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Die 5 grössten Problemzonen der EU

Die EU scheint jüngst von einer Krise in die nächste zu schlittern. Aktuell gibt es vor allem fünf Herausforderungen. Die Schweiz tut gut daran, sie sich ebenfalls anzusehen.

Die 5 grössten Problemzonen der EU
Edoardo Beretta, zvg.

Das nächste Jahr steht an. In ökonomisch-politischer Hinsicht besonders analysewürdig ist einmal mehr jenes komplexe Konstrukt, für dessen Funktionsmechanismen eine vollständige Betriebsanleitung immer noch aussteht: die EU. 2016 steht sie vor Herausforderungen, die sie über die kurz- bis mittelfristige Zukunft hinaus prägen könnten.

1) Schuldenkrise: Man sollte unter den jetzigen Reformbedingungen nicht glauben, dass die griechische Wirtschaftsnot nicht schon bald wieder aufflammen könnte. Trotz milliardenschwerer Finanzhilfen bleibt das strukturelle Problem ungelöst, dass zwischen den 19 Mitgliedsnationen der Währungsunion reale Unterschiede bestehen, die es schwierig machen, zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu finden. Auch die regelmässigen Besuche der Troika in Athen werden nicht an der Tatsache rütteln können, dass in einer Wirtschafts- und Währungsunion die Ansteckungsgefahr für andere kriselnde Länder bei virulentem Wiederaufflammen einer Krise nie gebannt werden kann. Das innereuropäische Gefälle bei so fundamentalen Wirtschaftsvariablen wie BIP pro Kopf, Inflationsraten oder Arbeitslosenquoten macht Versuche einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik wenig wirksam.

Beispiele für binneneuropäische Ungleichgewichte

 

EU (28 Länder)

EWWU (19 Länder)

 

Durchschnitt

Niedrigstwert

Höchstwert

Durchschnitt

Niedrigstwert

Höchstwert

BIP pro Kopf, KKP (2013)1

35.337,37$

15.731,70$ (Bulgarien)

91.047,59$ (Luxemburg)

37.773,97$

22.533,61$ (Lettland)

91.047,59$ (Luxemburg)

Renditen von langfristigen Staatsanleihen (Jan. 2015)2 

1,26%

0,35% (Tschechische Republik)

9,48% (Griechenland)

1,13%

0,35% (Tschechische Republik)

9,48% (Griechenland)

Beiträge zum Kapital der EZB (Jan. 2015)3 

3,5714%

0,0648%

(Malta)

17,9973% (Deutschland)

3,7048%

0,0648% (Malta)

17,9973% (Deutschland)

Inflationsrate (HICP) (2014)4 

0,6%

-1,6% (Bulgarien)

1,5% (Österreich); 1,5% (Vereinigtes Königreich)

0,4%

-1,4% (Griechenland)

1,5% (Österreich)

Beschäftigungsquote (2014)5 

69,2%

53,3% (Griechenland)

80,0% (Schweden)

68,2%

53,3% (Griechenland)

77,7% (Griechenland)

2) Deutschlands Rolle: Die Bundesrepublik ist die BIP-stärkste Nation Europas; entsprechend ist ihr wirtschaftlicher Gesundheitszustand für den Zustand der gesamten EU ausschlaggebend. Spätestens im März 2016, wenn in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Landtagswahlen stattfinden, wird die jüngste Politik der Bundesregierung (vor allem in Sachen Flüchtlinge) entweder bestätigt werden oder zur Vergangenheit gehören. Dann wird sich auch die zukünftige europäische Einstellung zu polarisierenden Themen (z. B. der Haushaltsdisziplin) herauskristallisieren.

3) Flüchtlingsdilemma: Neben der politischen Debatte sollte die Wirtschaftsebene, die schliesslich für den Gesamtwohlstand sorgt, auf keinen Fall zu kurz kommen. Neben dem direkten Finanzierungsaufwand bei der Integration hunderttausender Migranten, die die „schwarze Null“ staatlicher Etats schon jetzt rot zu färben drohen, sollte nicht vergessen werden, dass das BIP mit all seinen hochsensiblen Variablen je kaum einen externen Schock unverändert überstanden hat. Wird sich zudem der Konsumgütersektor an die unterschiedlichen neuen Bedürfnisse zahlreicher möglicher Asylempfänger anpassen können? Wer behauptet, dass durch die Aufnahme von Flüchtlingen der private sowie staatliche Konsum angeregt werden, missachtet, dass diese Aufnahme ‒ egal ob durch Anzapfung der Reserven aus Bilanzüberschüssen, Anhebung der Steuerlast oder Neuverschuldung ‒ auch finanziert werden muss. Wenn die Rechnung nicht aufgeht, dürften letztendlich die Bürger darunter leiden.

4) Das britische Damoklesschwert: Auch ein möglicher EU-Austritt Grossbritanniens nach der Volksabstimmung, die britische Regierungskreise für das Jahr 2017 oder sogar 2016 immer wieder ins Spiel bringen, würde den europäischen Kontinent alles andere als kalt lassen. Die EU sollte sich nicht nur vor wirtschaftlich ungewissen Effekten in Acht nehmen, sondern vor allem vor der Signalwirkung eines Austritts. Sobald es einen Präzedenzfall beim Austritt aus der EU oder Eurozone geben sollte, könnten andere kriselnde Länder bald darauf davon Gebrauch machen (oder zumindest nach bestem moral-hazard-Prinzip handeln) und damit den Zerfall des europäischen Bündnisses vorantreiben. Bereits heute ist klar, dass ein Wegfall des britischen Anteils (2.253,86 Mrd. €6) den BIP-Kuchen der EU (13.944,02 Mrd. €) beträchtlich schrumpfen lassen würde.

 

5) TTIP: Das Transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA ist Gegenstand harscher Kritik. Entsprechend werden die Verhandlungen zur weiteren Bewährungsprobe für das Verhältnis zwischen Eurokratie und Bürgern. Dass unter gleich entwickelten Kontinentalblöcken ähnliche Bedingungen sowie reziprok vereinfachte Verfahren herrschen sollten, ist selbstverständlich. Wie liesse sich aber ein solches Ergebnis erreichen, ohne dass die eigene Vorteilsposition zulasten des anderen Handelspartners ausgebaut wird? Bevor man den grossen Sprung überhaupt wagen sollte, wäre es fürs erste einfacher, die in der EU geltende einfuhrabgabefreie Obergrenze von 22 Euro (inkl. Versandkosten) bei Postsendungen aus Drittländern anzuheben. Seit je profitiert der Handel nämlich von einer Erleichterung von Kaufmöglichkeiten für den Einzelnen. 

Die Schweiz sollte sich angesichts der von der EU zu nehmenden Hürden glücklich schätzen, nicht ebenfalls mit einer solchen Vielzahl an Unbekannten konfrontiert zu sein. Die angesprochenen Probleme erfordern ein Koordinationspotenzial unter Mitgliedsländern, das selbst im Idealfall schwer zu erbringen ist ‒ und in der heutigen Konstellation aus 28 rechtlich gleichgestellten, wirtschaftlich aber ungleichen Ländern beinahe unmöglich scheint. Ein Blick auf die Variablen, die eben dazu dienten, das binneneuropäische Ungleichgewicht zu veranschaulichen, zeigt, dass die Schweizer mit dem Gesamtergebnis zufrieden sein können: 

Schweiz

BIP pro Kopf, KKP (2013)7 

56.939,67$

Renditen von langfristigen Staatsanleihen (Okt. 2015)8 

-0,27%

Inflationsrate (HICP) (2014)9 

0,0%

Beschäftigungsquote (2014)10 

82,3%

Der wichtigste Risikofaktor der europäischen Wirtschaftsstabilität bleibt die wiederkehrende Unvereinbarkeit gemeinsamer, mit einem Top-Down-Ansatz beschlossener Massnahmen, die gerade wegen ihrer intrinsischen Kompromissnatur wenig Beifall ernten können. Was bleibt, ist der fade Beigeschmack, dass Europa bei der Beantwortung von Kernfragen auch deswegen zögert, weil es einer Grundsatzdebatte aus dem Weg gehen will. Welche internationale Rolle sollte beispielsweise nach mehr als einem Jahrzehnt des Bestehens der Euro als Leitwährung spielen? Welche gemeinsame Verfahrensweise ist bei der Lösung von Streitigkeiten – sei es bezüglich der Flüchtlingsfrage oder Mitbestimmung in Wirtschaftskrisen – zu verfolgen? Und wie liesse sich gemeinsames mit schnellerem Entscheiden auf EU-Ebene vereinbaren? Sicherlich deckt keine Liste aus 5 Punkten alle offenen Fragen auf. Als erster Denkanstoss ist sie aber allemal etwas wert.

(Dr.) Edoardo Beretta ist Post-Doc Forscher am Institute of Economics der Università della Svizzera italiana (USI) in Lugano. 


1 http://databank.worldbank.org/data/reports.aspx?source=world-development-indicators

6 http://ec.europa.eu/eurostat/en/web/products-datasets/-/NAMQ_10_GDP

7 Quelle siehe Fussnote 1

8 https://www.oenb.at/isaweb/report.do;jsessionid=0A75F785F75A245C0A9D46FF0682246D?report=10.6

9 Quelle siehe Fussnote 4

10 Quelle wie in Fussnote 5

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