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Aus der Gruft

Warum viele Politiker tote Ideen lieben – und allen anderen damit das Leben schwer machen.

Aus der Gruft
Moisés Naím, photographiert von Gianluca Battista.

Wir alle kennen solche Menschen: eine Freundin, die sich immer in den falschen Mann verliebt, oder einen talentierten Kollegen, der dauernd den Job wechselt, weil er nicht mit Autoritäten umgehen kann. Sigmund Freud prägte dafür den Begriff «Wiederholungszwang» – ein psychologisches Verhaltensmuster, bei dem Menschen schädliche Handlungen ständig wiederholen müssen, obwohl sie sich der negativen Konsequenzen bewusst sind.

Dieses Phänomen betrifft nicht nur Individuen, sondern sucht auch politische Gruppierungen und manchmal ganze Länder heim. Sie gehen Politikern auf den Leim, die Ideen propagieren, die bereits früher vergeblich probiert worden sind. Es wäre schön, wenn schlechte Ideen, die längst zu Grabe getragen worden sind, auch da bleiben würden. Leider tendieren sie dazu, stets von neuem aufzutauchen und rasch an Popularität zu gewinnen.

Vor einigen Jahren schlug ich für dieses Phänomen den Begriff «ideologische Nekrophilie» vor. «Nekrophilie bedeutet, sich sexuell zu Leichen hingezogen zu fühlen. Entsprechend bedeutet ideologische Nekrophilie, auf tote Ideen fixiert zu sein. Es stellt sich heraus, dass diese Krankheit häufiger in ihrer politischen als in ihrer sexuellen Form vorkommt. Wenn Sie heute abend den Fernseher anschalten, wird Ihnen mit Sicherheit mindestens ein Politiker begegnen, der leidenschaftlich in eine Idee verliebt ist, die sich schon vor langer Zeit als falsch erwiesen hat, oder der einen Glauben verteidigt, der längst widerlegt worden ist.»

Nehmen wir z.B. den Maoismus. Die Doktrin betonte die Notwendigkeit einer «permanenten Revolution», insistierte, dass Bauern die zentralen Pfeiler des politischen und ökonomischen Lebens sein sollten, erhob die landwirtschaftliche Kollektivierung zur Norm und privilegierte kleine Industrien gegenüber grösseren ökonomischen Einheiten. Mao Zedongs Kulturrevolution, sein Grosser Sprung nach vorn und weitere Kampagnen richteten unglaubliche Verwüstungen an, führten zur grössten Hungerkatastrophe der Geschichte und dem Tod von mehr als 40 Millionen Chinesen. In den Achtzigern kam eine offizielle chinesische Zeitung zum Schluss: «In seinen späten Jahren machte er während einer langen Periode grosse Fehler. Das Resultat war eine enorme Katastrophe für das Land. Seine Politik verursachte eine historische Tragödie.» Man könnte meinen, solche deutlichen Worte hätten Maos Ideen endgültig entzaubert – stattdessen gibt es noch heute in einer überraschend grossen Zahl an Ländern jede Menge selbsternannter maoistischer Rebellengruppen und Parteien.

Der Peronismus ist ein anderes Beispiel. Argentinien hat die zweifelhafte Ehre, das einzige Land zu sein, dem es gelungen ist, sich «zurückzuentwickeln», nachdem es einen Lebensstandard erreicht hatte, der jenem westlicher Länder ebenbürtig war. Argentiniens lange Liaison mit dem Peronismus trägt dabei die Hauptschuld. Juan Domingo Perón, in den Vierzigern und Fünfzigern und dann erneut in den Siebzigern Präsident, war ein Vordenker des Populismus, der sich später in Lateinamerika und darüber hinaus weit verbreiten sollte. Er und seine Nachahmer förderten den Nationalismus, machten Versprechen, die sie unmöglich halten konnten, schürten den Hass zwischen verschiedenen Ethnien und Religionen und führten im Namen der Armen massive Umverteilungen durch, die langfristig alle ärmer machten.

Klar: die meisten Politiker sagen den Leuten das, was sie hören möchten. Aber sogenannte Populisten gehen dabei viel weiter. Wer wissen will, wie eine Extremform des Populismus im 21. Jahrhundert aussehen kann, braucht bloss den ehemaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zu betrachten. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2013 vertrat er eine Politik, die bereits früher in Venezuela und anderen Ländern kläglich gescheitert war. Er setzte die Preise von Gütern und Dienstleistungen unterhalb ihrer Produktionskosten fest, enteignete die Besitzer privater Firmen und übertrug die Firmen an Beamte. Er liess es zu, dass die Regierungsausgaben und die Schuldenlast ins Unermessliche stiegen, und versuchte die Bevölkerung durch Handouts, die langfristig nicht aufrechterhalten werden konnten, zum Konsum zu ermuntern. Er schreckte Investoren ab, setzte auf Importe statt Exporte und versuchte, die Wechselkurse strikt zu kontrollieren.

Das Resultat: das Land mit den grössten Ölreserven der Welt muss inzwischen Benzin importieren. Es leidet unter der weltweit höchsten Inflationsrate und kritischen Nahrungs-, Medizin- und Ersatzteilengpässen. Der Staat, dessen Bürger früher das höchste Pro-Kopf-Einkommen in ganz Lateinamerika hatten, steckt nun in einer tiefen humanitären Krise. Aus einer der am längsten bestehenden Demokratien der Gegend ist ein Failed State geworden, der auf seine Armee zurückgreifen muss, um seine autoritären Massnahmen weiterhin durchsetzen zu können. Und dennoch finden Chávez’ Ideen in Venezuela und dem Ausland weiterhin zahlreiche Bewunderer.

Ideologische Nekrophilie kann in allen Denkschulen gefunden werden: unter Rechten wie Linken, Umweltschützern, Sezessionisten und Nationalisten, religiös orientierten Politikern und Atheisten, Verteidigern des freien Marktes, eines starken Staates sowie der ökonomischen Austerität.

In den Vereinigten Staaten hat Donald Trump vorgeschlagen, 11 Millionen Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus zu deportieren, eine Mauer entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze zu errichten und es Muslimen per Moratorium zu verbieten, in die USA einzuwandern oder das Land auch nur zu betreten. Dieser Plan erinnert an die tragischen Erfahrungen, die Europa mit Versuchen gemacht hat, bestimmte «gefährliche» soziale Gruppen zu diskriminieren und aus ihrer Heimat zu vertreiben. Die USA bauen seit Jahren Zäune und Mauern, um illegale Einwanderer davon abzuhalten, die Grenze zu überqueren, ohne damit das Problem lösen zu können. Die Annahme, dass man im Zeitalter der Globalisierung bloss eine längere und höhere Mauer bauen müsse, um Migranten abzuschrecken, ist irrig. Solche Vorschläge liefern nicht nur nicht das gewünschte Resultat, sie sind auch praktisch unmöglich umzusetzen. Doch es ist offensichtlich, dass das Trumps Anhängern egal ist. Es sind gerade diese schlechten Ideen, die sie anziehen.

Auch europäische Politiker lassen sich von längst widerlegten Phantasievorstellungen verführen, namentlich der des abgeschotteten Nationalstaates. Politiker wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán glauben wie Trump, die beste Verteidigung gegen Einwanderer bestünde im Bau eines grossen Grenzzauns. Dieselbe verzweifelte Methode haben bereits die chinesischen Kaiser vor Jahrtausenden versucht – wobei auch sie gescheitert sind. Die Geschichte zeigt eindeutig, dass geschlossene Grenzen kein guter Weg sind, um für Frieden und Wohlstand zu sorgen.

Der französische Front National erweist sich mit seiner gruseligen Mischung aus Nationalismus und Sozialismus ebenfalls als Verfechter von «Zombie-Ideen». Die Partei tritt dafür ein, französische Arbeiter gegenüber Nichtfranzosen zu bevorzugen, was in eine Zweiklassengesellschaft mündete. Ausserdem möchte sie das Land durch hohe Einfuhrzölle vor der Globalisierung schützen – eine Praxis, die in den Sechzigern und Siebzigern von vielen Entwicklungsländern probiert wurde und ihnen hauptsächlich mehr ökonomische Ineffizienz und Korruption beschert hat.

In den USA hat Ted Cruz, Trumps Konkurrent beim Rennen um die Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat, behauptet, der beste Weg, ISIS zu bekämpfen, bestünde in einem Flächenbombardement Syriens und des Iraks. Dabei ignoriert er geflissentlich, dass die Doktrin des «Islamischen Staates» v.a. in Europa, den USA und in Asien Anhänger gewinnt und dass es sich bei ISIS eher um eine gestaltlose Inspirationsquelle als um eine Organisation mit einem festen Hauptsitz handelt. Ausserdem haben die USA mehr als genug Erfahrungen mit Bombardierungskampagnen in fernen Ländern gemacht, die das genaue Gegenteil von dem bewirkten, was die Planer in Washington erreichen wollten. Im «Atlantic» schilderte Henry Grabar vor einigen Jahren eindrücklich, wie die USA in den Sechzigern und Siebzigern mehr Sprengstoff auf Kambodscha abwarfen, als die Alliierten während des gesamten Zweiten Weltkriegs verwendet hatten, und dabei eine unsägliche Anzahl Menschen töteten. Hunderttausende von Dorfbewohnern sahen sich gezwungen, in die Hauptstadt zu flüchten, was zu einer Überbevölkerung und zu Nahrungsmittelknappheiten führte; ländliche Kambodschaner, die vorhin politisch neutral gewesen waren, radikalisierten sich. Diese Bedingungen dürften den Aufstieg der Roten Khmer begünstigt haben.

Die republikanischen Präsidentschaftskandidaten haben keineswegs ein Monopol auf ideologische Nekrophilie. Bernie Sanders’ Vorliebe für massive Regierungsprogramme reiht ihn in eine lange Tradition von Populisten ein, die ihre Augen vor der Notwendigkeit verschliessen, für fiskalische Balance zu sorgen, was zu Defiziten im Regierungsbudget führt, die sich nicht aufrechterhalten lassen. Die Pläne auf seiner Kampagnenwebseite sehen schätzungsweise 18 bis 30 Billionen Dollar Mehrausgaben innert der nächsten zehn Jahre vor. Sanders verspricht den jungen Anhängern, die ihm massiv zuströmen, einen Sozialismus europäischen Zuschnitts. Was er aber zu erwähnen vergisst: wenn seine jungen Anhänger Europäer wären, würden viele von ihnen arbeitslos sein, ohne die Aussicht zu haben, bald eine einigermassen fair bezahlte Stelle zu finden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele seiner politischen Ideen schon probiert worden sind und die meisten davon überhaupt nicht funktionieren.

In einer Welt, in der ein paar Tastenschläge am Computer genügen, um sich Informationen über die Erfolgsgeschichte eines bestimmten ökonomischen oder politischen Vorschlags zu verschaffen, überrascht es, dass die ideologische Nekrophilie weiterhin so weit verbreitet ist. Der wohl wichtigste Grund, weshalb schlechte Ideen so lange überleben, ist, dass schnelle Veränderungen in der Bevölkerung zu Verunsicherungen führen und viele Menschen dazu tendieren, einem Anführer glauben zu wollen. Das kommt der Tendenz von Demagogen sehr entgegen, das Blaue vom Himmel zu versprechen und dabei selbst auf die diskreditierten Versprechen früherer Demagogen zurückzugreifen, um an die Macht zu kommen und ihre Macht zu erhalten.

Es ist die Aufgabe wacher Zeitgenossen, dafür zu sorgen, dass die «Zombie-Ideen» bleiben, wo sie hingehören: im Grab der Geschichte.

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