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Das grosse Platzen

Drohen Europa und den USA Zustände wie während der Grossen Depression? Der Wirtschaftshistoriker Harold James mahnt zur Vorsicht: die Situation der 2010er Jahre lässt sich nicht einfach mit jener der 1930er Jahre vergleichen. Dennoch können wir aus der Vergangenheit viel lernen.

Das grosse Platzen

Herr James, «Unheil wurde öfter aufgeschoben als verhindert», sagte der Schweizer Financier Felix Somary, der schon 1926 auf Spekulationsblasen und die Gefahren einer möglichen grossen Depression hingewiesen hatte. Warum hatten bzw. haben es Mahner und Warner wie er damals und heute so schwer, sich Gehör zu verschaffen, bevor eine Krise einschlägt?

Wenn die Krise nicht da ist, will man auch nicht über sie nachdenken. Die Stimmung ist gut, die Kredite fliessen, man kann sich etwas leihen und leisten, die Party läuft – da will kaum jemand Spielverderber sein.

Als Sie 2001 provokativ vom möglichen «Ende der Globalisierung» gesprochen haben, sahen Sie sich da als einer jener spielverderbenden Mahner?

Ich wollte damals zeigen, dass unsere integrierte Weltwirtschaft genauso verwundbar ist, wie es die Globalisierungen im frühen 20. Jahrhundert und bereits im 17. und 18. Jahrhundert gewesen sind. Und ich wollte den Gründen für das Scheitern der früheren Globalisierungen nachgehen. Man verfällt leicht dem Glauben, dass Dinge, an die man sich gewöhnt hat, ewig weiterlaufen: die Sowjetunion, die Globalisierung, die Europäische Union… Die historische Erfahrung ist jedoch eine andere: es gab und gibt immer wieder grosse Strukturbrüche. Und die beste Methode, sich auf kommende Strukturbrüche vorzubereiten, besteht eben darin, über vergangene nachzudenken.

Sie haben das getan, indem Sie Ihre wissenschaftliche Arbeit viele Jahre lang der Erforschung der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gewidmet haben. Wird der Kenner dieser Jahre zum Pessimisten?

Ich würde mich eher als Realisten denn als Pessimisten bezeichnen. Ich vertraue darauf, dass wir die Fehler der Vergangenheit so nicht wieder machen werden. In den 1930er Jahren trafen drei Krisen und drei damit verbundene Erfahrungen zusammen: eine Krise der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, das heisst ein Rückfall in Protektionismus, eine Krise der Demokratie und eine Krise des internationalen Systems. Dieses Geflecht zu analysieren, zu verstehen, wie ein internationales System auseinanderfallen und scheitern kann – das schien mir eine wichtige Arbeit zu sein. Schliesslich besteht die Aufgabe von Historikern darin, nützliche Warnungen aus der Geschichte – oder besser: aus den Geschichten – herauszukristallisieren.

Das nützt nicht viel, wenn Warnungen nicht gehört werden. Wo, würden Sie sagen, stehen wir heute?

Was heisst «heute»? Für mich umfasst das Heute die letzten zehn Jahre. Es ist zum Beispiel merkwürdig, dass viele Experten der Weltwirtschaftskrise bei der amerikanischen Notenbank gearbeitet haben und immer noch arbeiten – nicht nur Ben Bernanke. Möglicherweise war die Politik dieser Kenner in den Jahren nach dem 11. September 2001 auf verhängnisvolle Weise von der Angst vor einer neuen Weltwirtschaftskrise beeinflusst. Die Experten betrieben eine übertrieben expansive Geldpolitik, um eine Grosse Depression zu verhindern, und haben damit paradoxerweise letztlich das Gegenteil bewirkt. Die Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank liess die transnationalen Kreditflüsse nach 2004 explosiv in die Höhe schnellen; viele Banken haben sich sehr billig über den amerikanischen Markt in Dollars finanziert. So ist es zu dieser grossen Kreditblase gekommen, deren erstes Platzen zuletzt die halbe Welt getroffen hat. Ein zweites – grosses – Platzen könnte uns noch bevorstehen.

Die Bankenkrise hat die bereits existierenden Schulden von Staaten stark erhöht und so Vergleiche mit den 1930er Jahren hervorgerufen. Wir fragen uns jedoch: wie aussagekräftig sind solche Vergleiche zwischen fundamental unterschiedlichen internationalen Ordnungen?

Es gibt wohl kaum jemanden, der sagen würde, dass sich eine Krise wie jene der 1930er Jahre genau so wiederholen wird. Natürlich hing ein gewichtiger Teil der damaligen Probleme mit den Erinnerungen und Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zusammen, mit Wirtschaften, die von Reparationszahlungen geschwächt, und mit Gesellschaften, die von der Kriegserfahrung brutalisiert waren – mit Prägungen also, die wir heute überwunden haben. Zwar ist im Laufe der jetzigen Krise zu beobachten, dass die nationalen Spannungen wieder zunehmen. Dass diese aber zu einem Krieg führen könnten, ist schwer denkbar, denn die meisten Teile Eurasiens und Nordamerikas sind insgesamt zu einer viel friedfertigeren Politik gekommen. Insofern sind die Ausgangslagen kaum vergleichbar.

Der Vergleich mit den 1930er Jahren ist also mit Vorsicht zu geniessen. Welche Ähnlichkeiten sehen Sie im Verlauf der Krisen?

Zentral ist das Zusammenkommen von Banken-, Schulden- und Währungskrise. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Krise der 1930er Jahre in Europa gleichsam moderner war als jene in Amerika. In den USA gab es damals keine systemrelevanten Banken. Eine Welle von Bankenpleiten liess Hunderte, dann Tausende von Banken bankrottgehen, keine davon war aber gross genug, das System zu Fall zu bringen. In Österreich hingegen, wo das europäische Problem seinen Ursprung hatte, kontrollierte die Wiener Creditanstalt 60 Prozent der Wirtschaft – eine solche Bank war in der heutigen Terminologie ganz klar «too big to fail». Die Rettung durch den österreichischen Staat hatte zur Folge, dass – genau wie heute – eine Verbindung zwischen Bankenkrise und Staatsschuldenkrise entstand und sich Staatshaushalte vor dem Bankrott wiederfanden.

Martin Wolf sagte in einem Gespräch mit dieser Zeitschrift, dass er 2008 die massiven Interventionen befürwortet habe, weil er damals eine Marktentwicklung habe kommen sehen, die ihm als noch schlimmer erschien als jene im Vorfeld der Grossen Depression. Wie haben Sie die Lage eingeschätzt?

Das war damals eine berechtigte Angst, und ich halte die Parallele in diesem Fall nicht für übertrieben. Nach den Interventionen von 2008 und 2009 herrschte Konsens über die Ursprünge der Krise. Man ortete drei Problemquellen: die Fehlanreize bei grossen Finanzinstituten, das globale Ungleichgewicht mit Handelsüberschüssen in asiatischen Ländern einerseits und Defiziten im Westen andererseits und drittens das zu billige Geld, das der Politik einiger Notenbanken, insbesondere der Federal Reserve Bank, geschuldet war.

Einverstanden. Nur: all die Probleme bestehen weiter.

Ja, ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Zwar wurden die globalen Ungleichgewichte durch das Schrumpfen der USA und anderer grosser Kreditländer etwas reduziert, im Grunde genommen sind die Probleme jedoch nicht nur ungelöst, sondern dominanter denn je – weil man ja eigentlich einfach weiterfährt wie bisher und dadurch die Probleme zusehends weiterträgt: das Inflationspotential, das die amerikanische Geldpolitik birgt, wird in die rapide wachsenden Entwicklungsmärkte wie Brasilien, die Türkei oder China exportiert und sorgt somit für Spannungen, die weit über Europa und die westliche Welt hinausreichen.

Finanz- und Wirtschaftskrisen sind wiederkehrende Phänomene. Weshalb ist die jetzige so viel schwerer zu lösen als beispielsweise jene der späten 1990er Jahre in Asien, wo der Internationale Währungsfonds (IWF) als Feuerlöscher auftreten konnte?

Die damalige asiatische Krise scheint im Rückblick leichter zu bewältigen als die jetzige europäische, weil die betroffenen Länder ein enormes Wachstumspotential hatten. Man konnte sich darauf verlassen, dass die betroffenen Volkswirtschaften – sofern sie die richtigen Strukturreformen einleiten würden – zu einem Wachstumskurs finden würden. Insofern war es sinnvoll, dass der IWF versuchte, die Marktpanik einzudämmen. Jetzt präsentiert sich die Lage aber anders: kann man realistischerweise hoffen, dass Portugal oder Griechenland zu neuem Wachstum kommen werden? Wenn man zum Schluss kommt, dass diese Hoffnung unbegründet ist, gefährdet der IWF mit willkürlichen Interventionen seine Ressourcen und verstösst gegen die eigenen Statuten.

Einige der fraglichen Länder haben nicht nur längerfristig ein Wachstumsproblem, sie sind bereits bankrott oder stehen kurz vor einem Bankrott. Wie gingen Banken und Politik in den 1930er Jahre mit drohenden seriellen Staatsbankrotten um?

Nun, man hat sie nicht abwenden können – und man kann sie, wenn die Bedingungen bleiben, wie sie nun mal sind, auch heute nicht abwenden. Die Staatsbank­rotte waren Teil des Scheiterns des offenen internationalen Systems: ein Zeichen dafür, dass Kapital nicht mehr von einem zum andern Land floss.

Können Staatsbankrotte nicht auch einen gesunden Neuanfang stimulieren?

Einige Leute sagen mit Blick auf Russland 1998 oder Argentinien 2001, dass man Staatsbankrotte erfolgreich durchführen und damit den Weg zu Wirtschaftswachstum bereiten könne. Beide Länder sind in den letzten Jahren stark gewachsen, aber diese Sicht ist oberflächlich: die Gesellschaftsstruktur wird durch Schuldenschnittbankrotte stark geschwächt. Viele Russen und Argentinier haben das Vertrauen in die Stabilität ihres Landes verloren und verlegen ihre Vermögen, nicht selten ihre ganze Existenz ins Ausland. Insofern sind auch sogenannt erfolgreiche Bankrotte in Wahrheit gefährlich und destabilisierend.

Das ist vor allem ein Plädoyer gegen ungeordnete Staatsbankrotte, denn in beiden Fällen haben die Staaten unilateral ihre Zahlungsunfähigkeit erklärt.

Richtig. Mit geordneten Staatsbankrotten hat man sehr wenig Erfahrung, und dies nur in relativ isolierten Volkswirtschaften wie Pakistan oder der Ukraine. In solchen international wenig engagierten Ländern mag ein Bankrott funktionieren, in grossen, handelsaktiven Ländern aber sind die Bankrottfolgen unendlich komplex; in Argentinien etwa halten die juristischen Streitereien und Unsicherheiten bis zum heutigen Tag an.

Kommen wir zu einem Land, das international sehr exponiert ist und die Krise bisher relativ gut überstanden hat: die Schweiz. Sind kleine Einheiten besonders krisenresistent?

Das Gegenteil ist der Fall. Gerade Kleinstaaten sind speziell verwundbar. So wie die kleinen Länder in der offenen Weltwirtschaft zu den grossen Gewinnern zählen, so sind sie durch Rückschläge in der Globalisierung auch die grossen Verlierer. Wurden Länder wie Singapur, Chile, Finnland oder die Schweiz lange als Globalisierungsgewinner gehandelt, tritt heute ihre grosse Verwundbarkeit zutage: Häufig auf ein Produkt oder einen Sektor spezialisiert, ist ein kleines Land schnell gesamtheitlich gefährdet, wenn die Strategie grosser Unternehmen – man denke etwa an Finnland und Nokia – oder tragender Branchen nicht mehr aufgeht. Das Schweizer Unternehmertum ist zwar vergleichsweise gut diversifiziert, die Spezialisierung auf den Finanzsektor macht aber auch diesen Kleinstaat verwundbar.

Dennoch ist die Schweiz im internationalen Vergleich stabil.

Heute leben wir nicht – oder noch nicht – in einer grossen Weltwirtschaftskrise. Das schnelle Wachstum der Schwellenländer fördert die Erholung der Weltwirtschaft. Diese Länder führen genau jene Güter ein, die in der Schweiz, aber auch in Süddeutschland oder Japan produziert werden: Maschinenbauprodukte und Werkzeuge. Für mich ist das der Grund dafür, dass es der Schweiz in der jetzigen Krise ziemlich gut geht.

Einverstanden: die neuen Absatzmärkte im Osten wirken stabilisierend. Warum beklagt dann aber gerade die Exportindustrie die Auswirkungen der Krise am vernehmlichsten?

Wenig günstig präsentiert sich natürlich die Lage für Exporte in die EU, wo weit und breit keine wirtschaftliche Besserung in Sicht ist. Insgesamt aber geht es der Schweizer Exportindustrie trotzdem immer noch relativ gut, denn die in diesem Sektor hergestellten Produkte sind von Natur aus ziemlich preisresistent. Für Leute, die teure Werkzeuge kaufen wollen, ist der Preis weniger entscheidend als die Qualität und die Beständigkeit der Leistungen nach der Lieferung. Das sind stabile Erfolgsfaktoren.

Der brasilianische Finanzminister benutzte als erster das Wort «Währungskrieg». Das ist ein Begriff aus den 1930er Jahren. Damals hat die Weltwirtschaftskrise den Aufstieg politisch linker und rechter Extreme beflügelt. Vertrauen Sie auch hier darauf, dass die Lektionen der Vergangenheit heute verinnerlicht sind?

Der Mensch neigt dazu, sich in Krisenzeiten nach Feinden umzuschauen, auch innerhalb der eigenen Gesellschaft. Häufig fällt die Wahl auf Leute, die geschäftlich erfolgreich sind, wie etwa in Asien zu beobachten war, wo die Krise in fast allen betroffenen Ländern von einem Ansteigen der Gewalt gegen die unternehmerisch aktive chinesische Bevölkerung begleitet war. Es ist sehr einfach: Wenn der Mensch vor einer gewaltigen Katastrophe steht, will er Schuldige identifizieren…

… und benennen: der «Bankster» ist heute in aller Munde. Eine perfekte Projektionsfläche – wofür?

Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein sehr diffuses Menschenbild; was darunter eigentlich zu verstehen ist, ist ziemlich unklar. In Deutschland etwa spricht man von den «Ackermännern» und lässt so einen einzelnen Menschen eine ganze Personengruppe repräsentieren. Zu diesem «Typus Ackermann» gehören selbstredend Attribute wie «Gier» oder «ruchloses Wirtschaften» – konkreter und fassbarer werden solche Feindbilder aber selten.

Schuldzuweisungen sind immer von einer Moralisierung des öffentlichen Diskurses begleitet. Die aktuelle Kritik, wonach Finanzkapitalismus und Konsumismus den Menschen korrumpiert hätten, ist aus der Geschichte wohlbekannt. Glauben Sie, dass sich dieses Unbehagen heute besser verwerten lässt als damals?

Es wäre zu hoffen. Die Kritik, dass Geld als ultimativer Wertmassstab der Welt zu einer Oberflächlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat, halte ich persönlich für berechtigt. Aktuell sehe ich überall nur Unsicherheit, nichts – noch nicht einmal Staatspapiere! – ist mehr sicher. Grundsätzlich kann man sagen: es gibt produktive, etwa politische Krisen, die dazu führen, dass sich die Menschen hoffnungsvoller und besser fühlen. Finanzkrisen hingegen sind meist von einem zermürbenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit geprägt.

Sie haben anhand von Herzstatistiken gezeigt, dass Finanzkrisen die Mortalitätsraten ansteigen lassen. Haben Sie die aktuellen Statistiken schon untersucht?

Nein. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die Herzkrankheiten in Griechenland zugenommen haben.

Und wie schöpfen Sie selber Hoffnung und schützen sich so vor Herzkrankheiten?

Für mich liegt der einzige Weg in der Rückbesinnung auf ältere, tiefere Wahrheiten, auf ehrliche Beziehungen zu anderen Menschen oder Gott. Gerade sah ich in Florenz eine Ausstellung über Girolamo Savonarola und die Rückkehr von Gott in den krisenhaften 1490er Jahren. So wie Florenz damals durch Furcht geprägt war, haben auch wir seit dem 11. September ein Jahrzehnt der Furcht und Verwundbarkeit erlebt – in Flugzeugen, in Grossstädten, in Finanzkrisen. Die beste Gegenkraft zu diesem Gefühl sind menschliche Beziehungen, die nicht auf Furcht, sondern auf Vertrauen, Zuversicht und Offenheit basieren. Tiefe Beziehungen bilden die einzige Basis, auf der wir als Gemeinschaft überleben können.

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