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Der vollkommene Augenblick

Merke: wenn du das nächste Mal spätabends auf einer Strasse voll dunkler Läden durch die ausgestorbene Innenstadt läufst und ein Besoffener hängt sich aus seinem Pick-up und schreit dir «Hey, du Schwuchtel!» hinterher, dann wirf ihm keinen Luftkuss zu. Erwäge die folgenden Alternativen: Bete. Stell dich taub. Hol den Schlüsselbund aus der Tasche, geh auf […]

Merke: wenn du das nächste Mal spätabends auf einer Strasse voll dunkler Läden durch die ausgestorbene Innenstadt läufst und ein Besoffener hängt sich aus seinem Pick-up und schreit dir «Hey, du Schwuchtel!» hinterher, dann wirf ihm keinen Luftkuss zu. Erwäge die folgenden Alternativen: Bete. Stell dich taub. Hol den Schlüsselbund aus der Tasche, geh auf die nächste Haustür zu und tu so, als würdest du aufschliessen. Zieh deine Brieftasche heraus, klapp sie auf und sprich laut hinein, als sei sie das Handy, das du am Morgen neben dem Bett deiner Freundin vergessen hast. Renn, so schnell du kannst. 

Merke: wenn du das nächste Mal einem besoffenen Schlägertyp in einem Pick-up einen Luftkuss zuwirfst und ihn damit derart auf Hundertachtzig bringst, dass er anhält, um dich windelweich zu prügeln, nimm nicht die bescheuerte Kung-Fu-Haltung ein, die du im Fernsehen gesehen hast. Renn, so schnell du kannst.

Merke: wenn ein besoffener Schlägertyp dich das nächste Mal windelweich prügelt und du es schaffst, ihn zu Fall zu bringen, dann glaube nicht, dass dieser unbedeutende, kurzlebige Sieg das Ergebnis deiner Kraft und Männlichkeit ist, und brüll ihm keinesfalls ein «Und wer ist hier die Schwuchtel, du beschissenes Sahneschnittchen?» ins Gesicht. Behalte im Kopf, dass du es hier mit einem besoffenen Schlägertyp zu tun hast, einem Schlägertyp, der so besoffen ist, dass er auf dem Weg vom Pick-up zu dir zweimal in die Knie gegangen ist. Behalte ebenfalls im Kopf, dass in besagtem Pick-up ein zweiter besoffener Schlägertyp sitzen könnte, ein grösserer und ein bisschen weniger besoffener besoffener Schlägertyp.

Merke: wenn das nächste Mal ein grösserer und ein bisschen weniger besoffener besoffener Schlägertyp aus dem Pick-up klettert und dir mit einer leeren Bierflasche hinterherrennt, die er wie einen Knüppel über den Kopf erhoben hat, halte ihm keine langatmigen Vorträge über deine eigenen sexuellen Präferenzen. Denke daran, dass er möglicherweise nicht von deinem Erfolg bei den Frauen (auch der: relativ) beeindruckt ist. Ziehe in Betracht – besser spät als nie – zu rennen, so schnell du kannst.

Merke: wenn dir ein besoffener Schlägertyp das nächste Mal eine leere Bierflasche überzieht und du dir den Kopf im Krankenhaus nähen lässt, sag nicht zum Arzt: «Wär ja was anderes, wenn ich wirklich eine Schwuchtel wäre.» Bedenke, dass der Arzt, der gerade eine Nadel durch deine Kopfhaut schiebt, eine solche Bemerkung aus persönlichen Gründen in den falschen Hals bekommen könnte. Denke an den Artikel, den du neulich über den prozentualen Anteil von Homosexuellen an der Gesellschaft gelesen hast. Bedenke auch, wie es bisher an diesem Abend um dein Glück bestellt war.

Merke: wenn ein Arzt, der gerade eine Nadel durch deine Kopfhaut schiebt, deine idiotische Bemerkung in den falschen Hals bekommt, versuche nicht, die Lage durch den Satz zu retten: «Viele meiner besten Freunde sind schwul!», auch wenn diese Aussage einen gewissen Wahrheitsgehalt hat. Tu lieber so, als würdest du an Gehirnerschütterung leiden. Bemerke, dass du dich benommen und desorientiert fühlst und keine Gehirnerschütterung vorzutäuschen brauchst.

Merke: wenn deine Freundin dich das nächste Mal aus dem Krankenhaus, wo dir gerade der Kopf genäht wurde, heimbringt und zu dir sagt: «Als wir uns kennengelernt haben, da habe ich anfangs auch gedacht, du wärst schwul», dann fahre sie nicht an: «Ja, danke, Mannweib!» Versuche stattdessen, ihre Bemerkung als Kompliment zu verstehen, als liebevollen Kommentar deiner sublimen Sensibilität – du bist auf Du und Du mit deinem inneren Ich, deiner innerlichen Weiblichkeit und so weiter und so fort. Ziehe in Erwägung, dich zu bedanken.

Merke: wenn dir deine Freundin das nächste Mal verziehen hat, dass du sie «Mannweib» genannt hast, und dich mit einem Eispack auf dem Kopf und einer Wärmeflasche unterm Rücken ins Bett gebracht hat und jetzt gerade mit ihren Küssen von deiner Brust zum Bauch nach unten wandert und du das Gefühl hast, da kommt gleich was richtig Schönes, grüble nicht darüber nach, ob sie nicht vielleicht doch etwas klein wenig Maskulines an sich hat – das eckige Kinn, die kräftigen Augenbrauen – und ob du sie nicht vielleicht deswegen so anziehend findest und ob womöglich doch etwas dran sein könnte an dem, was die besoffenen Schlägertypen gesagt haben. Gib dich lieber dem Vergessen dieses vollkommenen Augenblicks hin.

 


 

Die Kürzestgeschichte «The Perfection of the Moment» ist entnommen aus «Kilter: 55 Fictions» (Turnstone, 2003) und erscheint hier erstmals auf Deutsch. Wir danken dem Autor und The Cooke Agency für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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