist daher äusserst wichtig, das Thema Atomkraft als Teil eines dynamischen gesellschaftlichen Kontexts zu betrachten. Menschliche Gesellschaften entstehen, entwickeln sich weiter, verbinden sich, verschmelzen miteinander, konsolidieren sich, zerfallen, brechen zusammen. Der Lauf der Geschichte wird immer wieder durch Revolutionen, Bürgerkriege, ethnische Konflikte oder allgemein instabile Phasen unterbrochen. Kein Reich, keine Nation, keine Gesellschaft hat sich jemals über mehr als ein paar Jahrzehnte stabil und frei von grösseren Konflikten erhalten. Selbst die beständigste Zivilisation verändert sich. Auch ist es offenbar, dass solche Veränderungen eher abrupt stattfinden als allmählich (Scheffer, 2009).

Die Entwicklung der Atomenergie fand unter der unausgesprochenen Voraussetzung statt, dass die jeweiligen Gesellschaften stabil, dauerhaft und verlässlich genug sein würden, um der Kontrolle der nuklearen Technologien einen angemessenen und zeitlich unbeschränkt gültigen Stellenwert zu geben, so dass katastrophale Einzelereignisse oder die allmähliche Veräusserung der Biosphäre ausgeschlossen werden konnten. Atomenergie ist eine junge Technologie, deren Entwicklung vor gerade einmal 60 Jahren begann. Wenn man einen historischen Standpunkt einnimmt, ist es schlechthin tollkühn, zu glauben, Gesellschaften, die heute noch stabil scheinen, könnten einer Destabilisierung auf Dauer entgehen.

Einem Narrativ zufolge führte das Ende des Zweiten Weltkriegs, gefolgt von der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges, zum Anschein von Stabilität. Man hoffte, gesellschaftlicher und politischer Fortschritt werde das Entschärfen von Konflikten künftig erleichtern. Die Geschichte lehrt jedoch: Es ist riskant, auf Frieden und Stabilität zu wetten. Und womöglich wird die Lage sogar noch unberechenbarer beim Übergang in ein neues System, wo Mangel an Ressourcen, lebenswichtigen Gütern und Konkurrenz um den verbleibenden, knappen Lebensraum herrschen.

Wie kann man also sicherstellen, dass Wartungsarbeiten an zentralen Atomkraftwerken und Lagerstätten für Atommüll weiterhin routinemässig von hochqualifizierten Technikern ausgeführt werden, wenn deren Familien von Revolution, Konflikt oder Krieg bedroht werden? Was, wenn irgendein Saddam Hussein im Angesicht seiner Niederlage nicht bloss über Ölfelder verfügt, die er anzünden, sondern über Atomkraftwerke, die er durch einfaches Zerstören der Kühlsysteme destabilisieren kann? Schlimmer noch: im Fall schwerer zwischenstaatlicher Konflikte werden Atomkraftwerke – und wird andere kritische Infrastruktur – zu Primärzielen für Angriffe mit dem Ziel, den Gegner kampfunfähig zu machen. Ein schlagendes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Während des Bürgerkriegs in der Ukraine kamen über soziale Medien Aufrufe an die Öffentlichkeit, das Atomkraftwerk von Saporischschja (das grösste Atomkraftwerk Europas und das fünftgrösste der Welt) anzugreifen, das 200 Kilometer vom Kriegsgebiet entfernt liegt. Im Februar 2014 nahmen AKW-Sicherheitskräfte Agenten des Rechten Sektors fest, die versucht hatten, Kraftwerke zu infiltrieren. Durch diese Vorkommnisse sah sich die Nato gezwungen, Experten zu entsenden, um sicherzustellen, dass in allen ukrainischen AKW angemessene Schutzmassnahmen ergriffen werden.

Ein anderes singuläres Problem sind die aussergewöhnlich krassen, weltweiten Auswirkungen im Fall einer Reaktorkatastrophe. Weltweit sind mehr als 440 Reaktoren in Betrieb, 60 weitere befinden sich im Bau. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es in einem davon zu einem Unfall mit Kernschmelze kommt. Eine signifikante Menge Radioaktivität (etwa 5 bis 20 Prozent des Reaktors) könnte in die Atmosphäre, ins Meer oder ins Erdreich gelangen. Unsere Schätzungen zeigen, dass die Folgen eines einzigen solchen Ereignisses weltweit messbar wären. Für unmöglich gehaltene Szenarien wie die Katastrophen von Tschernobyl oder Fukushima können als Grundlage dienen, um sich weitere, zig Trillionen Euro, Dollar oder Schweizer Franken teure Vorfälle im Kontext extrem unwahrscheinlicher, aber möglicher Szenarios auszumalen, in deren Folge grosse Gebiete auf lange Sicht unbewohnbar würden (Sornette et al., 2013; Wheatley et al., 2015).

Die Bewirtschaftung der Atomenergie sollte daher als öffentliches Gut angesehen werden, insofern Unfälle oder Fehlverhalten in einer grösseren Anlage weltweit Externalitäten verursachen. So hatte (und hat noch heute) die Tschernobyl-Katastrophe für ganz Westeuropa erhebliche ökologische, gesundheitliche und finanzielle Folgen. Zudem gibt es keine Garantie, dass das dort lagernde radioaktive Material hermetisch im Betonsarkophag eingeschlossen bleibt. Damit wird klar: Unter diesem Damoklesschwert werden in Europa noch viele zukünftige Generationen leben müssen.

Man wird einwenden, dass Szenarien wie das Unglück von Tschernobyl in stabileren und effizienteren Gesellschaften noch unwahrscheinlicher sind als in der Ukraine. Das stimmt zwar, aber Scott Sagan hat in seiner Untersuchung zur Verlässlichkeit der amerikanischen Atomwaffen-Kommando-Organisationen (1995) etliche Beispiele dafür geliefert, dass auch solche Institutionen, von denen man allerhöchste Sicherheitsstandards erwartet hätte, tatsächlich mit Pannen und Unfällen zu kämpfen haben – was vor allem an politischen Grabenkämpfen, systematischer Täuschung und Schönfärberei sowie an Konflikten um kurzfristige Interessen liegt. In einer aktuellen Veröffentlichung geht Erik Schlosser (2014) sogar noch weiter: Er schildert en détail bekanntgewordene Unfälle mit Atomwaffen, zu denen es seit 1945 immer wieder gekommen ist. Ausgehend von einem Zwischenfall in Damaskus, wo sich 1980 eine Explosion in einer Interkontinentalrakete vom Typ Titan II ereignete, dokumentiert Schlosser eine schier endlose Reihe nuklearer Unfälle und macht dadurch die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Anfälligkeit jener ausserordentlich komplizierten technischen Systeme sichtbar, die Atomwaffen nun einmal sind. Ganz zu schweigen übrigens von den bürokratischen Strukturen, in die sie eingebettet, und den sich ständig wandelnden politischen Rahmenbedingungen, denen sie unterworfen sind.

Die zivile Atomindustrie ist natürlich von Atomwaffenorganisationen zu unterscheiden; dennoch teilen beide eine Reihe von Merkmalen: (I) Sie haben es mit Material von derselben Energiedichte zu tun, nämlich in der Grössenordnung von 1 MeV; (II) sie haben es mit extrem komplexen Systemen zu tun, verknüpft mit und gemanagt von fehlbaren menschlichen Agenten und eingebettet in ebenso fehlbare Institutionen; (III) sie sind den wechselnden Launen von Politikern ausgesetzt, die wiederum auf die flatterhafte öffentliche Meinung reagieren.

Einer detaillierten Studie (Wheatley et al., 2015) zufolge, die sich auf die aktuell umfangreichste Datensammlung (75 Prozent umfangreicher als die zuvor umfangreichste Datensammlung über nukleare Zwischen- und Unfälle) stützt, besteht selbst unter bestmöglichen Bedingungen, sprich in Abwesenheit von Konflikten oder Regimewechseln, eine 50prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es (an den Kosten gemessen) (I) in den nächsten 50 Jahren zu einem Ereignis mindestens in der Grössenordnung der Katastrophe von Fukushima kommt und (II) in den nächsten 27 Jahren zu einem Ereignis mindestens in der Grössenordnung der Katastrophe von Tschernobyl sowie (III) in den nächsten 10 Jahren zu einem Ereignis mindestens in der Grössenordnung der Katastrophe von Three Mile Island. Es liegt daher nahe, auf eine intrinsische Instabilität der Atomindustrie zu schliessen.
In Anbetracht meines anderen Arguments von den sozialen Instabilitäten ist die Diagnose klar: Wir haben es mit einer instabilen Industrie in einer instabilen Welt zu tun.

Ich frage nun: Wie kann man in diesem Kontext ein verlässliches Management nuklearer Risiken erreichen, das den nötigen zeitlichen Grössenordnungen Rechnung trägt? Langfristige nukleare Verantwortung und kurzfristige soziale Schwankungen: nach meiner Ansicht muss das Zusammendenken dieser beiden Faktoren zu einer radikalen Neubewertung politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen in bezug auf die Atomindustrie führen.

 

FIG. 1: Left panel: Historic data (open circles) showing the US$ losses (left vertical scale) resulting from accidents, in excess of 70 million US$, occurring at nuclear power generating facilities, between 1960 and 2014. The data is compared with the median and quartiles of the estimated distribution of the largest extreme events, for the pre- (blue) and post- (red) TMI (Three Mile Island accident of 1979) regimes, using methods described in (Wheatley et al., 2015). Had the distribution not changed after TMI, we would expect the largest events (grey) to be much smaller than under the post-TMI regime.
Right panel: cumulative distribution function (right vertical scale) of the event arrival time for a Fukushima like (or larger US$ cost) event, a Chernobyl like (or larger US$ cost) event, and a TMI like (or larger US$ cost) event. The 50% arrival times are indicated by the x. Beneath, the 25%-75% arrival interval is given for each case. This visualises the statement in the text and further quanties the 25%, median, and 75% quantile return times: Fukushima: 2015 + (25, 50, 225); Chernobyl:  2015 + (11,27, 55); TMI: 2015 + (5, 12, 25).  Figure prepared by S. Wheatley.

 

II. Grossinitiative der Super-Manhattan-Kategorie

Manche Leser könnten nun meinen, dass ich zum Verzicht auf die Entwicklung oder die Nutzung von Atomenergie aufrufen will. Dem ist nicht so. Angesichts der oben getroffenen Befunde in bezug auf den «Fluch der nuklearen Verantwortung» schliesse ich, dass es keinen Weg zurück gibt. Im Verlauf der letzten 50 Jahre sind durch den Betrieb Hunderter Atomkraftwerke bereits Millionen Tonnen radioaktiver Substanzen entstanden (ganz abgesehen von den Substanzen für den militärischen Gebrauch). Wir können das Problem also nicht einfach «wegwählen», indem wir beschliessen, aus der Atomkraftnutzung auszusteigen – wie es leichthin von Seiten «grüner» Politiker oder Regierungen vorgeschlagen wird. Das ist schon deshalb unmöglich, weil der Abbau des bis anhin künstlich angereicherten spaltbaren Materials Jahrmillionen dauern wird. Der Ausstieg aus der Atomenergie wird den Müll und die radioaktiven Substanzen, die beim Rückbau der Kraftwerke anfallen, also nicht einfach zum Verschwinden bringen.

Welche Alternativen haben wir? Mein Vorschlag ist sehr direkt: Wir sollten uns aller Abfälle entledigen, seien es Altlasten oder neu entstehender Müll! Das ist die einzige vernünftige Lösung des zwiefachen Problems der Unzuverlässigkeit menschlicher Verwaltung bzw. der Gegenwart hochgefährlicher und langlebiger radioaktiver Abfälle. Dazu bedarf es eines Frontalangriffs auf die sozialen Schlüsselprobleme, die aus der Atomenergie entstehen: das Risiko katastrophaler Zwischenfälle, die Produktion radioaktiver Abfälle sowie die Verbreitung von Atomwaffen (Ramana and Mian, 2014).

Dieses Ziel zu erreichen, ist keine einfache Aufgabe. Auch ist der Erfolg nicht garantiert. Wir müssen aber den Versuch wagen. Ich schlage vor, dass Regierungen weltweit sofort und umfangreich in Atomphysik, Nukleartechnik und -chemie (energetische Grössenordnung 1 MeV) investieren, sowie in «gewöhnliche» Chemie (energetische Grössenordnung 1 eV), Materialwissenschaften und alle relevanten Ingenieursdisziplinen, um so das Schlüsselproblem der langlebigen Radionuklide zu lösen. Neben allgemeinem, inkrementellem Fortschritt geht es um die Entwicklung neuer, revolutionärer Technologien – etwa Methoden zur energieeffizienten Transmutation mit Hilfe von Beschleunigern. Bekanntlich ist es prinzipiell möglich, durch starken Neutronenfluss die Halbwertszeit von Plutonium von 24 000 Jahren auf gerade einmal einen Tag zu reduzieren. Es sind bedeutende Innovationen gefragt, um diese Technologie nicht nur praktisch, sondern auch finanziell realisierbar oder gar profitabel zu machen.

Ein erhebliches politisches Hindernis liegt darin, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Im Hinblick auf diese Notwendigkeit fällte US-Präsident Carter am 27. April 1977 seine Entscheidung, die Wiederaufbereitung verbrauchter Brennstäbe mit Hilfe sogenannter Brutreaktoren auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Wo das Ziel der vollständige Brennstoffkreislauf ist, wird es also von essenzieller Bedeutung sein, sich ehrlich, offen und objektiv mit den Themen Wiederaufbereitung, Brutreaktoren, Nichtverbreitung und Plutonium zu befassen.

Die Aufgaben sind vielfältig, unter anderem geht es um Sicherheit und Effizienz der Reaktoren, um physikalische und technische Seiten der Wiederaufbereitung, um neue Materialien zur Wärmeübertragung, um Technologien zur Energieproduktion, Risk Mapping usw. Wir brauchen einen starken multidiszi-plinären und interdisziplinären Ansatz, der Atomphysiker, Ingenieure, Chemiker, Geowissenschafter, Ökonomen sowie Politikwissenschafter, Konfliktforscher und Historiker an einen Tisch bringt. Den quasi verwaisten Forschungsgebieten der Nuklearphysik und -chemie sollte in den grossen Universitäten weltweit neues Leben eingehaucht werden. Wir brauchen eine Renaissance der Nuklearwissenschaften, zudem eine Wiederauferstehung der kränkelnden Nuklearphysikabteilungen im Bereich höherer Bildung. Auch die Privatwirtschaft muss noch stärker als bisher Anreize erhalten, sich mit Geld oder Kreativität an der Erreichung des einen grossen Zieles zu beteiligen: effiziente und verlässliche Methoden der Atomkraftnutzung. Es bedarf starker quantitativer Modelle, in die eine kompetente Einschätzung nu-klearer Risiken aus Ingenieursperspektive einfliesst, die aber auch die Auswirkungen von Naturkatastrophen (Erdbeben, Tsunamis, Stürme, Hochwasser…) sowie geopolitische und ökonomische Risiken berücksichtigen. In Ergänzung hierzu müssen umfangreiche interdisziplinäre Anstrengungen unternommen werden, um soziale Instabilitäten aller Art identifizieren zu lernen. Aus einer Kombination dieser verschiedenen Elemente ergäbe sich die erste umfassende Risk Map in bezug auf menschengemachtes spaltbares Material. Mit einem solchen Instrument wäre es möglich, bestehende Anlagen qualifizierter zu managen und bessere zukünftige zu entwickeln.

 

III. Ökonomischer Kontext und Ausblick

Wie bereits früher (Sornette und Cauwels, 2014) erklärt, war die Zeit von 1980 bis zur Finanzkrise von 2008 durch ein Wachstum gekennzeichnet, das vor allem durch masslose und unhaltbare privatwirtschaftliche Verschuldung, durch neue Finanzprodukte und Fremdkapitalfinanzierung ermöglicht wurde. Seit 2008 gibt es insbesondere in Europa kaum noch Wachstum, stattdessen teils sogar Stagnation. Blickt man auf die negative demografische Entwicklung und den Rückgang technologischer Innovation, drängt sich die Vermutung auf, jene Phasen starken Wachstums, die der Westen seit der Nachkriegszeit und dem Wiederaufbau erleben durfte, könnten endgültig der Vergangenheit angehören (Gordon, 2012). Wie entkommt man also dem Zustand des «New Normal»? Wie lassen sich die enormen Verbindlichkeiten abtragen, die aus unseren unterfinanzierten Rentensystemen resultieren? Die Regierungen wussten bisher nicht besser auf die Krise zu reagieren als mit noch mehr Schulden und noch mehr billigem Geld – eben denselben Zutaten, aus denen das fatale Gemisch bestand, das die Explosion ja erst herbeigeführt hatte.

Die Errungenschaften der Menschheit wurden nicht durch dieses Gemisch bestimmt, sondern durch den Faktor Energie. Der grösste Teil der Geschichte durch menschliche und tierische Energie. Im 18. Jahrhundert brachte die industrielle Revolution den Übergang zur Energiegewinnung aus Kohle und schliesslich aus Öl (Yergin, 1991) sowie aus anderen Quellen. Man sagt, dass ein typischer europäischer oder amerikanischer Haushalt über mehr Artefakte verfüge als seinerzeit ein ägyptischer Pharao – schlicht aufgrund seines Zugangs zu Energiequellen mit höherer Energiedichte. Wir neigen dazu, dies für selbstverständlich zu halten, aber unsere Zivilisation beruht auf der nahezu unbegrenzten Verfügbarkeit dichter Energiequellen. Daher müssen wir Innovationen im Energiebereich allgemein fördern, sowohl im Hinblick auf dichtere und stärker zentralisierte Energieformen wie Atomkraft als auch auf weniger dichte und dezentrale Formen. Wie oben ausgeführt, halte ich das Energieproblem und das Nu-klearproblem für vordringlich. In diese Felder sollte der überwiegende Anteil der Investments fliessen, etwa 1 Prozent des BIP entwickelter Staaten über einen Zeitraum von 10 Jahren – oder mehr.

Obwohl die zivile Nutzung der Atomkraft meist zentralisiert durch Grossunternehmen und Regierungsinstitutionen erfolgt, gibt es dabei durchaus Raum für Bottom-up-Innovationen und mutige Einzelinitiativen in Kombination mit sorgfältig abgestimmten staatlich-industriellen Partnerschaften. Die vorgeschlagenen Massnahmen wären die richtige Botschaft an die Millionen junger Leute in Europa und den USA. Man würde der jungen Generation Mut machen, Risiken einzugehen, und sie im Hinblick auf Innovationen unterstützen. Sie würde Anschluss finden an die Utopien der vorangegangenen Generationen. Diese Strategie wird die schlechte Stimmung vertreiben, die sich in Kreisen der Industrie und der Politik ausgebreitet hat. Ebenso wird sie die schweren ökonomischen und psychologischen Bürden mindern, die auf privaten Haushalten lasten, indem sie eine Zukunftsvision entwirft und eine Botschaft der Hoffnung aussendet. Es müssen Erklärungen dafür geliefert werden, warum Erwartungshaltungen, selbsterfüllende Prophezeiungen und der Einsatz von Incentives eine so wichtige Rolle bei der Gestaltung einer neuen Realwirtschaft spielen. Die Erfahrung lehrt, dass sich insbesondere Unternehmen, die von furchtlosen Querdenkern in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs gegründet werden, schliesslich durchsetzen. Eine solche Dynamik sollte durch das von mir vorgeschlagene Programm in hohem Masse gefördert werden.

Die wirtschaftliche und politische Ausnahmesituation, in der wir uns befinden (besonders in Europa), erfordert aussergewöhnliche Massnahmen und Ideen. Zu guter Letzt gibt es nur einen Weg aus Verschuldung und Fremdkapitalfinanzierung: Wachstum – reales Wachstum. Anders als Wachstum vom finanzmarktbasierten, virtuellen Typus der drei Jahrzehnte vor 2008 benötigt realwirtschaftliches Wachstum Innovation auf der einen und Erhöhung der Produktivität auf der anderen Seite. Diese Bedingungen können nur von Menschen für Menschen geschaffen werden. Daher müssen auf der Ebene der Steuergesetzgebung und Kreditvergabepolitik geeignete Massnahmen getroffen werden, um den optimistischen Teil der Bevölkerung zu unterstützen, der nach vorne drängt, der den Stier bei den Hörnern packen, den Fortschrittsmotor wieder anwerfen, der innovieren und etwas erschaffen will. Die Zeit ist reif, eine Zukunft zu entwerfen, in der neue Energien neue Arten des Verkehrs auf neuer Infrastruktur antreiben, in der neue Städte und Siedlungsformen (womöglich stärker und nachhaltiger in natürliche Lebensräume eingebettet) entstehen, eine neue Gesundheits- und Nahrungsmittelindustrie, neue Formen der Unterhaltung usw. Wichtig ist, dass die Bürger einbezogen werden und an der ihnen gebührenden Position, in der Mitte der Initiative, an der Neugestaltung teilhaben. Dann können sie Vertrauen in die Kompetenz und Aufrichtigkeit von Atomkraftexperten und -organisationen aufbauen (Greenberg et al., 2014), deren Glaubwürdigkeit in der Vergangenheit unter anderem durch schlechtes Reputationsmanagement stark gelitten hat. Es gilt also, mit Hilfe der oben vorgeschlagenen Massnahmen die erforderliche Anstrengung allgemein als politische Priorität zu verankern (Greenberg et al., 2014) – eben nicht top-down, sondern bottom-up: aus den Menschen, durch die Menschen, für die Menschen. Allgemeiner ausgedrückt: Fortschritt im Bereich öffentlicher Infrastruktur ist geeignet, jenes Gefühl von Machtlosigkeit zu mindern, das die Menschen angesichts horrender Fehlinvestitionen beschleicht.

Wer die Idee vorschnell als naiv und unrealistisch abtut, dem mögen vergleichbare historische Projekte auf die Sprünge helfen: Das Manhattan-Projekt verschlang insgesamt 2 Milliarden Dollar, 2 Prozent des amerikanischen BIP von 1940 bzw. 1 Prozent des BIP von 1944 (natürlich über mehrere Jahre verteilt). Das Apollo-Programm verschlang 30 Milliarden Dollar nach dem Dollarwert von 1970, was 100 Milliarden Dollar nach dem Wert von 2010 entspricht. Die Gesamtkosten des Space-Shuttle-Programms werden auf knapp 200 Milliarden Dollar geschätzt. Die Vereinigten Staaten haben 486 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von 57 Jahren für die bemannte Raumfahrt ausgegeben, durchschnittlich also 8,3 Milliarden Dollar pro Jahr.

Ein aktueller Bericht des Congressional Research Service (Sissine, 2014) bezifferte die Investitionen des amerikanischen Energieministeriums in Atomkrafttechnologie für den Zeitraum von 1978 bis 2014 auf 50 Milliarden Dollar (Wert von 2013). Das sind läppische 1,35 Milliarden Dollar pro Jahr – die allen Unkenrufen zum Trotz wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zutage förderten.

Mein Vorschlag kostet etwa 150 Milliarden Dollar pro Jahr. Das klingt zunächst gewaltig, ist aber nur ein winziger Bruchteil des 2008 aufgelegten US-Bankenrettungspakets in der Grössenordnung von mehreren Billionen Dollar. Die 150 Milliarden entsprechen knapp 1 Prozent des amerikanischen BIP von 2014.
150 Milliarden Euro sind mehr als 50 Prozent des heutigen BIP von Griechenland, hingegen kaum mehr als zwei Monate des EZB-Programms der monetären Lockerung, das im März 2015 von Mario Draghi initiiert wurde – und das allein 60 Milliarden Euro pro Monat zum Kauf von Anleihen europäischer Staaten bereitstellen soll. 18 Billionen Yen scheinen für Japan eine astronomisch hohe Summe, die aber durch die Ausweitung eines Anleihekaufprogramms der Bank of Japan noch in den Schatten gestellt wird, das (Stand Oktober 2014) mit 80 Billionen Yen pro Jahr finanziert ist.

Klar wird: Um den wirtschaftlichen und finanziellen Status quo ihrer Länder zu erhalten, zögern die politisch Verantwortlichen nicht, zu aussergewöhnlichen Strategien zu greifen, deren tatsächliche wirtschaftliche Auswirkungen stark umstritten sind. Die Programme der sogenannten monetären Lockerung machen sich die Hebelmöglichkeiten des Finanzmarkts und innovative geldpolitische Instrumente zunutze und setzen darauf, per Spill-over auch die Realwirtschaft anzukurbeln, realwirtschaftliches Wachstum zu erzeugen und Arbeitsplätze zu schaffen. Tatsächlich aber verschärfen solche Programme die soziale Ungleichheit noch, was wiederum zur Aufweichung sozialer Stabilität führt und damit zu einem immer prekäreren Umfeld für die zivile Nutzung der Atomkraft.

Im Gegensatz hierzu richtet sich mein Vorschlag direkt auf die reale Welt in Gestalt von gezielter atomphysikalischer/-chemischer/-technischer Forschung und Entwicklung. Mittels entschlossener Investitionen mit dem Ziel wissenschaftlicher und technischer Durchbrüche könnten wir den Frühling einer weltweiten wirtschaftlichen Wende herbeiführen, die auf neuen, sichereren und nachhaltigeren Verfahren zur Nutzung von Atomenergie beruht – und damit unsere Zivilisationen widerstandsfähiger macht.

 


Ich danke Peter Cauwels, Tatyana Kovalenko, Benjamin Sovacool, Hideki Takayasu und Spencer Wheatley für ihr wertvolles Feedback. Beim Schreiben dieser Zeilen griff ich auf sehr viel Forschungsliteratur zurück, die meisten der hier aufgeführten Zahlen und Daten haben Kollegen gesammelt und eingeordnet – eine Liste der von mir verwendeten Bücher, Artikel und Texte findet sich in der Onlineversion dieses Artikels auf www.schweizermonat.ch.

 

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Rummelsnuff, photographiert von Robert Bartholot.
«Steh auf!»

Ein Mann wie ein Hochseetanker: Seine Oberarme sind aus Stahl, im Maschinenraum dampftʼs – und im Kopf, auf der Brücke, wird stets nüchtern der Kurs bestimmt. Der Berliner Musiker Rummelsnuff hat viel erlebt und weggesteckt. Wie man die Untiefen des Lebens umschifft, weiss dieser Käpt’n deshalb ganz genau.

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