Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschafters

Vor mehr als 40 Jahren, inmitten des Vietnamkriegs, veröffentlichte Karl Popper in den «Schweizer Monatsheften» einen Essay, der der Frage nachging, wie sich verhindern lässt, dass die Wissenschaft von der Politik vereinnahmt wird. Er ist heute so zukunftsweisend wie damals.

Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschafters
Sir Karl Popper, Bild: UPPA / Insight Media.

Man darf wohl sagen, dass das Problem der moralischen Verantwortlichkeit des Wissenschafters heute mehr als früher einen jeden von uns angeht; heutzutage sind nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch alle anderen Wissenschaften anwendbar. Es gab einmal eine Zeit – und sie liegt nur etwa vierzig Jahre zurück –, in der der reine Naturwissenschafter oder der reine Geisteswissenschafter nur eine moralische Verantwortung hatte, die hinausging über die Verantwortungen, die wir alle haben: die Verantwortung nämlich, nach der Wahrheit zu suchen. Er hatte die Entwicklung seines Fachgebietes nach Kräften zu fördern. Soviel ich weiss, hat sich Maxwell über die mögliche Anwendung seiner Gleichungen keine Sorgen gemacht, und anscheinend hat sich nicht einmal Heinrich Hertz über einen möglichen Missbrauch der Hertz’schen Wellen den Kopf zerbrochen. Diese glücklichen Zeiten gehören der Vergangenheit an. Heute kann nicht nur alle reine Naturwissenschaft zur angewandten Naturwissenschaft werden, sondern sogar alle Wissenschaft, von der Logik bis zur Urgeschichte.

Für die angewandten Naturwissenschaften ist das Problem der moralischen Verantwortlichkeit nicht neu. Es wurde, wie so viele andere Fragen, erstmals von den Griechen aufgeworfen. Ich denke hier an den Eid des Hippokrates, ein erstaunliches Dokument auch dann, wenn vielleicht einige seiner wesentlichsten Grundgedanken sich heute als revisionsbedürftig erweisen sollten. Als ich an der Universität Wien promovierte, legte ich selbst einen Eid ab, der sich historisch zweifellos vom hippokratischen Eid herleiten liess. Aber eines der interessanten Merkmale des hippokratischen Eides war gerade, dass es sich nicht um einen Promotionseid handelte, sondern um einen Eid, den der Lehrling des Arztes am Anfang seiner Lehrjahre leisten musste. Der Eid beeinflusste seine Einstellung; er war Teil eines Einführungsritus, der dem Neuling das Gebiet der angewandten Naturwissenschaften eröffnete.

Der hippokratische Eid bestand im wesentlichen aus drei Teilen: Erstens verpflichtet sich der Lehrling, seine tiefe persönliche Verbundenheit gegenüber seinem Lehrer anzuerkennen. Dabei wird stillschweigend angenommen, dass auch eine entsprechende Verantwortlichkeit des Meisters gegenüber seinem Schüler besteht. Zweitens verspricht der Lehrling, die Tradition seines Berufes weiterzuführen, dessen von der Idee der Heiligkeit des Lebens getragene hohe fachliche Ansprüche aufrechtzuerhalten und später an seine Schüler weiterzugeben. Drittens verspricht er, dass er jedes Haus, in welches er je gerufen wird, nur betreten wird, um dem Leidenden zu helfen, und dass er über alles, was er dort während der Ausübung seines Berufes erfahren sollte, Stillschweigen bewahren wird.

Ich halte es für wichtig und nachahmenswert, dass es sich beim Eid des Hippokrates um einen Lehrlingseid handelte. In vielen Diskussionen über unser Thema gibt man sich nämlich zu wenig Rechenschaft über die Situation des Lehrlings, das heisst heute über die Situation des Studierenden. Aber gerade die, die am Anfang ihres Studiums stehen, machen sich Gedanken über die moralischen Verantwortungen, die sie auf sich zu nehmen haben, wenn sie später selbst als praktische Wissenschafter arbeiten werden.

[…]

 

Die Aufgabe der öffentlichen Politik

Vor vielen Jahren (in The Open Society, 1945, 5. Auflage 1969; deutsch bei Francke, Bern) habe ich vorgeschlagen, die Hauptaufgabe der öffentlichen Politik darin zu sehen, Mittel und Wege zur Vermeidung von vermeidbaren Leiden und Übeln zu finden. Ich stellte dieses Postulat dem des Utilitarismus entgegen, der ja das grösste Glück der grössten Zahl verlangt. Ich vertrat die Ansicht, dass die Förderung des Glücks hauptsächlich der persönlichen Initiative überlassen werden soll; die Behebung vermeidbaren Leidens hingegen gehört zu den Aufgaben der öffentlichen Politik. Desgleichen wies ich darauf hin, dass nicht wenige Anhänger des Nützlichkeitsprinzips, wenn sie von der Verwirklichung eines Höchstmasses von Glück sprechen, wohl an die Verminderung der Not dachten.

Natürlich habe ich nie vorgeschlagen, das Postulat über die möglichst weitgehende Verminderung von sozialen Übeln zum höchsten, allgemeingültigen Moralprinzip zu erheben. Ich glaube nicht an die Gültigkeit eines einzigen höchsten und auf alle Einzelfälle anwendbaren ethischen Grundsatzes. Ich wies daraufhin, dass wir uns im politischen Leben immer wieder neu darauf besinnen müssen, welchen unserer Aufgaben der Vorrang gebührt. Und wenn wir Prioritäten aufstellen, so sollten wir uns nicht so sehr vom Wunsch leiten lassen, das Glück zu vermehren, als vielmehr vom Willen, das Leiden zu vermindern. Möglicherweise wird dieses Postulat nicht für immer die Liste der Prioritäten bestimmen. Es kommt vielleicht einmal eine Zeit, wenn uns die Behebung vermeidbaren Leidens weniger wichtig erscheinen wird, als es heute der Fall ist.

 

Krieg, Freiheit, Demokratie

Heute ist – niemand wird das bestreiten – die Vermeidung von Kriegen die bei weitem wichtigste praktische Aufgabe; mit ihr lässt sich nur die Vermeidung eines Anwachsens von Unfreiheit und tyrannischer Unterdrückung vergleichen. Meines Erachtens müssen wir heute alle – sei es als Naturwissenschafter oder Geisteswissenschafter, als Bürger oder ganz einfach als Menschen – alles tun, das in unsern Kräften steht, um Kriege aus der Welt zu schaffen. Ein Teil unserer Bemühungen muss in dem Versuch bestehen, jedermann bewusst zu machen, was Krieg bedeutet, und zwar nicht allein an Tod und Zerstörung, sondern auch an sittlicher Entartung. Besonders besorgniserregend ist die wachsende Popularität des Kults der Gewalt. Wir alle kennen jene Erzeugnisse der sogenannten «Unterhaltungsindustrie» und ihre dauernde Verherrlichung der Gewalt, die angeblich harmlosen Wildwestfilme und Kriminalromane, die auch nicht vor der unverhüllten Zurschaustellung von brutalen Grausamkeiten haltmachen. Es ist tragisch, dass selbst echte Künstler und Wissenschafter dieser Propaganda erliegen. Leider lassen sich auch unsere Studenten – wie der um Che Guevara getriebene Kult zeigt – von ihr beeinflussen.

Aber ich glaube nicht, dass sich der Erste oder der Zweite Weltkrieg oder die sich zurzeit in Vietnam abspielende Tragödie als Ausdruck menschlicher Aggressivität erklären lässt. Heute zumindest kommt die Hauptgefahr von der Notwendigkeit, Widerstand gegen Angriffe zu leisten, und von der Furcht vor einem Angriff. Die Notwendigkeit, Widerstand zu leisten, und die Angst bilden, zusammen mit intellektueller Verwirrtheit und Hartköpfigkeit, manchmal vielleicht auch Grössenwahn, die Hauptquellen der Kriegsgefahr, die mit unsern ungeheuren Zerstörungsmitteln wächst.

Viele haben daraus gefolgert, der Wissenschafter sei nunmehr moralisch verpflichtet, alle Mitarbeit an Kriegsrüstungen zu verweigern und für die Abrüstung um jeden Preis, ja selbst für einseitige Abrüstung einzutreten. Aber diese Dinge sind nicht so einfach. Wir dürfen nicht übersehen, dass bis jetzt ein Atomkrieg gerade wegen gegenseitiger Bedrohung mit Vernichtung vermieden wurde. Die Abschreckungsmittel erfüllten bis heute ihren eigentlichen Zweck: Sie wirkten tatsächlich abschreckend. Aus diesem Grunde halte ich es für unrichtig, für eine einseitige Abrüstung einzutreten. Der Umstand, dass Japan keine Atombomben besass, hinderte uns seinerzeit nicht, unsere Atombomben zu verwenden. Es ist aber unwahrscheinlich, dass wir in moralischer Hinsicht minderwertiger sind als unsere Konkurrenten im Rüstungswettlauf. Die Frage, ob es richtig war, die Atombomben über Japan abzuwerfen, ist äusserst schwierig. Jene Wissenschafter, die für den Einsatz der neuen Waffe stimmten, waren zweifellos höchst verantwortungsbewusste Menschen. Sie scheinen mir aber einen wichtigen Punkt nicht hinreichend überlegt zu haben: Sie hätten darauf bestehen können, dass die Bombe, ungeachtet der höheren damit verbundenen Risiken, nur auf rein militärische Ziele abgeworfen werden darf, zum Beispiel auf eine Konzentration von Kriegsschiffen. (Solche Konzentrationen existierten damals.) Natürlich ist es furchtbar, eine Entscheidung von dieser Tragweite treffen zu müssen. Es ist leicht, diese Probleme im Nachhinein theoretisch zu diskutieren. Aber ganz anders ist die Lage jener, die mitten in der Auseinandersetzung stehen und sich darüber schlüssig werden müssen, welche Entscheidung zu weniger Leiden, Unglück und Zerstörung führen wird. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass die Politiker, die für die endgültige Entscheidung verantwortlich waren, als Beauftragte ihrer Wählerschaft handelten. Für viele mag das Grund genug sein, nie Politiker zu werden; aber wir sollten uns davor hüten, die Politiker leichtfertig abzuurteilen.

 

Verteidigung ist oft klar vom Angriff unterscheidbar

Niemand hat das Recht oder auch nur die Möglichkeit, sich von den grossen Pro-blemen unserer Zeit zu distanzieren: Wir müssen alles tun, um einen Krieg zu vermeiden und, falls er doch ausbrechen sollte, ihm ein Ende zu setzen. Das bedeutet nicht, dass ich zugebe, dass es einen gerechten Krieg, nämlich einen Verteidigungskrieg, nicht geben kann. Zwischen Angriff und Verteidigung liegen Welten. Alles, was man zugeben kann, ist, dass es manchmal nicht leicht fällt zu entscheiden, wer angegriffen hat. Aber wer glaubt im Ernst, dass Länder wie die Schweiz oder Schweden heutzutage einen Angriffskrieg führen würden? Wer glaubt wirklich, dass Serbien im Juli 1914 Österreich angriff oder dass Finnland am 30. November 1939 Russland überfiel? Wer zweifelt daran, ob es die Tschechoslowakei oder die Sowjetunion war, die 1968 zu den Waffen griff?

 

Kriegsdienstverweigerung

Man darf einen Wissenschafter, der sein Land bedroht sieht, nicht verurteilen, wenn er für die Verteidigung seines Landes arbeitet. Aber auch ein gerechter Krieg, ein Verteidigungskrieg, kann jeder Kontrolle entgleiten. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass es je einen Krieg gegeben hat, in dem nicht auf beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen wurden, oder dass es einen solchen Krieg geben kann. Wenn ein Krieg einmal ausgebrochen ist, so befindet sich der Wissenschafter, wie jeder andere Bürger auch, in einer schwierigen moralischen Zwangslage, und niemand kann ihm hier mit allgemeinen Rezepten helfen; in letzter Linie muss er sein Gewissen befragen.

Aber ein Punkt kann klargemacht werden: Es waren die zuständigen Politiker und Rechtsberater der Regierungen der alliierten Mächte, die die Nürnberger Prozesse durchführten und die damit das Prinzip der Strafwürdigkeit von Kriegsverbrechen aufstellten. Damit anerkannten sie, dass das Gewissen eines jeden Menschen die letzte Berufungsinstanz ist, die entscheidet, ob er einem bestimmten Befehl Widerstand leisten soll oder nicht. Aber damit ist es heute den gleichen Politikern und Juristen verwehrt, zu behaupten, dass der Staatsbürger – und das heisst in unserm Fall der Wissenschafter – verpflichtet sei, jedem Befehl zu gehorchen, ohne auch nur nach dem «Warum» zu fragen: Sie würden sich sonst widersprechen.

Die Freiheit, für die zu kämpfen wir bereit sein müssen, besteht gerade darin, dass wir auch frei sein müssen, uns einem Befehl zu widersetzen, wenn wir überzeugt sind, es sei verbrecherisch, ihm Folge zu leisten. Es ist daher in einem demokratischen Staatswesen die unumgängliche Pflicht eines jeden loyalen Politikers, den Gewissenskonflikt zu verstehen, in dem sich ein Wissenschafter oder ein Soldat befinden kann, und für die Rechte des Dienstverweigerers aus Gewissensgründen, sei er nun Wissenschafter oder Soldat, zu kämpfen.

Die heute in den Vereinigten Staaten geltende gesetzliche Regelung des Problems der Dienstverweigerer aus Gewissensgründen ist daher unzulänglich. Sie verlangt vom Dienstverweigerer, der sich auf sein Gewissen beruft, die Erklärung, er sei aus religiösen Gründen gegen alle Kriege schlechthin. Nun gibt es aber Menschen, die sich verpflichtet fühlen, für die Vereinigten Staaten zu kämpfen, falls ein Krieg zur Verteidigung ihres Landes geführt wird, die aber davon überzeugt sind, dass sie nicht mit gutem Gewissen in Vietnam kämpfen können. Moralische Bedenken dieser Art sollten respektiert werden: Sie sind moralisch ebenso wichtig wie die Gründe, die unter die heute gültige Definition der Dienstverweigerung aus Gewissensgründen fallen. Wie in andern Fällen glaube ich auch hier an den Wert einer ernsthaften und kritischen Diskussion über diese komplizierten Sachverhalte und an den Unwert eines von beiden Seiten mit billigen Schlagworten geführten Meinungsstreites.

 

Wissen und Macht

Robert Oppenheimer soll einmal gesagt haben: «Wir Wissenschafter sind in diesen Jahren bis zum Rand des Abgrunds der Vermessenheit gegangen. Wir haben gesündigt.» Aber auch hier handelt es sich nicht um ein neues Phänomen. Schon Bacon hat seinerzeit versucht, die Naturwissenschaften dadurch mehr anziehend zu machen, dass er erklärte: «Wissen ist Macht.» Damit stand auch er am Rande der Vermessenheit. Er hat zwar nicht über viel Wissen oder über grosse Macht verfügt; aber er strebte nach Wissen, weil er nach Macht strebte – oder mindestens erweckte er diesen Eindruck.

Ich will mich nicht auf philosophische Reflexionen über das Böse der Macht im allgemeinen einlassen, obwohl meine eigenen Erfahrungen die Bemerkung Lord Actons bestätigen, dass Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert. Was die Naturwissenschaften anbelangt, so meine ich, dass es eine Sünde wider den Heiligen Geist wäre, sie im wesentlichen als Mittel zur Vermehrung unserer Macht anzusehen. Das beste Gegenmittel gegen diese Versuchung ist, uns immer daran zu erinnern, wie wenig wir wissen. Die Bedeutung der höchsten geistigen Errungenschaften des Menschen liegt nicht so sehr darin, dass sie den Bereich unseres Wissens erweitert haben; es ist, glaube ich, von noch grösserer Bedeutung, dass sie uns neue Kontinente unseres Nichtwissens erschlossen haben.

 

Die Sozialwissenschaften: Entdeckung der ungewollten Folgen unserer Handlungen

Der Sozialwissenschafter trägt hier eine ganz besondere Verantwortung, denn sein Studium bezieht sich oft ganz direkt auf das Problem des Gebrauchs und des Missbrauchs der Macht. Ich glaube, dass besonders eine moralische Verpflichtung des Sozialwissenschafters allgemein anerkannt werden sollte: Wenn er neue Instrumente der Macht entdeckt, insbesondere Instrumente, die eines Tages der Freiheit gefährlich werden könnten, so muss er die Öffentlichkeit vor den drohenden Gefahren warnen und sich auch bemühen, wirksame Gegenmittel ausfindig zu machen. Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Wissenschafter – wenigstens die meisten schöpferisch tätigen Wissenschafter – den Wert unabhängigen und kritischen Denkens sehr hoch einschätzen. Die meisten unter ihnen verabscheuen schon die blosse Idee einer von den Technologen der Massenmedien manipulierten Gesellschaft; sie würden der Meinung zustimmen, dass die Gefahren der Sozialtechnologie nicht geringer sind als die des Totalitarismus. Aber obwohl wir die Atombombe gebaut haben, um die Ausbreitung des Totalitarismus zu bekämpfen, so betrachten es doch nur wenige als ihre Aufgabe, über Massnahmen nachzudenken, um die Gefahren der Manipulation der Massen zu bekämpfen. Dabei könnte zweifellos viel in dieser Hinsicht getan werden, und zwar ohne Einführung einer Zensur oder ähnlicher Beschränkungen der Freiheit.

Man könnte fragen, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine besondere Verantwortung des Wissenschafters, die sich von der jedes anderen Staatsbürgers oder jedes anderen Menschen unterscheidet. Ich würde antworten: Jedermann trägt dort eine besondere Verantwortung, wo er entweder über besondere Macht oder über besonderes Wissen verfügt. Nur die Wissenschafter können die Begleiterscheinungen und Folgen ihrer eigenen Leistungen abschätzen. Nichtfachleute, wie beispielsweise Politiker, wissen dazu nicht genug. Dies gilt für die Entwicklung neuer Chemikalien zur Erhöhung landwirtschaftlicher Erträge wie für die Herstellung neuer Waffen. Gerade, wie es in früheren Zeiten hiess: no-blesse oblige, so muss es heute heissen – der Ausdruck stammt von Professor André Mercier –: sagesse oblige. Es ist die Zugänglichkeit zu neuem Wissen, die neue Verpflichtungen schafft.

 

Die Naturwissenschaft und das Problem der ungewollten Folgen

Nur Naturwissenschafter können beispielsweise die Gefahren des Bevölkerungswachstums voraussehen oder die des zunehmenden Verbrauchs von Erdölprodukten oder der für friedliche Zwecke verwendeten Atomenergie (wegen des sich häufenden Atommülls). Wissen sie auch genug darüber? Sind sie sich namentlich der Grösse ihrer Verantwortung bewusst? Einige unter ihnen zeigen sich der Aufgabe gewachsen, andere nicht, so scheint es. Manche sind wohl zu sehr mit konkreten Aufgaben beschäftigt; andere geben sich vielleicht ganz einfach nicht genügend Rechenschaft. Aus diesem oder jenem Grunde scheint es niemand als seine Aufgabe zu betrachten, sich zum Beispiel um die ungewollten Auswirkungen der bedenkenlos vorangetriebenen technischen Entwicklung zu kümmern. Die Möglichkeiten der praktischen Anwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse sind betörend. Obgleich schon viele Leute daran gezweifelt haben, ob uns der technische Fortschritt in allen Fällen wirklich glücklicher mache, halten es doch nur wenige für ihre Pflicht, herauszufinden, wie viele vermeidbare neue Leiden die zwar ungewollten, aber oft unvermeidlichen Folgen des technischen Fortschrittes mit sich bringen.

Das Problem der ungewollten Folgen unserer Handlungen – Folgen, die nicht nur unbeabsichtigt, sondern oft auch nur schwer vorauszusehen sind – ist das grundsätzliche Problem des Sozialwissenschafters.

Da sich der Wissenschafter nun einmal unentwirrbar in die Anwendung seiner Wissenschaft verwickelt hat, so sollte er darin eine seiner besonderen Verpflichtungen sehen, die ungewollten Folgen seiner Tätigkeit so weit als möglich vorauszusehen. Dann kann er, bevor es zu spät ist, die Aufmerksamkeit auf jene ungewollten Folgen lenken, die wir vermeiden müssen.


Nach einem am Internationalen Philosophenkongress 1968 in Wien im Rahmen der Gruppe «Wissenschaft und Ethik» gehaltenen Referat.

 

Dieser Artikel, der hier leicht gekürzt abgedruckt wird, erschien zuerst in den «Schweizer Monatsheften», Band 50 (1970/71).

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!