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Arkadien und Robotien

Thomas Piketty trifft in seinem Bestseller einen Nerv der Zeit in der westlichen Welt: die Angst vor dem Bedeutungsverlust der Arbeit gegenüber dem Kapital. Hinter viel Zahlenmaterial und wissenschaftlich erscheinender Denkweise verbirgt sich vor allem eins: politische Absicht.

Arkadien und Robotien
Konrad Hummler, photographiert von Philipp Baer.

Man stelle sich zwei idealtypische Welten vor, wie es sie niemals gegeben hat noch geben wird, die aber zum Zwecke der sauberen Gedankenführung verdienen, evoziert zu werden. In der einen Welt, nennen wir sie Arkadien, gibt es nur den Produktionsfaktor Arbeit. Jede Familie lebt von dem, was sie selber herstellt. Es gibt keine Maschinen, die anderen gehören, kein Telephonnetz, keine Strassen. Der – selbst in dieser extrem vereinfachten Wirtschaft unvermeidliche – Produktionsfaktor Land sei in dem Sinne unkritisch, als er einfach völlig regelmässig jeder Familie zur Verfügung stehe. In der anderen Extremwelt, sie könnte Robotien heissen, gibt es just den Produktionsfaktor Arbeit nicht. Vielmehr nehmen intelligente Maschinen vor, was bisher Menschen erledigt hatten, von der Aussaat über die Getreideernte bis hin zum Brotbacken und zum Verteilen der Backwaren an die Bevölkerung. Die Kindergartentante ist ein Roboter, ebenso die Krankenschwester am Bett von Betagten. Von allen Produktionsfaktoren gibt es nur noch einen – das Kapital.

Irgendwo dazwischen liegen die real existierende Welt beziehungsweise die Tausenden von Wirklichkeiten, welche die verschiedenen Gesellschaftsstrukturen auf diesem Globus ausmachen. Ihnen gemeinsam ist die Kombination von Arbeit mit weiteren Produktionsfaktoren wie Land, Fabriken, Wissen, Know-how, Finanzkapital und anderen mehr. Die Kombinationsweise als solche sowie die Frage, in wessen Hand sich welche Faktoren befinden, bestimmen die spezifische Form des Zusammenlebens: wie friedvoll oder aggressiv die Menschen miteinander umgehen, wie erfolgreich sich eine Gesellschaft auf internationaler Ebene bewegt, wie optimistisch eine Jugend in die Zukunft blickt. Um die Kombinationsweise von Arbeit mit anderen Produktionsfaktoren geht es im Buch des bis vor kurzem völlig unbekannten französischen Ökonomen Thomas Piketty «Le capital au XXIe siècle», 2013 erschienen. In seiner englischen Übersetzung («Capital in the 21st Century», Harvard University Press, 2014) wurde der gut 700seitige Wälzer bisher in rund 300 000 Exemplaren verkauft. Solche Verkaufszahlen erzielt in so kurzer Frist sonst nur Belle­tristik wie die Harry-Potter-Bände oder Bücher von Dan Brown.

Pikettys Werk hingegen ist schwere Kost und bewegt sich in einer eigenen, fremden, schematischen Gedankenwelt. Ich brauchte meine Vorstellungswelt von Arkadien und Robotien, um überhaupt ansatzweise zu verstehen, worauf das Buch hinauswill. Keine Frage: in Arkadien stellt sich das «Piketty-Problem» nicht. Der erste Teil dieses Problems besteht nämlich darin, dass Arbeit, verglichen mit dem Ertrag, den andere Produktionsfaktoren erzielen, schlechter entlöhnt werde, wie er behauptet und in unendlichen Datenreihen beziehungsweise Graphiken nachzuweisen versucht. In Arkadien verfügt jeder über sein Humankapital und dessen Ertrag, und damit hat es sich. Der Kapitalstock – das in dieser Versuchsanordnung den Familien zur Verfügung gestellte Stücklein Land – kann sich in Arkadien nicht vermehren. Damit stellt sich auch der zweite Teil des «Piketty-Problems» nicht, nämlich die Frage der künftigen Verteilung des Eigentums am Kapitalstock innerhalb der Bevölkerung. Piketty behauptet, dass die Verteilung dieses Eigentums immer ungleicher werde und dass dies eine sozialpolitische Herausforderung globalen Ausmasses darstelle. Als Gegenmittel schlägt er eine scharfe, global wirksame Besteuerung der immer geringer werdenden Anzahl von Superreichen und Superverdienenden vor.

In Robotien, wo niemand zu arbeiten braucht beziehungsweise gar niemand mehr zur Arbeit zugelassen wird, weil die intelligenten Maschinen alles besser können, das heisst produktiver als die Menschen sind, stellt sich hingegen nur noch das «Piketty-Problem», und zwar dessen zweiter Teil. Dies ist die Frage, wie das Eigentum am Kapitalstock verteilt ist, da infolge der Abwesenheit von Arbeit kein Arbeitseinkommen generiert werden kann und mithin die Erträge aus dem Kapital lebensnotwendig sind. Befände sich in Robotien das Kapital in der Hand ganz weniger Superreicher, so würde sich für sie bald einmal eine «Dagobert-Duck-Situation» einstellen, also die bedauernswerte Existenz im Innern eines Geldspeichers. Wovon sich der Rest der Menschheit ernähren würde, ob der Kreislauf von Produktion, Konsum und Kapitalerträgen so überhaupt denkbar wäre – hier stösst das idealtypische Exempel wohl an seine Grenzen, zeigt aber auch die Relevanz von Pikettys Überlegungen auf.

Hohe Ansprüche an das Vorstellungsvermögen der Leser – was erklärt dann aber den stupenden Erfolg des Buches? Der Grund für den «Piketty-Hype» liegt unseres Erachtens nicht in einer plötzlich entstandenen Neidkultur gegen Hedge-Fund-Oligarchen und Supermanager. Bei allen schlechten Eigenschaften, die US-Amerikaner haben mögen: Neid gehört typischerweise nicht dazu. Der Bestseller-Erfolg gründet tiefer, genau wie dies für die Occupy-Wall-Street-Bewegung auch zutrifft. Piketty trifft die Seelen, indem er einerseits die Sehnsucht nach Arkadien anstösst und anderseits die mulmige Befürchtung nährt, dass Produktivitätsfortschritte den Arbeiter (im weitesten Sinne gemeint) letztlich überflüssig machen und der Mensch in Abhängigkeit einer ihm immer unheimlicher werdenden Real- und Kapitalmaschinerie gerät. Arkadien steht für Calvin und Rousseau in Kombination: rechtschaffene Arbeit im Schweisse deines Angesichts mit wohlverdienter Entlöhnung im Naturzustand. Kein Wunder, dass nicht die französische, sondern erst die amerikanische Edition Furore machte.

Wenn ein schwer lesbares und mit enorm viel Datenmaterial vollgestopftes Buch Furore macht, dann muss es sich um das Phänomen eines Zeitgeistes handeln, der analysiert und qualifiziert zu werden verdient, unbesehen davon, was vom konkreten Inhalt des Buchs zu halten ist. Denn selbst wenn es so wäre, dass alles, wirklich alles Inhaltliche falsch wäre, müsste dennoch der buchstäbliche Tsunami, den das möglicherweise Falsche zur Folge hätte, auf dessen längerfristige Bedeutung hin überprüft werden. Zumal ja das Buch in sehr handfesten Empfehlungen zur scharfen Besteuerung Vermögender und jener, die davon leben, endet und dafür den moralischen Support und die akademische Legitimation liefert. Die Erfahrung lehrt, dass es schwierig bis aussichtslos ist, gegen den Zeitgeist anzukämpfen. Man kann bestenfalls mit ihm umgehen und halbwegs damit leben.

 

Das politische Programm

Wofür also steht Piketty? Einerseits für eine romantische Vorstellung, ja eine Verklärung von «Arbeit». Andrerseits für eine Dämonisierung dessen, was ohnehin nur wenige wirklich verstehen, nämlich «Kapital». Insofern sind wir, wieder einmal, nahe bei Marx. Gebündelt wird das Unbehagen über die Bedeutungsverschiebungen zwischen Arbeit und Kapital mit dem Gleichheits- beziehungsweise Gleichstellungsgedanken. Das Bild der sich öffnenden Kluft zwischen Arm und Reich wird mit seinen eigenen Daten unterlegt. Und drittens wird mit der Idee einer globalen Reichtumssteuer einer nichtexistenten Metainstanz eine Aufgabe zugedacht, die letztlich der Idee eines pseudoreligiösen Ablasses näherkommt als einem konkret praktikablen Massnahmenpaket gegen die Ungleichheit. Dieses dritte Element ist der von Marx in Aussicht gestellten «Diktatur des Proletariats» verdächtig ähnlich, einem in dialektischem Sinne durch den Aufstand der Arbeiterschaft und durch die Inbesitznahme der Produktionsmittel zwangsläufig herbeigeführten Endzustand der Geschichte. Die Gefahr, dass die herbeigesehnte Utopie, partiell und auf bestimmte Regionen beschränkt (welche wohl?), zum politischen Programm werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen.

Dreierlei trifft also zusammen: erstens (durchaus berechtigte) Gefühle des Unbehagens bezüglich der weiteren Entwicklung von Arbeit, Produktivität und Kapital. Zweitens die Heraufbeschwörung romantischer Bilder (rechtschaffene Arbeit) und Wertvorstellungen (Gleichheit!). Drittens ein quasimessianisches Weltgericht (wer hat, dem wird genommen).

«Capital in the 21st Century», es wurde vom Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Krugman als «bahnbrechendes Meisterwerk» bezeichnet, ist ein Machwerk, ein gut mit Zahlenmaterial getarntes, aber letztlich nach allen Regeln der Kunst erstelltes politisches Pamphlet. Es hat als solches das Potential, Eckstein einer neuen Pseudoreligion zu werden. Ihr Credo wäre die alte Idee der materiellen Gleichheit und der Gleichstellung, ihre Waffe wäre die durch «wissenschaftliche» Methoden legitimierte Expropriation mittels Höchstbesteuerung, was dank den durch die OECD vorwärtsgetriebenen Fiskalmassnahmen zwischen den Staaten kein Ding der Unmöglichkeit mehr ist. Wer sich in den höchsten Einkommens- und/oder Vermögensklassen bewegt – und unseres Erachtens auch jene, die deutlich darunter liegen, denn die Geschichte lehrt, dass es bei solchen «Übungen» stets den Mittelstand trifft –, tut gut daran, seine strategischen Überlegungen auf die weitere Ausbreitung dieser Pseudoreligion auszurichten.

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