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Am Rande des Chaos

Der Historiker Niall Ferguson sucht im Rauschen der Ereignisse nach Signalen, die den Menschen prägen. Und er stellt die Frage: Was, wenn es anders gekommen wäre? Ein persönlicher Schnelldurchlauf durch die Geschichte: von A wie AJP Taylor über N wie neutrale Schweiz bis Z wie Led Zeppelin.

Am Rande des Chaos
Niall Ferguson, photographiert von Giorgio von Arb.

Herr Ferguson, wünschen Sie manchmal, Sie könnten Ihr Gehirn ausschalten und zwischendurch das Leben eines Halb- oder Unwissenden geniessen?

Wie kommen Sie darauf?

Sie waren 48 Stunden nonstop unterwegs, Rede reiht sich an Rede, Auftritt an Auftritt. Und sonst reiht sich Aufsatz an Aufsatz, Buch an Buch…

…Übung macht den Meister! Ich liebe es, wenn das Gehirn auf Hochtouren läuft. Als ich ein kleiner Junge war, trug mir meine Mutter jeweils ein Gedicht des amerikanischen Lyrikers Ogden Nash vor: «See the happy moron, He doesn’t give a damn. I wish I were a moron. My God, perhaps I am!» Sie verstehen? Ich habe die Lektion verinnerlicht, die mir meine Mutter mit auf den Weg gab: dass ich nie mit dem Denken aufhören und dass ich mich selbst zugleich nie zu ernst nehmen soll. Seit Jahr und Tag versuche ich, nicht ein glücklicher Idiot, sondern ein glücklicher Denker zu sein. Klar, manchmal habe ich meine idiotischen Momente. Aber ich hege nicht den Wunsch, mein Denken abzustellen. Ich wünschte mir im Gegenteil, ich hätte mehr Zeit zum Nachdenken.

Teil Ihrer Denkarbeit sind Experimente mit kontrafaktischer Geschichte und «Was wäre, wenn…?»-Fragen. Was wäre gewesen, wenn Sie nicht nach Oxford gegangen wären, um Ihren Kopf zu trainieren, sondern dem Wunsch Ihres Vaters gefolgt und Rugbyspieler für Schottland geworden wären?

Ich war nie auch nur ansatzweise gut genug in Rugby und kam an meiner Schule nicht mal unter die besten 15. So realisierte mein Vater früh genug, dass er keinen Rugbystar produziert hatte (lacht). Ich hatte aber einst noch einen anderen Plan: mich als Polizist zu bewerben, statt zu studieren. Als ich dies später mal einem meiner Oxford-Dozenten erzählte, meinte er süffisant, dass aus mir bestimmt ein guter Polizist geworden wäre. Vielleicht hatte er recht. Und vielleicht wäre ich heute nützlicher. Aber ich habe meine Entscheidung nie bereut, mich auf die Historie zu verlegen. Und dies, obwohl mich mein Onkel ständig fragte, wann ich endlich einen richtigen Beruf erlernen würde.

Welcher akademischen Trophäe bedurfte es, damit er aufhörte, diese Frage zu stellen?

Er verstarb leider und ging in der – richtigen! – Annahme von dannen, dass ich niemals richtig erwachsen und ewig an Universitäten rumhängen würde.

Nun haben Sie die Zeit an den Universitäten produktiv genutzt: Sie haben über 6000 Buchseiten publiziert, unzählige Artikel geschrieben, an US-amerikanischen und britischen Universitäten unterrichtet und halten auf der ganzen Welt gutbezahlte Reden und Seminare. Wie schaffen Sie das? Mit einer verständnisvollen Frau, einem Heer von fleissigen Forschungsassistenten oder dank Verzicht auf genügend Schlaf?

Forschungsassistenten habe ich nur einen, dafür einen extrem guten. Abgesehen davon bin ich aber so etwas wie ein Alleinunterhalter: Die Vorstellung, dass ich ein Atelier voll versklavter Schreibstudenten habe, ist ein journalistisches Hirngespinst. Ich bin fast wie besessen davon, jedes Wort selbst zu schreiben. Dadurch bin ich gefangen im Trilemma des akademischen Lebens, das darin besteht, dass man nur zwei der drei folgenden Dinge haben kann: gute Noten, ein Sozialleben und Schlaf. Nun, ich habe die akademische Arbeit lange höher gewichtet als mein Sozialleben und meine Gesundheit: Den Schlaf habe ich lange in minimalen Dosen zu mir genommen, und eine Zeitlang habe ich auch meine Familie vernachlässigt. Das habe ich aber bewusst geändert. Heute versuche ich, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen.

Investoren, Politiker und Wissenschafter – Sie werden ständig gefragt, welche Entwicklungen die Finanzmärkte bewegen und wo die nächsten geopolitischen Veränderungen zu erwarten sind. Ich habe die gleiche Absicht, versuche es aber mal anders: mit einem kleinen Abc-Spiel. Können Sie mir sagen, was Ihnen als erstes einfällt, wenn ich Ihnen unzusammenhängende Begriffe und Namen zuspiele?

Einverstanden.

Sie können im Freudschen Sinne frei assoziieren. Beginnen wir mit A wie AJP Taylor.

Taylors Buch über den Ersten Weltkrieg war eines der ersten Geschichtsbücher, die ich las. Es hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf mich und war brillant geschrieben sowie unvergesslich illus­triert. Und es wurde für mich eine Art Modell dafür, wie man populär Geschichte schreiben kann.

B wie Brasilien.

Ein kurzer Aufenthalt in Brasilien, um mehr Zeit in Mexiko zu haben. Vor zwei Jahren bereiste ich Brasilien und Mexiko. Mexiko hatte einen schrecklichen Ruf, sah aber vor Ort gut aus. Brasilien hatte einen grossartigen Ruf, sah aber irgendwie schrecklich aus. Deswegen machte ich einen simplen Tausch: Ich verkürzte den Aufenthalt in Brasilien und verlängerte meine Zeit in Mexiko.

C wie «Coming Clashes».

Die Clashes, die mir spontan einfallen, sind bereits Teil unserer Gegenwart. Wir sehen an verschiedenen Orten in gewisser Hinsicht den «Clash of Civilizations», den Samuel Huntington voraussagte. Dabei findet einer der wichtigsten Clashs nicht zwischen, sondern innerhalb von Zivilisationen statt: Ich meine den Clash innerhalb des Islams, der Syrien zerstört und andere Länder spaltet, also den Clash zwischen Sunniten und Schiiten.

D wie David Hume.

David Hume ist einer meiner grossen Helden, zusammen mit Adam Smith. Beide stehen in meiner gedanklichen Ruhmeshalle, und die schottische Aufklärung ist wohl oder übel der Ausgangspunkt meiner intellektuellen Entwicklung.

E wie Europäische Union.

Die EU ist ein ungelöstes Problem. Sie ist nicht wirklich ein föderaler Bundesstaat und also nicht genug Union, um gut mit der Finanzkrise umgehen zu können – aber doch mächtig genug, um auf so vieles Einfluss zu nehmen, dass der Unmut der Nationalstaaten geweckt wird. Ob das unvollendete Projekt, als das sich die EU jetzt präsentiert, jemals vollendet wird, ist unklar. Denn der politische Wille zur Schaffung eines föderalen Bundesstaats Europa klingt deutlich ab, vor allem in Frankreich, das ein entscheidendes Land für das Projekt ist.

G wie Gavrilo Princip.

Der Attentäter von Sarajevo ist der sprichwörtliche Schmetterling, dessen Flügelschlag im Regenwald am anderen Ende der Welt einen Wirbelsturm auslöst. Princip war einer von vielen, die im frühen 20. Jahrhundert Anschläge auf Staatsoberhäupter und Regierende ausübten. Sein Attentat auf den österreichisch-ungarischen Kronprinzen Franz Ferdinand war also ein beinahe typisches Ereignis für diese Zeit und hatte völlig unverhältnismässige Konsequenzen, indem es zum Katalysator des Ersten Weltkrieges wurde. Historiker sitzen einem Trugschluss auf, wenn sie meinen, dass ein Ereignis mit gewichtigen Konsequenzen auch gewichtige Ursachen gehabt haben müsse. Leider war der Ursprung des Ersten Weltkrieges ein staatlich gesponserter Terrorakt. Dieser wurde zum Vorwand für eine Serie von unglaublichen strategischen Fehlkalkulationen durch die Österreicher, die Russen, die Deutschen, die Franzosen und die Briten. Das ist eine Konstellation, womit viele Mühe haben. Sogar heute, 100 Jahre später, gibt es Leute, die nach einem moralischen Sinn suchen im Verlust von 10 Millionen Menschen. Mein Schluss ist, dass der Erste Weltkrieg ein Fehler war, der nicht hätte sein müssen: Hätte Princip an der Lateinerbrücke nicht getroffen oder der Fahrer eine andere Route gewählt, wäre es weder zum Attentat von Sarajevo noch zum Ersten Weltkrieg gekommen.

H wie Henri Kissinger.

Kissinger ist momentan der Hauptgegenstand meines wissenschaftlichen Interesses. Ich arbeite an seiner Biographie. Ich denke also an das Buch, das ich schreiben sollte, während ich mit Ihnen spreche.

I wie Ideologien.

Ideologien haben in den letzten 100 Jahren eine unglaublich hohe Zahl an Menschenleben gefordert. Mein Freund Michael Burleigh nennt sie «politische Religionen». Und in gewisser Hinsicht glaube ich, dass er damit recht hat: Wenn jemand so sehr an eine Ideologie glaubt, dass er empirische Beweise ignoriert, entspricht dies einer nicht mehr falsifizierbaren Religion. Ich folge keiner Ideologie, als Historiker kann ich dies nicht. Und trotzdem wollen mich viele einer Ideologie zuordnen, vor allem in den USA, wo ich als «conservative» eingestuft werde. Wer meine Sicht auf 1914 kennt, weiss, dass dieses Etikett lächerlich ist. Ich sage, dass Grossbritannien nicht in den Krieg hätte eingreifen sollen – das war damals die Forderung der sozialistischen Independent Labour Party. Kurz, Leute mögen Etikettierungen, und da ich weiss, dass ich sie ihnen ohnehin nicht ausreden kann, habe ich damit zu leben gelernt.

K wie Paul Krugman.

Zu diesem Thema fällt mir nichts ein, was ich nicht schon gesagt habe.

M wie Nelson Mandela.

Für mich ist Nelson Mandela die Personifikation Südafrikas, aber auch Teil einer tief bewegenden persönlichen Erfahrung, die ich machte. In Kuruman in der Provinz Nordkap arbeitete ich an einer TV-Serie über das Britische Imperium und besuchte mit einer Crew David Livingstons Missionsstation, die heute ein Gemeindezentrum mit einem säkularen Nonprofitspital ist. Als wir da waren, kamen alle Chöre der umliegenden Dörfer in die dortige Kirche und sangen. Das war nahe an einer religiösen Erfahrung: Die Musik der südafrikanischen Chöre ist für mich der schönste Klang und untrennbar verbunden mit dem Kampf für Freiheit und dem Kampf gegen Apartheid.

N wie neutrale Schweiz.

Neutralität hat nicht viele Freunde. Als Schotte und Brite wuchs ich mit einer Verachtung für Neutralität auf. Dahinter stand das Gefühl, dass man in den Weltkriegen Partei sein musste. Diese Voreingenommenheit hat sich aber über die Jahre verflüchtigt; je länger ich über die Schweizer Geschichte und Lage nachdachte, desto mehr begann sich mir auch der Sinn ihrer Neutralität zu erschliessen. Und heute erscheint mir die Schweiz dar­über hinaus als eine Art Modell für eine moderne Republik. Ihr dezentralisiertes System ist bewundernswert und fast schon eine Rarität.

O wie Otto von Bismarck.

Bismarck bleibt für mich eine der faszinierendsten Figuren des 19. Jahrhunderts. Er war eine brillante Persönlichkeit und ein Konservativer, der verstanden hatte, dass man nicht stillstehen, geschweige denn die Uhr zurückdrehen kann. Seine Vision eines geeinten Deutschlands wurde zu einer aussergewöhnlichen Errungenschaft. Das Projekt entgleiste jedoch, nachdem er von der Position des Kanzlers beseitigt wurde. Bismarck hat eine jener Karrieren hingelegt, die in der Geschichte relativ selten sind: die Karriere eines Intellektuellen, der sich in das Reich der Macht begab. Personen mit diesem Hintergrund sind besonders interessant, weil sie über das reflektieren, was sie tun. Während der Arbeit an Kissingers Biographie machte ich die Entdeckung, dass Kissinger ein Buch über Bismarck schrieb, das nie publiziert wurde. Das Manuskript ist ein verrücktes Dokument: ein grosser intellektueller Politiker des 20. Jahrhunderts schreibt über den wohl grössten intellektuellen Politiker des 19. Jahrhunderts.

P wie People’s Republic of China.

P wie Power. Wenn man die grösste Volkswirtschaft wird, so wie es China nach gewissen Bemessungen bereits ist, dann ist damit unweigerlich die Machtfrage verbunden. Der grösste historische Wandel unserer Zeit besteht im Aufstieg Chinas. Das ist das Signal, über dessen Bedeutung wir nachdenken sollten, alles andere ist Hintergrundrauschen. Wenn wir in 50 Jahren auf die Gegenwart zurückblicken, wird es Chinas dramatischer Aufstieg von den späten 1970er Jahren bis heute sein, der das dominante Thema der internationalen Geschichtsschreibung bildet. Das Problem ist nur, dass wir heute die Konsequenzen nicht abschätzen können – und wohl nicht mal die Chinesen.

R wie Russland.

Russland ist das letzte der europäischen Imperien. Und es stirbt einen langsamen Tod. Die Krise in der Ukraine ist eine Krise Russlands, sprich: Ausdruck der russischen Schwäche. Denn letztlich konnte Putin Janukowitsch in Kiew nicht an der Macht halten. Und die Annexion der Krim sehe ich als Rettungsaktion, die nur wegen der Schwäche in Washington und der Spaltung in Europa möglich war.

Ich hatte für S die schottische Aufklärung vorgesehen. Aber die haben wir mit David Hume bereits abgehandelt. Fällt Ihnen ein anderes Thema für S ein?

Die schottische Unabhängigkeit!

Was kommt Ihnen dazu in den Sinn?

Ich bin gegen die schottische Unabhängigkeit. Ich glaube, sie wäre ein Fehler. Und ein Treuebruch gegenüber Jahrhunderten aufgeklärten Unionsdenkens: Die Schotten hätten sich schon früher dem Nationalismus hingeben können. Sie hatten alle dafür nötigen Voraussetzungen, aber sie entschieden sich für die Union. Dieses Gebilde nach 300 oder 400 Jahren aufzubrechen, würde aus meiner Sicht sowohl den Status von England als auch jenen von Schottland reduzieren. Denn die Union ist sehr viel grösser als die Summe ihrer Einzelteile.

U wie United States of America.

Seit meiner frühen Kindheit war ich von Amerika angezogen. Besonders faszinierend fand ich die afroamerikanische Musik. Als Schuljunge entdeckte ich den Blues, Rhythm and Blues, Jazz. Ich spiele immer noch Kontrabass – als blasses Imitat von Charlie Mingus. Die afroamerikanische Musik war für mich das spannendste kulturelle Phänomen des 20. Jahrhunderts. Aber da waren auch noch viele andere Anziehungspunkte: Jack Kerouac, die Nachkriegsliteratur, die Landschaft. Ich spürte eine Art erhabene Liebe zu den Vereinigten Staaten, die lange verborgen blieb. In den letzten zwölf Jahren verbrachte ich immer mehr Zeit dort, und inzwischen sind mir die USA eine Heimat geworden.

V wie Political Violence.

Politischer Islam. Das grösste Problem unserer Zeit ist die Gewaltanwendung durch Islamisten. Vor einem Jahr die Bomben in Boston, zurzeit diese entsetzlichen Entführungen in Nigeria, und Syrien wird von einem Bürgerkrieg auseinandergerissen, der Hunderttausende von Opfern fordert. Wir haben hier ein echtes Problem. Und es ist schwierig geworden, unvoreingenommen darüber zu reden. Wie meine Frau Ayaan Hirsi Ali herausgefunden hat, wird man sogleich der Islamophobie beschuldigt, wenn man es wagt, auf Verbindungen zwischen Islam und Gewalt hinzuweisen. Wir können die Dinge nicht mehr beim Namen nennen und müssen uns irgendwelcher Euphemismen wie «Extremisten» oder «Militante» bedienen. Das sind bedeutungslose Wörter, wenn man nicht anerkennt, dass religiöse Dogmen zur Rechtfertigung von Gewalt benützt werden. Der «Dschihad» ist kein erträumtes Konzept irgendwelcher modernen Gotteskrieger, sondern in der Lehre des Propheten Mohammed zu finden. Wir müssen bereit sein, dieses Phänomen zu verstehen. Und wir können es nur verstehen, wenn wir offen darüber reden.

W wie Winston Churchill.

Winston Churchill war der grösste Premierminister der britischen Geschichte.

X wie Deng Xiaoping.

Die wohl grösste Führungspersönlichkeit der chinesischen Geschichte. Er veränderte China in vielerlei Hinsicht und die Reformen wären unvorstellbar ohne ihn. Man muss seine Vorgänger im Kopf haben, um zu realisieren, wie entsetzlich China regiert wurde, bevor er an die Macht kam.

Welche grossen Themen beschäftigen Sie derzeit?

Ich dachte, wir würden zuerst noch den Buchstaben Z behandeln.

Mir kam dazu kein Begriff in den Sinn.

…wie wäre es mit Z wie Led Zeppelin? Eine bis heute andauernde Leidenschaft!

Wunderbar. Nach dem Durchgang von A bis Z können wir nun vorwärtsschauen: Was treibt Sie auf kurze und mittlere Sicht am meisten um?

Zunächst der Buchstabe K: höchste Priorität hat momentan der Abschluss des Kissinger-Buchs. Und dann habe ich ein paar neue Kurse, die ich für Harvard entwerfen will. Sie tragen den bescheidenen Titel: Human History and Strategy in Crises. Ich fokussiere mich wieder auf die akademische Arbeit.

Krisen, Clashes, Kriege, kollabierende Imperien – die Themen, die in Ihrem Kopf kursieren, haben das Potential, Depressionen auszulösen. Wie bewahren Sie sich davor, verrückt zu werden?

Es ist sehr wichtig, sich immer wieder die menschliche Kraft und die Freiheit in Erinnerung zu rufen. Die Probleme, die ich in meinem Buch «Der Niedergang des Westens» beschrieben habe, können alle mit Führungskraft und Visionen gelöst werden. Dieser Gedanke treibt mich immer an: menschengemachte Probleme sind lösbar.

Was trägt die Geschichtswissenschaft zur Lösung solcher Probleme bei? Sie orientieren sich in Ihren Forschungen am Konzept «komplexer dynamischer Systeme» – verhilft dieser naturwissenschaftliche Zugang Geschichte und Gegenwart zu weiterführenden Einsichten?

Mit Blick auf das fundamentale Problem, menschliche Institutionen zu verstehen: auf jeden Fall. Nur schon, wenn man amateurhaft beginnt, in die Theorie komplexer adaptiver Systeme einzutauchen, erkennt man, wie viele Erkenntnisse darin zu finden sind. Besonders, weil sie eine unserer Verzerrungen korrigiert, nämlich den Glauben, dass das Leben menschlicher Institutionen dem unseren gleiche: Kindheit, Adoleszenz, Höhepunkt – mein Alter –, Abstieg und Ende. Menschliche Organisationen verhalten sich überhaupt nicht so! Vielmehr gleichen sie komplexen Systemen, die lange am Rande des Chaos existieren können und dann plötzlich implodieren. Ich hatte so etwas wie einen Aha-Moment, als ich diese Methoden entdeckte.

Mit naturwissenschaftlichen Konzepten sind Sie schon früh in Kontakt gekommen: Ihr Vater war Arzt, Ihre Mutter unterrichtete Physik und Ihre Schwester lehrt an einer amerikanischen Universität ebenfalls Physik. Wie verhält sich die Geschichts- zur Naturwissenschaft?

Geschichte ist nicht wirklich eine Wissenschaft. Und auch die meisten Gesellschaftswissenschaften fallen für mich nicht in diese Kategorie. Die methodologischen Unterschiede sind enorm, denn wir können die Vergangenheit nicht wie in einem Experiment nochmals neu starten und unter anderen Vorzeichen durchlaufen lassen. Es gibt nur eine Menschheitsgeschichte im Sample. Und Historiker können die Methoden der Naturwissenschaften nur in grober Art und Weise imitieren. Wir können aber die Methoden der Naturwissenschaften nutzen, um unser Verständnis der Vergangenheit zu verbessern. Die aufregendsten Entwicklungen auf diesem Gebiet sind die Methoden der Genetiker, die neusten Technologien der Archäologen, die Radiokarbonmethoden – all dies beeinflusst das Verständnis der Vergangenheit. Kurz, Geschichte ist keine Wissenschaft, aber sie kann sich wissenschaftlicher Methoden bedienen.

Menschheitsgeschichte gibt es nur eine, faszinierende Ereignisse darin unzählige. Welches ist Ihr Lieblingsmoment der modernen Geschichte?

Wir haben bereits über Churchill gesprochen. Für mich gibt es in der modernen Geschichte nichts Erhebenderes als Churchills Akt, Grossbritannien vom Rand der Niederlage zurückzubringen und die Katastrophe abzuwenden – und gleichzeitig Champagner in Mengen zu trinken, die uns beide umbringen würden! Ich bin ermutigt, wenn ich darüber nachdenke, wie menschliche Inge­nieurskunst und die Liebe zur Freiheit über ihre Gegner triumphierten. Und obwohl ich nicht annähernd so viel wie Churchill trinke, denke ich, dass viel dafür spricht, sich am Ende eines harten Tages einen guten Drink zu genehmigen.

 

Dieses Gespräch kam dank der freundlichen Unterstützung durch das St. Gallen Symposium zustande.

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